Mein Österreich
Mein Österreich | |
Günther Dichatschek
| Inhaltsverzeichnis dieser Seite | |
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Gewidmet meinen Töchtern Katrin und Sabine | |
Danksagung | |
Helmut Leitner danke ich für die technische Hilfe bei der Manuskripterstellung.
Der Autorenbetreuung danke ich für die jahrelange reibungslose Zusammenarbeit.
Günther Dichatschek
Vorbemerkung | |
Wenn ein Österreicher einen Buchprojekt mit einem Bekenntnis zu seinem Land verfasst, kann dies nur ein Versuch sein, Phänomene aufzuzeigen, Eindrücke zu beschreiben und Literatur seiner Ausbildung einzubinden.
Als Tourismusland gilt Österreich als Land in Mitteleuropa mit schönen unterschiedlichsten Landschaften (Seen, Alpen, Hügellandschaften, Flüssen, Nationalparks, Ebenen und Steppenlandschaften) zwischen Bodensee und Neusiedler See.
Neun Bundesländern und eine historisch und kulturell interessante Bundeshauptstadt Wien, Bilderdörfer, eine ausgebauten Verkehrsstruktur mit Bahn und Bus, Fest- und Sommerspiele, eine Wintersportlandschaft und zunehmend eine plurale Gesellschaft kennzeichnen das Land.
Aus der historisch bedeutenden k. und k. Monarchie wurde eine demokratische Republik mit einer Bundesverfassung aus dem Jahre 1920/1929, ein neutraler Staat und Mitgliedsland der Vereinten Nationen, des Europarates und der Europäischen Union.
Die Kenntnis und Auseinandersetzung mit seiner Heimat erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, er ist eine persönliche Sicht eines Landes in der Mitte Europas.
Österreich ist ein Land, das Europa braucht und Europa benötigt Österreich.
Die Gliederung der Studie ergibt sich aus den Eckpunkten
- der eigenen Heimat Kitzbühel im Bundesland Tirol und alpinen Raum,
- den Aspekten national "Österreich" und
- international "Europa".
Einleitung | |
Ausgangspunkt zur Studie über seine Heimat und Region bilden zunächst Arbeiten zur Landes- bzw. Regionalkunde in Politischer Bildung.
Anregung zu einer persönlichen Darstellung von Heimat und Region geben Arbeiten von Schulkollegen über ihre Lebenswelten.
Die eigene Ausbildungsbiographie, bestimmt von der Struktur und den Kriterien des aktuellen Bildungssystems, ergibt ein Bild persönlicher Interessen und Möglichkeiten, die ein Lebenswerk und die Lebenswerte bestimmen.
Aktuell ergeben sich Beteiligungsmöglichkeiten im Bildungssystem, die digital von Netzwerkarbeit unterstützt werden können.
Die folgende Übersicht mit einer Zuordnung von Bildungsinstitution und Bildungszielen versteht sich als Erklärung von Entwicklungsphasen und einer Sozialisierung in den vier Eckpunkten Kitzbühel-Tirol-Österreich-Europa? einer persönlichen Biographie.
| Bildungsinstitution | Bildungsziele |
Kindergarten Kitzbühel | Kitzbühel-Umgebung? |
Volksschule Kitzbühel | Kitzbühel-Tirol? |
Realschule St. Johann/T. | Österreich |
Ldw. Landeslehranstalt Imst/T. | Tirol |
Höhere Bundeslehranstalt für alpenl. Landwirtschaft Ursprung-Klesheim/Sbg?. | Österreich-Alpenraum? |
Maturantenlehrgang der LBA Innsbruck | Tirol-Österreich? |
Studium Erziehungswissenschaft/ Universität Innsbruck | Österreich-Europa? |
Weiterbildungsakademie Österreich/Wien | Österreich |
1. Lehrgang Ökumene der Kardinal König-Akademie?/ Wien | Österreich-Europa? |
10. Universitätslehrgang Politische Bildung/ Universität Salzburg- Klagenfurt | Österreich-Europa? |
6. Universitätslehrgang Interkulturelle Kompetenz/ Universität Salzburg | Österreich-Europa? |
4. Interner Lehrgang Hochschuldidaktik/ Universität Salzburg | Österreich-Europa? |
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Kapitel 1 | |
Kitzbühel - Aspekte einer Stadtentwicklung | |
Vorbemerkung | |
Die Studie entstand im Jubiläumsjahr 2021 anlässlich der Stadterhebung vor 750 Jahren.
Als Zeitzeuge der umfassenden Feiern zum Jubiläum 700 Jahre Stadterhebung 1971 waren 2021 im Zeichen der Coronapandemie andere Jubiläumsschwerpunkte zu setzen.
Für den Autor waren besonders von Interesse die Sendungen im lokalen "KITZ TV", die Festschrift zum 100jährigen Betriebsjubiläum der Sparkasse der Stadt Kitzbühel 1999 mit historischen Aspekten und im ORF III Sendungen im Abendprogramm über die Stadt Kitzbühel und ihre Entwicklung.
IT-Hinweise? > https://tv.orf.at/program/orf3/landderber236.html (9.6.2021) - https://www.kitzbuehel.at/750 (23.6.2021)
Die Entwicklung von der Landwirtschaft (Agrargesellschaft) und Bergbau zu Sommerfrische und Wintersport (Dienstleistungsgesellschaft) bildet den inhaltlichen Schwerpunkt.
Einleitung | |
Mit dem Niedergang des Kupfer- und Silberbergbaues in der frühen Neuzeit im 19. Jahrhundert verarmte eine Landgemeinde. Ab 1850 kommt es zu einem bescheidenen Sommertourismus ("Sommerfrische").
Mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz 1875 und dem Aufkommen des Wintersports um die Jahrhundertwende entsteht der Beginn eines Wintersports als Fremdenverkehr und neue Einkommensquelle.
Nach Jahren des Stillstandes und vollständigem Fehlen einer Industrie kommt es zu einer Veränderung von einer Agrar- zur Dienstleistungsgesellschaft (vgl. SIEBERER 1999, 9).
Neben den historischen Aspekten sollen Faktoren einer Politischen Bildung dargelegt werden. Sie dienen dem besseren Verständnis der historischen Situation einer Stadtentwicklung von 750 Jahren im österreichischen Alpenraum.
1 Historische Aspekte der Stadtentwicklung | |
1.1 Anlage als Landgemeinde | |
Ein Besuch des "Museums Kitzbühel" lässt an Bildern erkennen, dass die Stadt um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts beschaulicher und ärmer als heute sich darstellte (vgl. SIEBERER 1999, 12-14).
Ein Blick in den Kataster von Kitzbühel-Stadt? von 1855 zeigt den Stadtkern auf dem am Abhang des Hahnenkamm gelegenen Hügel durch an Süd-, Ost- und Nordflanke gestützte Böschungen.
Auf einem Ausläufer nördlich des Lebenberges liegt der Kirchenhügel mit der katholischen Pfarr- und Liebfrauenkirche. Unterhalb der Hügel liegen die bescheidenen Wohn- und Gewerbebauten der Ehrenbach- und Knappengasse, der Graggaugasse, Griesgasse, der Gänsbach- und Kirchgasse.
Eine Ausnahme bildet die von St. Johann über den Pass Thurn führende Landstraße in den Jahren 1837-1843 als heutige Bichlstraße und Josef-Pirchl-Straße? durch die Stadt geführt wird.
Durch die Schleifung des Nord- und Spitaltors und eine Überbrückung der Graggaugasse und Gänsbachgasse verlor der Stadthügel seinen wehrhaften Charakter.
Die Bürgerhäuser in der Vorder- und Hinterstadt erinnerten an die Blütezeit des Bergbaues und der Barockkunst.
Der verlustreiche Bergbau am Rerobichl bei Oberndorf wurde mit der Hofresolution 1774 aufgegeben. Der Bergbau am Schattberg und Sinnwell hatte auch nur mehr eine geringe wirtschaftliche Bedeutung (vgl. MUTSCHLECHNER 1968, 137-225).
1.2 Regionales mittelalterliches Zentrum | |
Handel und Gewerbe entwickelten sich in der Stadt als regionales Zentrum seit der Stadterhebung 1271 im Mittelalter.
Bis um 1850 dürften die Kleinst- und Kleinbetriebe mit ihrer Organisation in Zünfte, wobei Lehrlinge und Gesellen im Hause des Meisters lebten, weitgehend immer noch in mittelalterlicher Produktionsweise gearbeitet haben.
Das Gewerbegebiet am Mühlbach im Gries beherbergte Müller, Weißgerber, Färber, Schmiede und das gängige Handwerk.
Die weitest verbreitete Lebensgrundlage war die Landwirtschaft mit Mägden und Knechten. Vieh wurde auch neben den Bauern von Bürgern, Handels- und Gewerbebetrieben auf den gemeindeeigenen Weiden am Schattberg, Ehrenbach und Jufen/ Hahnenkamm gehalten (vgl. WIDMOSER 1971, 294-297).
Diese Lebensweise gilt als typisch für eine damalige agrarisch geprägte Landgemeinde.
1.3 Sozioökonomische Änderungen | |
Eine Änderung der Lebensgrundgrundlage ergab 1848 die Grundentlastung, die Bauern zu alleinigen Eigentümern von Grund, Boden und einer Selbständigkeit machte (vgl. FONTANA 1987, 29-32).
Die Modernisierung der Verwaltung und Justiz in der Monarchie durch die Revolution 1848 zeigt sich mit dem damaligen Bürgermeister, Apotheker und Botaniker Joseph Traunsteiner (vgl. RUPERT 1971, 473-520).
In der Folge nimmt die zunehmende Industrialisierung Einfluss mit der Eröffnung von Eisenbahnlinien, 1867 die Brennerbahn, 1871 die Südbahn und 1875 der Giselabahn durch das Brixental über Kitzbühel, St. Johann, Saalfelden, Zell/See bis nach Salzburg und fördert den sozioökonomischen Wandel in Form wirtschaftlicher Dynamik mit neuen Bedarfsgütern und einer Änderung der alten Lebensgrundlagen einer agrarischen Gesellschaft.
- Es zeigt sich eine Freisetzung landwirtschaftlicher Arbeitskräfte. Handwerk und Gewerbe können mit industrieller Produktionsweise nicht Schritt halten.
- Es kommt in der Folge zu Genossenschaftsbildungen. Bedeutungslos werden Handwerk und Gewerbe wie Schmiede, Gerber und Weber in der Wegscheidgasse (vgl. in der Folge SIEBERER 1999, 15-17).
Die Krisensituation verschärft den Niedergang des Bergbaues, 1871 wird der Bergbau in Sinnwell eingestellt. Aufgegeben wird der Bergbau am Schattberg und im benachbarten Jochberg (vgl. MUTSCHLECHNER 1968, 180-185).
Ideologische Spannungen am Ende des Jahrhunderts lassen sich mit der "sozialen Frage" in der kleinen Landgemeinde Kitzbühel feststellen.
- Es kommt zur Gründung eines katholischen Gesellen- und Meistervereins.
- Der Volksbildungsverein lehnt die Beschäftigung mit religiösen Fragen ab.
- Die Auseinandersetzung zeigt sich 1909/1910 in der Blattlinie bei der Herausgabe des "Kitzbüheler Boten".
Das gebildete städtische Publikum interessiert sich auch neben dem Südtiroler Raum mit mildem Klima in der Folge langsam für den Nordtiroler Raum. Wesentliche Bedeutung gewinnt der Ausbau der Eisenbahn.
Neben der klassischen Sommerfrische am Semmering und im Salzkammergut / Bad Ischl und Bad Aussee gewinnt der alpine Raum durch seine Erreichbarkeit mit der Bahn zunehmende Bedeutung.
Das Interesse ergibt sich an der Idylle der Natur, Erholung im kleinstädtischem Milieu und dem Kontakt mit Einheimischen. Um die Jahrhundertwende entdeckt man den Wintersport und damit eine neue Dimension. Der Schwerpunkt des Fremdenverkehrs verlagert sich nach Nordtirol.
In Kitzbühel macht sich als Pionier des Schisports Franz Reisch einen Namen mit anderen unternehmerischen Freunden wie Josef Herold oder Anton Kofler. Um 1900 kommt es zu ersten Schirennen, gefördert wird etwa der Bobsport und es kommt zu erstem internationalen Publikum. Kitzbühel wird "fashionable".
Auswirkungen auf das Stadtbild ergeben sich nunmehr in der Erweiterung der Beherbergungsbetriebe, Gastwirtschaften und letztlich des Siedlungsraumes. Beispielhaft sind anzuführen der Bau mit Eröffnung 1903 des "Hotel Kitzbühel", später "Grandhotel" mit internationalem Publikum. Der städtische "Bichlwirt" entwickelt sich in der Folge zum "Hotel Weißes Rössl".
In den Jahren 1900 bis 1910 nimmt die Einwohnerzahl des heutigen Gemeindegebietes um 16,4 Prozent zu. Neue Berufe wie im Hotel- und Gastgewerbebetrieb, Bergführer und später Schi- und Wanderführer ermöglichen im Saisonbetrieb Einkünfte.
Handel und Gewerbe profitieren ebenfalls (vgl. den Übergang von der Agrargesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft).
Bäuerliche Eigenversorgung nimmt zugunsten entstehender Gemischtwarenhandlungen ab. Damit war Versorgung von Gästen auch gesichert. Von Interesse ist der Übergang von Wagnerbetrieben in die Schiproduktion.
Mit dem Ersten Weltkrieg unterbricht die rasante Entwicklung des Tourismus, zahlreiche Lazarette werden eingerichtet. Mangelhafte Versorgung führt zu Hungerkrawallen 1918 (vgl. SIEBERER 1999, in der Folge 23-25). Das Ende des Weltkrieges bringt in der Folge Zuzüge von Prominenz mit sich und begründet allmählich den Ruf von Prominenten in der Stadt.
Mitte der zwanziger Jahre wird die Auslastung der Beherbergungsbetriebe besser, modänes Publikum kommt wieder. Der englische Adel und Vertreter der deutschen Industrie nützen den Kitzbüheler Tourismus.
Mit der Tausend-Mark-Sperre? 1933 bleibt natürlich das deutsche Publikum aus, Ballnächte in der Hotellerie, der Besuch des Prince of Wales 1935 waren Höhepunkte der Blütezeit in den dreißiger Jahren. Der Reiz der Landschaft und die gesellschaftlichen und sportlichen Veranstaltungen begründen den touristischen Zustrom.
Nach dem ersten Jahrzehnt mit zwei norwegischen Schilehrern beherrschten Einheimische in der Folge die Domäne.
Trotz eines erfolgreichen Tourismus bleibt der Unterschied zwischen externem Wohlstand und Armut in der Stadt bestehen.
Die Unterbrechung im Zweiten Weltkrieg bringt erst um 1950 erste Gäste in die Stadt. Der neue Massentourismus in der Folge ersetzt nicht den modänen Gast der vergangenen Zeit. Der Schriftsteller Herbert Rosendorfer versucht das Mysterium Kitzbühel zu erklären (vgl. ROSENDORFER 1974, 23).
Heute gibt es den Reiz einer dynamischen Altstadt, der Landschaft der Kitzbüheler Alpen-Wilder? Kaiser- Hohe Tauern (Nationalpark), einer Sportstadt mit gesellschaftlichem Umfeld und Großveranstaltungen. Allerdings gibt es auch einen umkämpften sich verändernden Touristenmarkt.
2 Stadtgeschichte und Politische Bildung | |
Das besondere Profil der Thematik liegt in der Gestaltung der historischen Fachdidaktik in der Praxis der Lehre mit der Bündelung
- der persönlichen Potenziale,
- der Umwelten und
- den persönlichen Erkenntnisprozessen (vgl. zur Multiperspektivität bei BERGMANN 2000).
Es bedarf einer Struktur des Wissens und der Erkenntnisse. Es zeigt sich die Herausforderung, Geschichte und Politische Bildung in einem Erkenntnisprozess über einen Zeitraum von 750 Jahren zu verbinden.
Konkret geht es um drei Zugänge, die
- Grundlagen ("basics") mit historischem Fundament ("fundamentum"),
- Modellentwicklungen und
- Unterschiedlichkeiten ("additivum").
2.1 Gesellschaftliche Funktion | |
Politische Bildungsarbeit ist ein notwendiger Bestandteil der Gesamtbildung des Menschen, denn die "Allgemeinbildung" und ein "Fachmenschentum" garantieren noch nicht ein menschenwürdiges Dasein (vgl. DICHATSCHEK 2017, 17).
Ziel eines politischen Unterrichts bzw. einer Lehre ist demnach immer eine kritische Urteilsfähigkeit, ein Erkennen politischer, sozialer, rechtlicher und wirtschaftlicher Zusammenhänge sowie eine Bildung zur Demokratie.
Ziele, die auf einen Ausgleich sozialer Unterschiedlichkeiten ausgerichtet sind, geraten in Einzelfällen in Widerspruch zu vorhandenen gesamtgesellschaftlichen Zielvorstellungen. Demnach ist davon auszugehen, dass eine kritische Politische Bildung ein langdauernder Prozess der Rationalisierung politischer Fragen ist.
Unbestritten ist es eine soziale Aufgabe eines Bildungssystems eines Staates bzw. der Gesellschaft auf ein Leben in einer Gesellschaft vorzubereiten.
Das bedeutet, dass jede Bildungsfunktion sozial bedingt ist. Ein Bildungswesen in diesem Selbstverständnis, kann auch die Politische Bildung nur in Verbindung mit der gesellschaftlichen Funktion von Bildung im Allgemeinen sehen.
Damit ist die Politische Bildung in der Funktion und Aufgabe der Institutionen der tertiärer und quartären Bildungsbereiche einbezogen.
Bildung und Bildungswesen sind nicht nur von der Gesellschaft abhängig, Bildung wirkt wiederum auf die Gesellschaft. Das Bildungswesen ist zwar Repräsentant der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Es reproduziert zwar diese, wenn auch immer in einer etwas veränderten Form.
2.2 Geschichtlichkeit | |
Für unsere Thematik soll untersucht werden, inwieweit historisch - politische Situationen Lerninhalte liefern können.
- Es geht um eine Kluft gegensätzlicher Traditionen.
- Differenzen von Grundwerten ergeben sich etwa in den Begrifflichkeiten "Wohlstand" (Wirtschaft), "Grundrechte ("Freiheit") und Gewaltverzicht ("Sicherheit").
- Fallbezogene Problemerörterungen als Lehrgüter und Lehraufgaben können nach ROTHE (1982, 49) Grundrechte, Freiheit einer wirtschaftlichen Tätigkeit, soziale Sicherheit und Konfliktausgleich bilden.
- Anders ergeben sich die Themen als Alltagswissen von Vergangenheit und Gegenwart, einer Aufarbeitung und der Erfahrung eines Wandels, einer Erfahrungsorientierung mit Problemerörterung im Fallprinzip und Systemwissen.
Von Interesse sind Gründe, die in der Politischen Bildung Angaben verbindlicher Module im Fachgebiet "Geschichte -Sozialkunde -Politische Bildung" auf der Ebene von Richtlinien nicht möglich machen (vgl. REINHARDT 1997, 29-30).
- Anzusprechen sind der soziale Wandel mit Änderungen der Realität, die Notwendigkeit einer Auswahl von Inhalten, problembezogen ist das Risiko einer Beliebigkeit, Zufälligkeit und Unisicherheit. Vermindert werden kann dies in Situationsfeldern und Handlungsbereichen (vgl. GAGEL 2000, 144-145).
- Politik macht durch die Lebensnähe bzw. einen Eingriff in das Leben betroffen. Entscheidungsprozesse verlaufen auf der Ebene der Makrowelt und reichen in ihren Auswirkungen in die Mikrowelt.
- Lernende spüren das als Betroffenheit.
- Es gilt für Lehrende das Risiko der Auswahl zu reduzieren, Alternativen aufzuzeigen und den Gegensatz von Offenheit und Beliebigkeit zu bewältigen.
2.3 Erwachsenenpädagogik | |
in der Auseinandersetzung um Lernkulturen in der Erwachsenenpädagogik ist die Studie von BARZ und TIPPELT (2004) von Interesse (vgl. DICHATSCHEK 2018, 51-53).
Ein so langer Zeitraum von 750 Jahren ergibt auch in der Lernkultur zwangsläufig Herausforderungen in der Teilnehmerorientierung.
- Kennzeichnend ist in der Ausgangslage in der Allgemeinen Erwachsenenbildung zunächst eine Klassifizierung an traditionellen und gängigen Werten der Klientel wie Festlichkeit, Mitmenschlichkeit, Lebensstile, Berufszugehörigkeiten und weniger eine politisch-historische Auseinandersetzung.
- Anders zeigt sich die Erwachsenenpädagogik im Bereich der Fort- bzw. Weiterbildung. Hier sind kennzeichnend das Vorwissen, der Bildungsstand, das soziale Milieu, die gesellschaftliche Pluralität, das kulturelle Interesse, die Interkulturalität und das historisch- politische Interesse.
- Im Migrantenmilieu in seiner Grundgesamtheit der Ausländer und Zuwandernden und ihrer Nachkommen ergeben sich aus der Heterogenität besonders Unterschiede in den Wertvorstellungen und Lebensstilen aus der Herkunftskultur. Das historisch-politische Interesse betrifft zunächst vorrangig ihr sozio-ökonomisch-kulturelle Umfeld. Beträchtlich ist die Dynamik im Lebensstil, man denke an bikulturelle Ehen und Möglichkeiten von Wanderbewegungen bzw. Mobilitätszwängen.
Reflexion | |
Die Thematik stellt Theorie und Praxis exemplarisch vor Herausforderungen in der Verbindung von historischen Aspekten und Politischer Bildung in der Berücksichtigung von gesellschaftlicher Funktion, Geschichtlichkeit und Erwachsenenpädagogik.
Wesentlich ist die
- Teilnehmerorientierung,
- Programmplanung, Zuordnung im Bildungssystem und
- der Bezug zur Landeskultur.
Es geht um Bildung, Besonderheiten einer Bildungsorganisation und Fragen für Lehrende und Lernende.
Kernauftrag ist die Fortsetzung der Basisbildung in einer Bewältigung des Lebens- und Berufsalltages sowie einer Hinführung zu Bildungsmaßnahmen auf den verschiedensten Ebenen.
750 Jahre einer einschneidenden politischen Maßnahme als Stadterhebung werfen vielfältige Fragen und Themenbereiche auf.
Die Studie versucht einen Beitrag im Jubiläumsjahr 2021 aus der Perspektive von Bildungsmaßnahmen zu geben.
Literaturverzeichnis Kitzbühel | |
Angeführt sind jene Titel, die für den Beitrag verwendet und/oder direkt zitiert werden .
Barz H. - Tippelt R. (2004): Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland, Bd. 1-2, Bielefeld
Bergmann K.(2000): Multiperspektivität. Geschichte selber denken, Schwalbach/Ts.
Dichatschek G. ( 2017): Didaktik der Politischen Bildung - Theorie, Praxis und Handlungsfelder der Fachdidaktik der Politischen Bildung, Saarbrücken
Dichatschek G. (2018): Lernkulturen der Erwachsenen- bzw. Weiterbildung - Ein Beitrag zu Theorie, Praxis und handlungsspezifischen Herausforderungen im Kontext mit Politischer Bildung,, Saarbrücken
Dichatschek G.(2021): Regionale Bildung - Aspekte einer Erwachsenenpädagogik eines europäischen Kulturraumes im Kontext Politischer Bildung, Saarbrücken
Fontana J. (1987): Geschichte des Landes Tirol, Bd. 3, Bozen
Gagel W. (2000): Einführung in die Didaktik des politischen Unterrichts - Ein Studienbuch, Opladen
Heß-Haberlandt? G. (1988): Bauernleben. Eine Volkskunde des Kitzbüheler Raumes, Innsbruck
Koller K. (1995): Kitzbühel zu meiner Zeit -Erinnerungen, Kitzbühel
Mutschlechner G. (1968): Kitzbüheler Bergbaugeschichte, in: Stadtbuch Kitzbühel Bd. I, Vorgeschichte und Bergbau, Kitzbühel, 137-225
Reinhardt S.(1997): Didaktik der Sozialwissenschaften. Struktur, Lernprozesse, Opladen
Rosendorfer H.(1974): Kitzbühel und des Schatten des Prinzen, in: Merian XXVIII Jg. Heft 11 (Tirol), 23
Rosendorfer H. (1979): Eichkatzlried. Geschichten aus Kindheit und Jugend, München
Rothe Kl. (1992): Was ist wichtig? Fundamentale Lernaufgaben des Politikunterrichts in der Zukunft, in: Politische Bildung 25/1992, Heft 2, 47-57
Rupert H. (1971) Joseph Traunsteiner, Apotheker, Botaniker und Politiker, in: Stadtbuch Kitzbühel Bd. IV, Kitzbühel, 473-520
Sieberer W. ( Hrsg.) (1999): Kitzbühels Weg ins 20. Jahrhundert. Von Landwirtschaft und Bergbau zu Sommerfrische und Wintersport, Festschrift zum 100jährigen Betriebsjubiläum im Dezember 1999, Kitzbühel
Widmoser E. (1971): Blick in das Leben der Stadt, in: Stadtbuch Bd. IV, Von der Vergangenheit bis zur Gegenwart, Kitzbühel, 294-297
Kapitel 2 | |
Einleitung | |
Die Studie geht von einer sachbezogenen Darstellung Nord-, Ost- und Südtirols aus.
Basis der Überlegungen bildet das pädagogische Bemühen einer Politischen Bildung im Kontext mit der (Zeit-) Geschichte (vgl. HORMEL-SCHERR? 2005, 239-273).
1 Zur Geschichte | |
Im Folgenden wird als Grundlage zeithistorischen-politischen Wissens überblicksmäßig auf Tirol nach dem aktuellen Stand der Forschung eingegangen (vgl. beispielhaft GEHLER 2008).
Tirols Geschichte im 20. Jahrhundert bedarf eines Rückblickes und der Besonderheiten des Landes und seiner politischen Kultur.
Sechs Faktoren bestimmen das offizielle Tiroler Eigenverständnis und Selbstbewusstsein (vgl. GEHLER 2008, 16-17).
Mitbestimmung mit angeblich weitgehender Beteiligung aller Bevölkerungsschichten. Angesprochen wird der Mythos der "ältesten Festlandsdemokratie" Europas. Dokumentiert wird dies durch den "Großen Freiheitsbrief" für Tirol von Kaiser Ludwig (IV.) dem Bayern im Jahr 1342.
Wehrhaftigkeit sieht im "Landlibell" von Kaiser Maximilian I. 1511 nur die Verteidigung des eigenen Landes vor. Darauf stützt sich das Tiroler Schützenwesen und die Tradition des Waffentragens.
Religiosität und die Verankerung des katholischen Glaubens. Die Treue zu Gott und dem Glauben der Vorfahren sowie der Glaubenseinheit des "Heiligen Landes" im "Herz-Jesu-Gelöbnis?" auf Antrag des Abtes von Stams Prälat Sebastian Stöckl durch die Tiroler Landstände 1796 im Palais Toggenburg in Bozen zum "Herz-Jesu-Bund?" sind anzuführen.
Freiheitswillen mir der Ablehnung von Fremdbestimmung und Abwehr gegen Bedrohung von außen. Erinnert an den Kampf gegen die Bayern und Franzosen 1809. Sichtbarer Ausdruck in landesfeierlichen Festakten und Traditionsumzügen.
Bodenständigkeit und Heimatverbundenheit als Mentalität und Geistesart mit der Bedeutung des Bauernstandes.
Erhaltung der politisch-verwaltungstechnischen Eigenständigkeit, die an die Auseinandersetzung zwischen der klerikal-konservativen und weitgehenden liberalen Wiener Zentralbürokratie erinnert.
In der Folge kommt es zu föderalistischen auf Eigenständigkeit ausgerichtete Tendenzen in Tirol nach 1918 und 1945.
1.1 Zwischenkriegszeit 1918 - 1938 | |
Tirol als Bundesland der Republik Österreich ist ohne die nationalen und internationalen Rahmenbedingungen zwischen 1918 und 1938 nicht zu verstehen. Die Entscheidungen von 1918/1919 beeinflussen die Entwicklung des gesamte 20. Jahrhunderts.
Die Neuordnung des Territoriums und einer politischen Struktur sowie die wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche ergaben sich aus den Folgen der Niederlage der Mittelmächte im Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der alten europäischen Reiche sowie der k. und k. Monarchie ( vgl. GEHLER 2008, 65-162; SCHREIBER 2008, 27).
1.1.1 Nachkriegsordnung | |
Die Bedingungen einer Nachkriegsordnung wurden in St. Germain von den Siegermächten diktiert. Gefördert wurden damit extremistische und revionistische Tendenzen. Ende der dreißiger Jahre zerbrach die europäische Staatenordnung. Das ehemalige Kronland Tirol wurde in Nordtirol sowie in Südtirol und dem Trentino und als neues Bundesland geographisch in Nord- und Osttirol geteilt. Dies geschah gegen den Willen der Bevölkerung bei Missachtung der von US-Präsident? W. Wilson 1919 proklamierten "Selbstbestimmung der Völker".
Erbitterung lösten die Behandlung der Landsleute im südlichen Tirol aus.
Neben der Teilung des Landes führte die Italienisierung zur Politisierung der Südtirol-Frage?.
Trotz einer negativen Ausgangslage bildete sich in der Folge eine stabile gesellschafts-und parteipolitische Struktur.
Einschnitte waren die Beseitigung der Demokratie 1933/1934, die NS-Herrschaft? 1938 mit dem Kriegsende 1945, dem politischen Neuanfang mit demokratisch-republikanischen Verfassungsgrundsätzen, Ausbildung eines Mehrparteiensystems, Abschluss des Staatsvertrages 1955 und in der Folge das Bekenntnis zur internationalen Zusammenarbeit in Verbindung mit einer Neutralitätspolitik.
Die Trennung des südlichen Teiles erzeugten gerade in Nordtirol großen Unmut und scharfe Ablehnung. Die Tiroler Abgeordneten in der Nationalversammlung enthielten sich der Stimme bei der Abstimmung am 6. September 1919.
Eine bewegende Abschiedsrede hielt der für Südtirol und das Trentino sitzende Abgeordnete Eduard Reut-Nicolussi?.
Der offizielle Anschluss Südtirols an das italienische Königreich erfolgte am 10. Oktober 1920 und steigerte die verbitterte Stimmung. Seit diesem Tag beging das offizielle Tirol den sogenannten "Landestrauertag", der erst nach 1945 aufhörte.
Die Forderung nach dem Anschluss an Deutschland 1938 wurde ebenfalls nicht erfüllt.
Mit der vom Wiener Rechtsgelehrten Hans Kelsen entwickelten Bundesverfassung 1920 wurde Österreich als Bundesstaat entwickelt.
1.1.2 Militarisierung | |
Die Militarisierung der Nachkriegsgesellschaft ist ein politisches Merkmal Tirols. Angeknüpft wird an die "Wehrhaftigkeit" des Landes.
Den Anstoß zur Gründung der Heimwehr als Fortsetzung der bestehenden Einwohner- und Bürgerwehren im Mai 1929 gab im Dezember 1919 das Auftreten der von den Sozialdemokraten organisierten "Arbeiterwehr" bei den durch die schlechten Ernährungsverhältnissen auftretenden Krawallen.
Aus der Arbeiterwehr entstand im April 1923 der gegründete "Republikanische Schutzbund", der in der Folge ohne Bedeutung war.
1.1.3 Politischer Katholizismus - Volkspartei | |
Neben der Militarisierung war der teilweise persönlich stark ausgeprägte Katholizismus mit Geistlichen als politische Mandatare ein Charakteristikum in dieser Epoche. Msg. Wendelin Haidegger als Landesrat, Prälat Aermilian Schöpfer als Abg. im Nationalrat und Msg. Franz Kolb als Abg. zum Nationalrat sowie einstweiliger Obmann der Tiroler Volkspartei (vgl. im Folgenden GEHRER 2008, 87-92).
Gleichzeitig entstand ein religiöser und völkisch-national motivierter Antisemitismus. Keimzellen waren die Universität Innsbruck und ihre Studenten.
Die bündische Struktur der Tiroler Volkspartei hat ihre Wurzeln in der Zeit nach 1918 als moderne Partei mit der sozialständischen Gliederung der Vergangenheit "bürgerlicher Mittelstand", "Arbeiterschaft" und "Bauern", heute Wirtschaftsbund/ WB, Arbeiter-und Angestelltenbund/ ÖAAB und Bauernbund/ BB.
Die zentrale Figur nach Kriegsende war der Osttiroler Bauernbündler Josef Schraffl als erster Landeshauptmann Tirols 1917-1921.
Erfolgreich für den Einfluss der Volkspartei (und politischen Katholizismus) war Kurt Schuschnigg (1897-1977).
Er stammt aus einer altösterreichischen, der Monarchie und dem Militär verbundenen Familie. Als Schüler der Stella Matutina/ Feldkirch Kriegsteilnehmer, Jus-Student?/ Universität Innsbruck und Mitglied der "katholisch-deutschen Studentenverbindung Austria" war er autoritäts-, pflichtbewusst und katholisch sozialisiert.
Begründet als Rechtsanwalt in Innsbruck, Mitglied der Tiroler Volkspartei und Nationalrat ab 1927 den christlichen Wehrverband der "Ostmärkischen Sturmscharen" 1930.
In der Folge wird er 1932 Justizminister hier verantwortlich für standrechtliche Hinrichtungen und ab 1933/1934 Unterrichtsminister.
Nach der Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß wird er sein Nachfolger (1934-1938) und leitete das Unterrichtsministerium und das Heeresministerium daneben.
Mit der Festigung der Beziehungen zu Italien und der Idee von Österreich als "zweiten deutschen Staat" versuchte er den Ständestaat auf christlicher und deutscher Grundlage gegen den Nationalsozialismus zu verankern.
Vergeblich versucht er die Unabhängigkeit Österreichs 1936 im Abkommen mit NS-Deutschland? zu schützen.
Der NS-Druck? in Österreich und die ultimative Politik Hitlers beim Treffen in Berchtesgaden 1938 ließ ihn eine kurzfristige Volksbefragung ansetzen, die durch den Einmarsch deutscher Truppen verhindert wurde ("Anschluss" - Rücktritt - "Gott schütze Österreich!").
Mit der Inhaftierung im Gestapogefängnis München kam es in der Folge zur Überstellung in die KZ Sachsenhausen, Flossenburg und Dachau, dort als Sonderhäftling "Dr. Auster". Nach der Befreiung durch die US-Armee? in Niederdorf im Pustertal wanderte er in die USA aus.
Durch die verhinderte Rückkehr nach Österreich lehrte er von 1948 bis 1967 als Professor an der University of St. Louis, 1956/1957 auch an der University of Los Angeles und kehrte anschließend nach Tirol/ Mutters zurück.
In der Zwischenkriegszeit festigte sich die politische Struktur Tirols in den drei Faktoren regionalspezifischer Föderalismus, katholischer Konservatismus und volksparteilichen Korporativismus/ Bünde- und Verbandswesen.
Im Selbstverständnis war es als Antithese zu Wien zu verstehen. Für diese Grundhaltung von 1918-1938 steht Hans Gamper.
1.1.4 Südtirol in Italien | |
Eine Zäsur in der Landesgeschichte steht die Teilung Tirols durch den Friedensvertrag von Saint-Germain? vom 10. September 1919 und die Angliederung Südtirols an das Königreich Italien am 10. Oktober 1920. Beeinflusst wurde nachdrücklich die Identität des "Landes im Gebirge" (vgl. SCHREIBER 2008, 355-3599 .
Das Faktum der Brennergrenze wurde zur politischen Aufgabe und Identitätsstiftung für Tirol. Neben materiellen Nachteilen entstand in der Italienisierung ein Unbehagen einer Zugehörigkeit zu einem fremden Staat, besonders durch die Machtergreifung des Faschismus 1922.
Die Erschießung des Marlinger Lehrers Franz Innerhofer führte zum ersten Blutzeugen in der gängigen Geschichtsdarstellung Südtirols.
In der Politik der Entnationalisierung/ Entdeutschung tat sich Ettore Tolomei besonders hervor. Schon während des Krieges wurde ein "Recht auf Austreibung" von unerwünschten Volksgruppen in Italien propagiert.
Mit der Italienisierung der Flur-, Orts- und Eigennamen entstand ein Feindbild bei den Südtirolern.
Die Merkmale des Faschismus waren in Südtirol erkennbar, Gewaltherrschaft und imperiale Züge.
Das Bozener Siegesdenkmal anstelle des 1917 begonnenen und nicht fertiggestellten Kaiserjäger-Denkmals? wurde ein Monument der "Italianita" / Sieg über den Feind jenseits der Alpen, obgleich kein italienischer Soldat während des Krieges Südtiroler Boden betreten hatte.
Ansätze guter Beziehungen Italiens zur autochthonen Bevölkerung verhinderte der Faschismus. Zu verweisen ist auf die Tiroler Kulturzeitschrift "Der Brenner"/ Innsbruck und wenige interagierende Gemeindevertreter. Der Faschismus blieb in Südtirol ein Oberflächenphänomen.
Die Entnationalisierung endete zumeist nicht in nicht mehr als in einer "äußeren Italienisierung". Die Südtiroler nahmen das Regime als aufgezwungen, repressiv und fremd kaum an.
Bei Wahlen 1921, 1922 und 1924 gab es klare Absagen.
Repressives Handeln wird deutlich an den verfolgten Südtiroler Antifaschisten wie den Rechtsanwälten Josef Noldin, Eduard Reut-Nicolussi? und dem Lehrer Rudolf Riedl.
Noldin und Riedl wurden zu einem Zwangsaufenthalt in Süditalien "konfiniert".
Eduard Reut-Nicolussi? flüchtete nach Nordtirol, war volkstumspolitisch aktiv. Er publizierte im Beck-Verlag? München 1928 das Buch "Tirol unterm Beil". 1930 wurde die Kampfschrift in Englisch publiziert "Tyrol under the Axt of Italian Fascim". Auf Vortragsreisen nach Deutschland, Frankreich, England und in die USA machte er auf die Südtirol-Frage? aufmerksam. 1931 erwarb er an der Juridischen Fakultät die Lehrbefugnis und wurde 1934 zum ao. Universitätsprofessor für Völkerrecht und Rechtsphilosophie ernannt.
Rudolf Riedl kommt nach seiner Zwangsverschickung in Hatting bei Inzing in Nordtirol unter.
Josef Noldin studierte an der Universität Innsbruck Rechtwissenschaften. Mit ihm verbunden sind Aktivitäten gegen die Trennung und Entnationalisierung.
Ab 1925 organisiert er den Notschulunterricht/ "Katakombenschulen" für Salurn und das Bozner Unterland mit Michael Gamper.
1927 wird er zu fünfjähriger Verbannung/ Insel Lipari verurteilt.
1928 erlitt er eine angeblich malariaähnliche Fiebererkrankung.
Im gleichen Jahr erfolgt durch eine Amnestierung die Entlassung aus der Verbannung, Berufsverbot/ Rechtsanwalt und in der Folge eine Verschlechterung seiner Gesundheit nach einer Magenoperation.
1929 stirbt Noldin in Bozen. Straßennamen in Leifers, Tramin, Innsbruck und Wien erinnern an seinen Widerstand gegen die Zwangsmaßnahmen in Südtirol.
1.1.5 Südtirol als Streitobjekt | |
Der Schutz vor der Italienisierung war in Tirol ein gemeinsames Ziel aller Parteien, allerdings nicht in Wien.
Eine Rolle spielten bei der Zurückhaltung der Bundesregierung
der Erhalt einer Völkerbundanleihe mit Zustimmung Italiens,
die Unterstützung der Heimwehr durch die italienischen Faschisten,
die "Römer Protokolle" 1934 als Handelsverträge mit Italien und Ungarn sowie
die Protektorenrolle Mussolinis gegenüber den Aktivitäten der Nationalsozialisten 1934-1938.
Proteste Tirols zeigen die Auseinandersetzung mit Wien bei
der Einschränkung der deutschsprachigen Presse,
der Italienisierung der Schule,
Zerstörung Südtiroler Denkmäler und
der Errichtung der Bozener Industriezone und Ansiedelungspolitik.
Verärgerung gab es in Tirol über die Verzichtpolitik der NSDAP auf Südtirol/ Vorwurf "Südtirolverrat".
1935 prangerte Reut-Nicolussi? die Würdelosigkeit der österreichischen Italienpolitik an. In der Folge kam es zum Konflikt mit Kurt Schuschnigg.
1.1.6 Osttirol 1918-1932 | |
Die Bezeichnung "Osttirol" als Region des östlichen Pustertales bis Kärnten ist erstmals 1837 nachweisbar (vgl. GEHLER 2008, 110).
1871 kam es durch die Inbetriebnahme der Pustertalbahn Villach-Lienz-Franzensfeste? zum Anschluss an das Bahnnetz. Die Abtrennung Südtirols war ein massiver Einschnitt.
Kennzeichnend in der Zeit zwischen 1918 bis zu Beginn 1930 ist die isolierte geographische und verkehrsmäßige Lage.
Lienz mit der größten Einwohnerzahl betrug durch Zuwanderung in der Folge fast 25 Prozent der Osttiroler Bevölkerung.
1.1.7 Sozioökonomische Entwicklung Tirols | |
1918 - 1938 war Tirols Wirtschaft überwiegend agrarisch ausgerichtet. In den zwanziger Jahren setzte ein Schwund von 56 auf 35 Prozent der Erwerbstätigen ein. Gründe waren eine Urbanisierung, der einsetzende Tourismus, eine Landflucht und schleichende Agrarkrise.
Das Bevölkerungswachstum verlief gleichmäßig, die Bevölkerungsdichte und Abwanderung war gering.
Traditionell war die Landwirtschaft klein strukturiert. Der Ackerbau fiel deutlich hinter die Viehwirtschaft zurück.
Die Forstwirtschaft war durch den Holzreichtum einkommenssichernd.
Eine neugeordnete Milchwirtschaft litt unter der Weltwirtschaftskrise, es erfolgte die Gründung eines Milchausgleichsfonds und von Marktordnungsverfügungen zur Besserung des Wirtschaftsfaktors.
Die Mangelwirtschaft bei Hunger und Zwangsbewirtschaftung führte zur Desintegration und Entsolidarisierung der Tiroler Gesellschaft.
Der Gegensatz zwischen Herstellern und Verbrauchern führte zu Kleinkriminalität, Schmuggel und Schwarzhandel.
1932/ 1933 führte der Bürgermeister von Wörgl Michael Unterguggenberger in seiner Gemeinde ein "Schwundgeld" ein, eine Parallelwährung neben dem gültigen Schilling (seit 1924 nachfolgend auf die Krone).
Als Währungsexperiment entfaltete es Aufsehen und Beispielswirkung. Das Vorhaben hatte nur begrenzte Dauer.
Der Tourismus wurde durch die steigende Motorisierung begünstigt. Mit der 1000 Mark-Sperre? 1933 für deutsche Reisende versiegte praktisch der gesamte Fremdenverkehr. Neben dem Tourismus war auch der Außenhandel mit Agrarprodukten betroffen.
Als Ausgleich suchte man nach einer Internationalisierung der Gästeströme später vorrangig aus Belgien, den Niederlanden, der Tschechoslowakei und Großbritannien.
Die Tiroler Industrie erlebte ein labile Entwicklung (Preisverfall, Abnahme der Inlandsnachfrage, Rückgang der Exporte - Wegfall der Absatzmärkte der Monarchie).
Der Ausbau der Wasserkräfte mit dem Achensee-Projekt? deckte den Anstieg der elektrischen Energie, möglich war auch die Elektrifizierung der Bahn.
Die "Westtiroler Werke" konnten wegen der Weltwirtschaftskrise nicht realisiert werden.
1.2 Nationalsozialismus | |
Am 11. Juni 1933 verübte ein reichsdeutscher Nationalist Werner von Alvensleben in Innsbruck einen Anschlag auf Richard Steidle/ Landesführer der Heimwehr und Tiroler Sicherheitsdirektor, der eine Armverletzung davontrug.
1.2.1 Radikalisierung | |
Die Tiroler Heimwehr besetzte in der Folge das "Braune Haus" in der Müllerstraße/ Sammelpunkt der NSDAP. Verhaftet wurden führende NS-Anhänger?, auch der Gauleiter Franz Hofer, der von verkleideten NS-Anhängern? in Heimwehruniformen im August 1933 aus dem Gefangenenhaus befreit wurde.
Am 19. Juni 1933 kam es zu einem Betätigungsverbot der NSDAP, damit die Aktivität im Untergrund. Es kommt zu Hakenkreuzaktionen und Anschlägen auf Brücken, Straßen und Eisenbahnlinien und Unterstützungen aus dem benachbarten Bayern. Eine Verbindung von Heimwehr und Schutzbund kommt in Form einer "Tiroler Arbeiterlegion" nicht zustanden.
Das Verbot des Republikanischen Schutzbundes am 16. März 1933 in Tirol war das erste in Österreich durch eine Landesregierung (vgl. SCHREIBER 2008, 37) .
1.2.2 Bürgerkriegsjahr 1934 | |
Nach den blutigen Tagen um den 12. Februar 1934 gesamtstaatlich und der Ausschaltung der Sozialdemokratie, war Tirol nur ein Nebenschauplatz. Dennoch kam es zu dem Mordbefehl an Polizeistabshauptmann Franz Hickl in Innsbruck mit den Folgerungen von gezielten Verhaftungen der Tätergruppierung und in der Folge zur Flucht des Verantwortlichen.
Im Krisenjahr 1934 bestand in Tirol keine Gefahr eines Aufstandes, keinen "Februar 1934" in Form eines Bürgerkrieges wie im Osten Österreichs.
Dafür jedoch im Jänner 1934 einen handwesten Heimwehr-Putsch? in Innsbruck und zeigte, wie ernst der Heimwehrführung mit der Durchsetzung des "Korneuburger Programmes " es gewesen sein musste. Einheiten der Heimwehr besetzten unter dem Vorwand eines angeblichen NS-Putsches? lokale Zentren.
Innsbruck glich einem Heerlager im Februar, Quartier wurde in der Universität, im "Bierwastl" und in der Turnhalle des Turnvereins bezogen.
Der Landesregierung wurde ein ultimativer Forderungskatalog von der Landesleitung der Heimwehr vorgelegt (vgl. GEHLER 2008, 126-127).
Säuberung aller Institutionen nicht "vaterländischer" Gesinnung,
Zuweisung von Vertrauensleuten in der Sicherheitsdirektion und den Bezirkshauptmannschaften,
Einsetzung eines "Landesauschusses" mit zwei Mitgliedern der Heimwehr und je einem vom Bauernbund, Jungbauernbund und der Ostmärkischen Sturmscharen sowie
Einsetzung von Kommissären zunächst in Innsbruck, Reutte, Mayrhofen, Kitzbühel, Kufstein und Seefeld.
Dies hätte eine Machtübernahme in Tirol bedeutet.
Die Ereignisse des 12. Februars 1934 überholten die Forderungen, in Tirol gab es lediglich kleinere Gefechte in der Gegend um Wörgl, Kirchbichl und Häring. Es gab keine Umsturzgefahr.
1.2.3 Ständestaat | |
Der Ständestaat sah eine nach Berufsgruppen und Standesgruppen gestufte Gesellschafts- und Staatsform vor (vgl. Vordenker Othmar SPANN "Der wahre Staat", 1921/ 2014). Damit war in Österreich ein autoritärer Staat im Antikommunismus und Antimarxismus, im Vorbild jedoch von Italien oder Deutschland nachzueifern, christlich-katholisch zu verstehen.
Nach dem 12. Februar 1934 waren die Sozialdemokratische Partei und ihre Organisationen in Tirol aufgelöst. Der Innsbrucker Gemeinderat war nicht mehr beschlussfähig, der Landtag verhandelte am 15. Februar über eine "Selbstauflösung".
Mit der Auflösung des Landesparlaments Ende Februar und Übertragung seiner Rechte an den Landeshauptmann und seinen Stellvertretern waren die Grundfesten der Demokratie beseitigt (vgl. im Folgenden GEHLER 2008, 128-134).
Der Übergang zur autoritären Staatsform war in Tirol im konservativ-bürgerlichen Lager durch Rivalenkämpfe Heimwehr vs. Volkspartei gekennzeichnet. Zielscheibe der Heimwehr war Landesrat Hans Gamper.
Die Regierungsbestellung im Sommer 1934 verlief auch in Tirol in einem Einparteiensystem/ "Vaterländische Front" (VF) als Organisation des Ständestaates in Form einer Sammelbewegung.
Die neue Bundes-Verfassung? vom 1. Mai 1934 erfordert die Errichtung eines Gemeinwesens auf "christlicher und ständischer Grundlage". Der Mord an Bundeskanzler Engelbert Dollfuß am 25. Juli führt zur Nachfolge von Kurt Schuschnigg mit Übernahme von noch zwei Ministerien.
In Tirol erreichte die VF bis zum "Anschluss" trotz aller Bemühungen keine Verankerung. Vorerst blieben die Heimwehr und die Ostmärkischen Sturmscharen bestehen.
Sympathien errang in den dreißiger Jahren monarchistische Ideen zeitweilig Popularität. In Tirol gab es "Kaisergemeinden". die die Ehrenbürgerschaft dem Kaisersohn Otto von Habsburg verliehen. In Osttirol vor allem gab es bemerkenswerte Sympathien.
Die auf Grund der bundesstaatlichen verfassungsrechtlichen Übergangsbestimmungen "ständische Landesordnung" war durch die Repräsentanten der Vertreter der einzelnen Berufsgruppierungen/ Standesvertretungen gewährleistet.
Die "Machtergreifung" Hitlers am 30. Jänner 1933 in Deutschland und die außerpolitischen Erfolge wie die Saar-Abstimmung?, das Flottenabkommen mit dem UK 1935 und der Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland 1936 sowie die langsame Unwirksamkeit des "Friedensdiktats von Versailles" verfehlten nicht ihre Wirkung in Österreich.
Österreich hatte mit der Völkerbundanleihe von Lausanne 1932 sich auf einen zwanzigjährigen Anschlussverzicht an Deutschland verpflichten müssen und eine deflationistische Wirtschaftspolitik, Währungsstabilität/ Schilling "Alpendollar" und Devisen- und Sparpolitik betrieben.
Mit der Akzeptanz des Ständestaates entstand langsam eine anhaltende Arbeitslosigkeit in Österreich/ Tirol und in Deutschland die Aufrüstungs- und Kriegsvorbereitungspolitik.
1.2.4 "Anschluss" in Tirol 11./ 12. März 1938 | |
Mit der Ankündigung der Volksbefragung hatte Kurt Schuschnigg bewusst Innsbruck mit dem Hintergrund des Tiroler Freiheitskampfes ausgewählt. Überschätzt wurde Tirol als Bastion des Ständestaates.
Problemlos riss der NS am 11.und 12. März 1938 die Macht an sich. Tirol war das erste Bundesland bzw. erster "Gau" in dem der ehemals illegale stellvertretende Gauleiter Egon Denz die "Machtübernahme" vom Fenster des Gasthauses "Breinössl" verkündete. Innsbruck befand sich bereits am Abend des 11. März in den Händen der NS. Formell übernahm als Gauleiter Edmund Christoph gegen 21 Uhr die Führung der Landesregierung.
In den abgelegenen Berggemeinden verzögerte sich die Kenntnis der Volksbefragung.
Im Unterschied zur Volksabstimmung am 10. April gab es völlig unterschiedliche Ergebnisse.
Am 12. März rückten zunächst Vorausabteilungen und in der Folge reguläre Truppen der deutschen Wehrmacht stürmisch begrüßt in Innsbruck ein. Verhaftungen von NS-Gegnern?, vor allem Anhängern des Ständestaates, fanden statt.
Der ehemalige Landesführer der Heimwehr Richard Steidle wurde in KZ Buchenwald zwangsverschickt und 1941 "auf der Flucht erschossen". Ein Ende der Nöte und Sorgen führte zur Zustimmung zum neuen Regime.
In Osttirol folgte eine Kundgebung am Abend des 11. März 1938. Anton Stremitzer wurde kommissarischer NS-Bezirkshauptmann?. Einige Tage später erfolgte der Einmarsch der deutschen Wehrmacht. Es erfolgten erste Verhaftungen und Enthebungen in Behörden. Die "Lienzer Nachrichten" wurden vom " Der Deutsche Osttiroler" abgelöst.
Südtirol war für Hitler keine Frage. Für einen Verzicht sprach er sich bereits in "Mein Kampf" 1926 aus. Südtirol sollte kein Störfaktor in der Achse Berlin-Rom? sein. In Innsbruck wollte man sich damit nicht abfinden.
Auf Grund der im Vertrag von St. Germain möglichen Option befanden sich rund 5000 in Tirol aus Südtirol stammende Bevölkerung, allein 3000 in Innsbruck. Die meisten besaßen die österreichische Staatsbürgerschaft.
Mit dem Gau Tirol-Vorarlberg? und der Gauhauptstadt Innsbruck mit Oberbürgermeister Egon Denz radikalisierte sich die Verfolgung von NS-Gegnern?.
Bis 1938 waren jüdische Familien trotz Vorurteilen in gewisser Weise integriert. Mitunter war der Alltag gekennzeichnet durch Ausgrenzung (vgl. ACHRAINER-HOFINGER? 1996, 30-36).
Mindestens vier Todesopfer in der kleinen Israelischen Kultusgemeinde Innsbruck in der "Reichskristallnacht" 9. - 10. November 1938 waren der negative Höhepunkt pogromartiger antisemitischer Ausschreitungen in Innsbruck und Tiefpunkt der politischen Entwicklung Tirols von 1918 bis 1938 (vgl. GEHLER 2008, 160-162; SCHREIBER 2008, 259-277).
Nennenswerte überindividuelle Proteste und Widerstände oder nachträgliche Verurteilungen sind für Innsbruck kaum bekannt.
In der Universitätsklinik soll aus Abscheu über die Vorgänge der tätige Chirurg Professor Burghard Breitner sein Parteiabzeichen weggeworfen haben.
1.3 Nachkriegszeit | |
Das Entstehen der Demokratie in der "Republik Österreich" 1945 mit dem Bekenntnis Tirols ist nach dem Zweiten Weltkrieg unbestritten.
Im Folgenden geht es um um das Wiedererstehen des Landes Tirol und internationalen Öffnung in Alpbach auch in gesamtösterreichischer Bedeutung.
Im Sinne einer lebendigen Demokratie bedarf es einer Wiederkehr von Parteipolitik. Als Mann des Westens steht Karl Gruber als Landeshauptmann von Mai - Oktober 1945.
Tirol als französische Besatzungszone, es kommt zur ersten Landtagswahl in der Not der Nachkriegszeit (vgl. GEHLER 2008, 218-243).
1.3.1 Bundesland - Internationale Öffnung "Europäische Hochschulwochen Alpbach " | |
Mit der provisorischen Regierung unter Karl Renner wird die Frage der Zugehörigkeit Tirols zur Republik Österreich aufgeworfen. Es gab allerdings keine kontroverse Debatte darüber.
Allein durch die totale Kontrolle der Besatzungsmächte und den in Tirol ab 1948 besonders wirkenden Marshall-Plan? / ERP wurde von einem "goldenen Westen" gesprochen.
Ausgebaut wurden die Bundesstraße am Fernpass und nach Reutte und der Seilbahnbau sowie profitierte die Fremdenverkehrswirtschaft. RP-Mittel? flossen zur Förderung der landschaftlichen Neugestaltung und Nutzung.
Von 1947 bis 1954 wurde in dem inneralpinen niederschlagsarmen Gebiet am Kaunerberg ein 15 Kilometer langer Bewässerungskanal quer durch die Wiesenhänge bis in das Inntal errichtet (vgl. GEHLER 2008, 218-219, 221).
Im Sommer 1945 entstand eine bemerkenswerte Initiative im Bergdorf Alpbach im Tiroler Unterinntal. Vom 25. August bis 10. September fanden erstmalig die "Internationalen Hochschulwochen" des "Österreichischen College" statt.
Initiatoren waren Otto Molden (Student der Staatswissenschaft und Geschichte) und Simon Moser (Privatdozent für Philosophie der Universität Innsbruck). Nach der geistigen Abschottung in der NS-Zeit? wollen sie etwa eine Selbstbestimmung eines akademischen Daseins mit Traditionen des Abendlandes, einem Bekenntnis zur Demokratie und zur österreichischen Geschichte und Kultur verwirklichen.
Simon Moser wollte eine "Bergakademie für Geist und Sport" begründen.
Otto Molden wollte einen sommerlichen Treffpunkt für Studenten und Professoren abseits der Universität, eine Gemeinschaft freier europäischer Intellektueller bilden, die über den wissenschaftlichen Bereich hinaus Ideen kultureller Identität für ein geeintes Europa entwickeln.
1946 aktivierte er erstmals "Gespräche junger Europäer". In der Folge wurde symbolhaft die Europafahne in Österreich in Alpbach gehisst. Diese Zielsetzungen drückten sich in der neuen Bezeichnung "Europäisches Forum Alpbach" aus.
Die Konzeption entwickelte große Strahlkraft und ließ in das Bergdorf Prominente aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Kunst kommen. Das Forum wurde Ausdruck der Öffnung Tirols und für Internationalität (vgl. das Programm 2022 > https://tirol.orf.at/stories/3168040/ [7.8.22]).
1.3.2 Wiederkehr der Demokratie | |
Das politische Leben um die Gruppe der Professoren Franz Gschnitzer und Eduard Reut-Nicolussi?, sowie auch Staatsanwalt Ernst Grünewald, Innsbrucks Bürgermeister Anon Melzer und Karl Gruber gründete die "Demokratische Österreichische Staatspartei". Dagegen griff die Gruppe unter Professor Hans Gamper, Adolf Platzgummer und Josef Muigg auf die bündische Struktur der alten "Tiroler Volkspartei" zurück.
Es sollte nicht zum Bruch zwischen Volks- und Staatspartei bei gleicher Zielsetzung kommen. Als Kompromiss wurde eine moderne politische Partei mit sozialständischer und berufsgruppenartiger Gliederung geschaffen.
Die ÖVP Tirol sollte nicht Rechtsnachfolgerin der "Tiroler Volkpartei" werden. Der gesamtösterreichisch denkende Karl Gruber sprach sich für den Führungsanspruch einer neuen Partei mit neuem politischen Boden aus (vgl. GEHLER 2008, 221-227).
In Tirol organisierte sich erstaunlich rasch eine politische Kultur in der für das Land typischen Bünde- und Verbandsstruktur.
Die ÖVP-Landesgruppe? Tirol rekonstituiert die bündische Struktur, am 16. September 1945 findet die erste Landesdelegierten-Versammlung? des Österreichischen Arbeiter- und Angestellten -Bundes (ÖAAB) mit 132 Ortsgruppen in Innsbruck statt. Zur gleichen Zeit tagte ein vorbereitender Ausschuss der Landesgruppe des Österreichischen Wirtschaftsbundes (WB) mit dem Bekenntnis zum Programm der ÖVP. Bereits am 24. September 1945 wurden die Satzungen des Tiroler Bauernbundes (TBB) genehmigt und damit der TBB konstituiert.
1946 war der Reorganisationsprozess abgeschlossen, der seine weitere Entwicklung bis heute beeinflusst.
Am 4. Mai 1945 fand in Tirol das erste Treffen der Sozialdemokraten und Revolutionären Sozialisten statt. Durch Verfolgung und Exil in der NS-Zeit? war der Personalbestand sehr gering. Trotz struktureller Schwäche und den traditionell schwachen Rückhalt in der Tiroler Bevölkerung wurde die SPÖ in das Regierungssystem eingebunden.
Die Betonung einer Zusammenarbeit fördert die Einbindung vormaliger unbedeutender NS-Mitglieder? in die Aufbaugesellschaft.
1.3.3 Karl Gruber als Landeshauptmann | |
Am 6. Mai 1945 wurden unter dem Vorsitz des provisorischen Landeshauptmannes Karl Gruber im Exekutivausschuss beschlossen, die Verkehrswege wieder instand zu setzen, die Bombenschäden zu beheben und entsprechende Arbeitskräfte zu beschaffen.
Eine Art Regierungsprogramm legte Gruber in der ersten Nummer der "Tiroler Tageszeitung" ab 21. Juni 1945 vor, die Notwendigkeit zur Rückkehr demokratischer Regierungsverhältnisse und Bescheinigung der US-Militärverwaltung? für faires Verhalten und Verantwortungsgefühl.
Nach wenigen Wochen eines Übergangs zu ziviler Verwaltung kam es zum Wechsel der Besatzungskräfte, wobei die Franzosen die US-Kräfte? ablösten.
Gruber agierte als Kurzzeit-Landeshauptmann? - Mai bis Oktober 1945 - hauptsächlich in der Stadt Innsbruck. In der Bevölkerung hatte er keinen Rückhalt.
Als der von den US-Streitkräften? eingesetzte Landeshauptmann kam ihm viel Skepsis und Misstrauen von der ehemals regimetreuen Bevölkerung und Kriegsteilnehmern entgegen. Schwierige Aufgaben wie Transportschwierigkeiten, Ernährungskrisen und Wohnungsnöte sowie der Besatzungswechsel waren Belastungen.
Dennoch gelang eine österreichische Verwaltung, Verbesserung der Ernährungslage, den Wiederaufbau voranzutreiben und politisches Leben mit Demokratie zu beleben.
Grubers politisches Anliegen war vorrangig eine fortgesetzte Stationierung der US-Besatzung? in Tirol, weil er von den USA eine stärkere finanzielle und bessere materielle Unterstützung für die Beseitigung der Mangelzustände und den Wiederaufbau erwartet hätte.
Grubers Ambitionen galten vermehrt der Bundespolitik, mit dem raschen Weggang nach Wien ergab sich als Nachfolger Alfons Weißgatterer als Mann des Bauernbundes.
1.3.4 Französische Besatzungszone | |
Der Wechsel in der Besatzung kam durch die Besatzungszonen-Vereinbarung? der Siegermächte für Österreich vom Juli 1945 in London zustande. Am 6. Juli 1945 verließen die ersten US-Regierungsstellen? und Truppen das Land. Die Franzosen sollten den direkten Zugang mit der Besetzung von Vorarlberg-Tirol? zu ihrer Zone in Baden-Württemberg? haben.
Belastet schien das Verhältnis durch die historische Erinnerung an die Tiroler Freiheitskämpfe 1809 zu sein. Statt Hilfen zum Wiederaufbau nahm die französische Besatzungsmacht Demontagen der wenigen Industrien, Requirierungen bei Lebensmitteln und dem Viehbestand sowie Beschlagnahmungen von Wohnungen und Landhäusern vor.
In der Folge ergab sich nach Anlaufschwierigkeiten ein positives Zusammenwirken.
Durch das französische Kulturbewusstsein wurden entsprechende Werte versucht zu vermitteln. Angeboten wurden im Rahmen französischer Kulturpolitik Theateraufführungen, Ausstellungen, Konzerte und Vorträge sowie französische Bildungseinrichtungen mit Schulen und Institut.
In der Folge waren die Bemühungen allerdings nicht nachhaltig.
1.3.5 Frauenalltag - Rollenverteilung | |
Arbeit und Leistung der Frauen in der Nachkriegsgesellschaft erhalten durch die Zeitgeschichteforschung ihre Bedeutung in der Bewältigung des Alltags.
Zu beachten sind die verwüstete Infrastruktur, der Dauereinsatz in den Schlusstagen des Krieges, der Mangel an männlichen Arbeitskräften und Überwindung an Mangelwirtschaft. Die Belastungen hielten weit bis in die fünfziger Jahre an.
Die Lebenswelten von Frauen hingen auch mit den neuen Lebenswelten der Besatzung und möglicherweise neuen Chancen mit Partnerschaften von Besatzungssoldaten zusammen. Nach der Überwindung der Notzeiten dominierte wieder das männlich dominierte Gesellschaftsbild und einer in der Folge populären kleinfamiliären Lebensform.
Es gab in der Tiroler Politik keine Frauen oder in Funktionen der Parteien. Erst langsam kamen Frauen in den Landtag. Bis 1994 waren nur Männer in der Landesregierung. Die ersten Landesrätinnen waren Eva Lichtenberger (Grüne) und Elisabeth Zanon (ÖVP).
Erst in den siebziger Jahren mit dem Beginn emanzipatorischer Ansätze in Reformen etwa des Familien-und Strafrechts, Bildungsreformen, in der Folge einer Geschlechterpolitik und Gleichbehandlungsgesetzen, entwickelten sich Frauenorganisationen in den Parteien.
Durch die Zunahme von Arbeit und Berufstätigkeit der Frauen stellten sich Fragen und Problemstellungen des Arbeits- und Sozialrechts, Familienrechts, Bildungsherausforderungen und eine Zunahme von Bildungsangeboten für Frauen.
1.3.6 Aufbruch der Katholischen Kirche | |
Mit Paulus Rusch als ehemaliger Bankangestellter, Studium der Theologie und Philosophie 1933 zum Priester geweiht in Innsbruck, Seelsorger und Regens des Innsbrucker Priesterseminars, am 15.Oktober 1938 zum Apostolischen Administrator Innsbruck-Feldkirch? ernannt und am 30. November 1938 in Innsbruck zum Bischof geweiht, setzte nach Kriegsende ein beachtlicher Aufschwung der Katholischen Kirche ein (vgl. ALEXANDER-KRIEGBAUM? 2004, 100-121).
Die Aufbauarbeit führte zur Errichtung kirchlicher Institutionen und von Laienorganisationen. Die Caritas in der Nachkriegszeit, viele Pfarrheime, das "Haus der Begegnung" und das "Volksbildungsheim Grillhof" in Vill sind Beispiele von Aktivitäten. Als sozialpolitisch engagierter Bischof bezieht er sich auf ein Umdenken in Kirche und Politik. Kennzeichnend ist das Engagement im Volkswohnbau bzw. sozialen Wohnbau.
Das soziale Bewusstsein von Rusch basierte auf den Pfeilern einer Erfahrung als Bankangestellter, Zeit im Priesterseminar, katholischer Soziallehre und seinem theologisch-philosophischen Verständnis von Mitmenschlichkeit mit praktizierter christlicher Solidarität. Eine Aktivierung der Laien, ausgehend von der "Katholischen Aktion", führt zur Gründung der "Katholischen Arbeiterjugend".
1.3.7 Bemühungen um Südtirol | |
Tirols Politik nach 1945 bemühte sich wieder um das Recht der Selbstbestimmung für die Südtiroler Bevölkerung. Nach der Überwindung des Faschismus und des Nationalsozialismus in den Teilen Tirols schien eine Volksabstimmung als wesentliches demokratisches Mittel selbstverständlich und im Sinne der "14 Punkte" von Wilson und dem 1918 proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie der "Atlantic Charta" 1941 von Churchill und Roosevelt angebracht (vgl. im Folgenden GEHLER 2008, 246-252).
Im Folgenden zeigt es sich als Trugbild und leere Versprechungen, vielmehr waren sicherheitspolitische Interessen und geostrategische Überlegungen letztlich entscheidend. In Südtirol wurden von der am 8. Mai 1945 gegründeten "Südtiroler Volkspartei (SVP)" vorrangig die Selbstbestimmung, Rückgliederung und historische Einheit Tirols gefordert. Gleichermaßen forderte dies die Minderheit der Ladiner.
1945 gab es bereits vor den Nationalratsahlen am 25. November in ganz Österreich große Kundgebungen für die Rückkehr Südtirols. Lediglich in Kärnten wurden mit Rücksicht auf die slowenische Minderheit keine Kundgebungen abgehalten. Eine genehmigte Großkundgebung, mit rund 35 000 Teilnehmern, von der französischen Besatzungsmacht fand am 4. September 1945 in Innsbruck statt. Ein Appell an die Londoner Außenminister-Konferenz? der Alliierten vom 10. September bis 2. Oktober 1945 wurde verabschiedet.
Die "Moskauer Deklaration" vom 1. November 1943 bot auch keine Handhabe für eine Wiedergutmachung in der Südtirolfrage.
Karl Gruber als künftiger Außenminister musste die unveränderte Brennergrenze zur Kenntnis nehmen. Minimale Grenzveränderungen wollten gestattet werden, der Umfang blieb jedoch offen. Österreich als Land mit beschränkten Handlungsmöglichkeiten nach dem Krieg hatte gegenüber Italien Nachteile, womit die Südtirolfrage ein strittiges und offenes Thema blieb. Gruber verlor nicht nur die Geduld, er ließ sich auch auf schrittweise auf verschiedene Gebietszugeständnisse ein, was als "Rückzug auf Raten" und Schwäche ausgelegt wurde.
Schließlich wurde auf der Außenministerkonferenz in Paris am 1. Mai 1946 gegen die Selbstbestimmung beschlossen. In Tirol erfolgte ein halbtägiger Generalstreik. Die Kritik richtete sich gegen die Großmächte und die österreichische Bundesregierung.
Der Südtiroler Politiker Karl Tinzl war in dieser Situation auf Grund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten als Autonomie- und Rechtsexperte unentbehrlich. Tinzl wurde Gruber im Wiener Bundeskanzleramt/
Auswärtige Angelegenheiten Gruber zur Seite gestellt. Die gemachten Fehler konnten nicht mehr korrigiert werden. Durch die frühzeitigen Territorialzugeständnisse in der "Bozner Lösung" 1946, verbunden mit dem Vorschlag des Verbleibs der Industriezone und einem Korridor im Unterland bei Italien oder die "Pustertallösung" als kleinere Grenzberichtigung wurde die Forderung nach einer Volksabstimmung aus der Hand gegeben (vgl. GEHLER 2008, 252).
1.3.8 Gruber-De? Gasperie-Abkommen? - "Pariser Abkommen" 1946 | |
Mit der Chancenlosigkeit 1946 für Südtirol vor den Vereinten Nationen eine Lösung zu finden, kam es zum Gruber-De? Gasperie-Ankommen? vom 5. September 1946 am Rande der Friedenskonferenz in Paris.
Die folgenden Übereinkünften sind als zwischenstaatliche Lösung des Konflikts unter Ausschluss Europas einzuordnen ist ( > https://www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/zis/library/19460905.html [6.8.2022]).
Die Frage der Autonomie unterlag allein der italienischen Behandlung. So ist der Pariser Vertrag in seinem Kerngehalt Ausdruck einer inneritalienischen Regelung (vgl. GEHLER 2008, 256).
1.3.9 Südtirolpolitik 1946-1955 | |
In der Folge gelang es der österreichischen Diplomatie und Südtirolpolitik in technischen Fragen Teilerfolge zu erzielen.
Die in Südtirol leben Optanten erhielten in der Regel die italienische Staatsbürgerschaft zurück. Die Verhandlungen über die "Reoption" hatten sich über 1947 hingezogen, in Kraft erst am 5. Februar 1948. Das "Optantendekret" besagte, dass Südtiroler Deutschlandoptanten, die sich zur Zeit des Inkrafttretens in Italien aufhielten, Ansuchen zur Rückoption bis zum 4. Mai 1948 abgeben mussten, wenn sie wieder italienische Staatsbürger werden wollte.
Neben dem Verlust der Heimat und den folgenden Schwierigkeiten der Rückoption waren Vermögensverluste allerdings schwerwiegend. Viele Optanten erhielten ihre Guthaben und Erlöse aus abgetretenen Gütern nicht mehr zurück, erst viel später ergaben sich Möglichkeiten.
Nach der massiven Zuwanderung besonders in Bozen im Zusammenhang mit der "Triest-Krise?" 1953 wegen offener italienischer Gebietsansprüche an Jugoslawien meldete sich Stimmen der SVP und in Österreich, die das Recht ebenso auf Selbstbestimmung forderten. Allerdings war bereits eine Autonomie für Südtirol vereinbart worden, die aber eher nur auf dem Papier stand.
Von Bedeutung war das ""Accordino" über den erleichterten Austausch lokaler Waren ("Tiroler Freihandelszone"), allerdings letztlich reduziert auf spezifizierte Waren, einbezogen auf das Trientino und Vorarlberg.
Mit dem Staatsvertrag 1955 erhielt Österreich die volle außenpolitische Handlungsfreiheit wieder. Nun sollte eine aktivere Südtirolpolitik einsetzen.
Der Ruf das Südtirolproblem vor die Vereinten Nationen/ UNO zu bringen wird lauter. Der Staatsvertrag fixierte die Grenzen vor 1938, die Neutralität untersagte grundsätzlich die Einmischung bei Konflikten in inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Damit ergaben sich neue Hindernisse.
Allerdings kam international hinzu, dass die Bevölkerung des Saargebiets am 23. Oktober 1955 in einem Referendum von Frankreich lossagte und sich zur Bundesrepublik Deutschland mit 67,7 Prozent entschied. Ein "Saareffekt" setzte nicht ein, 1960/1961 wurde die UNO angerufen.
1.3.10 Ungarnflüchtlinge in Tirol 1956 | |
Als Beispiel menschlicher Zusammenführung in Flucht und Vertreibung gilt die gelungene Integration von Ungarnflüchtlingen 1956 in Österreich und Tirol. Die Hilfe gilt als Ausdruck einer aktiven Solidarität und eines gewachsenen Selbstbewusstseins ein Jahr nah der erlangten Unabhängigkeit.
In Tirol kam es zur Gründung von ungarischen Schulen, die eine Ausbildung und gute Möglichkeiten für einen weiteren beruflichen Lebensweg schufen.
Nicht zu übersehen neben Spontanhilfen waren auch die Möglichkeiten von UN-Hilfen? und einer Auswanderung in Verbindung mit der Unterstützung in der Krisensituation durch die "United Nations Relief Rehabilitation and Administration / UNRRA ".
1.3.11 "Heimatferne" - "Los von Trient" | |
Nah der teilweisen Rücksiedelung der umgesiedelten Deutschlandoptanten kam es zu einer Südtiroler Arbeitsmigration in den fünfziger und sechziger Jahren. Tausende suchten bessere Arbeits-, Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Diese Heimatferne war zunächst nur als zeitlich begrenzte Situation gedacht, in der Folge entstand auch daraus ein Dauerzustand.
Die Zwänge zur Abwanderung waren massiv, zur Linderung der Not entstand eine "Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne". Der italienische Bevölkerungsdruck, Binnenwanderung und gelenkte Absicht war groß und verstärkte aus Südtirol zu gehen.
Die wachsende Radikalisierung der Stimmung in beiden Landesteilen wurde mit Sorge in Wien gesehen. Franz Gschnitzer wurde am 29. Juni 1956 zum Staatssekretär für Südtirol im Außenministerium bestellt. Durch die ablehnende Haltung der italienischen Regierung verstärkte sich der Blick zur UNO.
Im Sommer bewegte das Urteil im "Pfunderer Prozess" die Tiroler Öffentlichkeit. Junge Burschen waren angeklagt, im Sommer 1955 den Finanzbeamten Raimondo Falqui aus angeblich politischen Gründen rermordet zu haben. Das Urteil des Bozner Landesgerichts lautet mehr als 113 Jahre Gefängnis für sieben von acht Angeklagten im Juli 1957. Rom räumte nach einer europaweiten Aufmerksamkeit einen Justizskandal ein (vgl. GEHLER 2008, 285).
Am 17. November 1957 verkündete der im Mai gewählte neue SVP-Obmann? und spätere Landeshauptmann Silvius Magnago seine Ansicht über die italienische Auslegung des Pariser Abkommens auf einer Großkundgebung auf Schloss Sigmundskron mit dem "Los von Trient". Magnagos Politik richtete sich auf eine "Landesautonomie" für Südtirol. Die Protestversammlung war der Beginn einer Debatte über die Internationalisierung der Minderheitenfrage vor der UNO 1960-1961.
In der Folge blieb die Frage des Gebrauchs der deutschen Sprache in Ämtern ungelöst. Von 17 Sachgebieten des Minderheitenstatus gab es nur drei Durchführungsbestimmungen.
Die Rolle Österreichs als "Schutzmacht" wurde erst seit dem Staatvertrag 1955 mit der Unabhängigkeit relevant.
1.3.12 150 Jahre "1809" 1959 | |
Ausgangsbasis waren
das Gruber-De? Gasperi Abkommen vom 5. September 1946 mit der Veränderung im Anhang IV zwischen Italien und den Alliierten vom 10. Februar 1947,
das Autonomiestatut vom 29. Februar 1948,
das Optantendekret vom 2. Februar 1948 und
das "Accordino" vom 12. Mai 1949 als Basis für eine weitere Entwicklung.
Die Tiroler Landeshauptleute reagierten unterschiedlich, Alfons Weißgatterer (1946-1951) im Kontext der Gruber-Südtirolpolitik? zurückhaltend und Alois Grauß (1951-1957) setzte mehr Akzente. Die Südtiroler Landeshauptleute Karl Eckert und Alois Pupp traten eher passiv und Silvius Magnago engagiert auf.
Am 13. September 1959 veranstaltete das offizielle Tirol eine großen Festumzug. Als Symbol der Teilung des Landes und des Südtiroler Leids wurde die "Dornenkrone" durch Innsbruck getragen. Mit 20 000 Teilnehmer sollten im Aufmarsch die Landeseinheit und die Wehrhaftigkeit Tirols dokumentiert werden.
Symbole der Darstellung und Zeichen waren der Zenoburger Adler von 1350, Kaiser Maximilian in einer Nachbildung der Grabfigur der Hofkirche, eine Herz-Jesu-Darstellung? zur Erinnerung an den Schwur von 1796 und die Dornenkrone als Zeichen des Schmerzes um das verlorene Tirol. Am Ende stand der Tiroler Adler im Strahlenkranz als Zuversicht und Zukunft des Landes. Die Dornenkrone war aber sehr umstritten, kritisiert wurden sie besonders von Südtiroler Seite als eine "Geschmacklosigkeit" und "Profanierung höchster religiöser Güter". Bischof Paulus Rusch war der gleichen Meinung (vgl. GEHLER 2008, 290-291).
Das umstrittene Symbol sorgte für eine Politisierung des Festes und führte zu einem Einreiseverbot für Landeshauptmann Hans Tschiggfrey (1957-1963).
Zunehmend formierte sich der Terrorismus ab 1961/1962 von rechtsextremen Kreisen aus Österreich und Deutschland, etwa Studenten von schlagenden Verbindungen wie die Burschenschaften "Olympia" aus Wien, der "Brixia" aus Innsbruck oder der "Bubenruthia" und "Germania" aus Erlangen-Nürnberg?.
Besonderer Aktivist war der österreichische Burschenschaftler Norbert Burger, der bei der Bundespräsidentenwahl 1980 für die Nationaldemokraten (NDP) kandidierte. Gewählt wurde der Diplomat und Völkerrechtsexperte Rudolf Kirchschläger.
1.3.13 UNO-Debatte? 1960 | |
Trotz aller Schwierigkeiten brachte Österreich am 23. Juni 1960 einen Antrag ein. Südtirol kam auf die Tagesordnung der Vollversammlung der UNO. Am 5. September wurde ein Memorandum überreicht, in dem der historische Hintergrund, das Pariser Abkommen mit ausgebliebener Durchführung und die bilateralen Verhandlungen beschrieben wurden. Damit wurde die aktuelle Lage und und Befassung der UNO erklärt. Österreich hatte sein Ziel, die Frage der "politischen Spezialkommission" zuzuteilen, erreicht.
Am 11. Oktober wurde ein Beschluss bzw. Resolutionsantrag eingebracht. Sieben Tage später sollte im politischen Sonderausschuss - mit 98 Delegierten der UNO - die Debatte beginnen. Akzeptanz fand die Formulierungsänderung, Österreich und Italien zu sofortigen Verhandlungen über die Durchführung des Pariser Abkommens zu bewegen.
Am 27. Oktober wurde der Resolutionsentwurf einstimmig angenommen, am 31. Oktober 1960 verabschiedete die Generalversammlung die 18-Mächte-Resolution 1497/XV. Stichwortartig lauteten die drei Punkte: aufgefordert werden die beiden Parteien Verhandlungen aufzunehmen, in angemessener Frist eine Lösung durch UN-Mittel? einschließlich der Anrufung des Internationalen Gerichtshofes oder anderer friedlicher Mittel zu versuchen und sich aller Handlungen zu enthalten, die freundliche Beziehungen beeinträchtigen können.
Entscheidend war das Recht der Zuerkennung Österreichs, über Südtirol mit Italien zu verhandeln. Somit konnte Rom nicht mehr auf die Innerstaatlichkeit pochen. Festgehalten wurde die volle Gleichberechtigung mit der italienischen Bevölkerung mit Bestimmungen über den Schutz des ethnischen Charakters und der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des deutschsprachigen Elements (vgl. GEHLER 2008, 296-297).
1.3.14 "Bozner Feuernacht" - Radikalisierungen | |
Es begannen erwartungsgemäß 1961 Bombenanschläge, die zunächst Sachobjekte als Ziel hatten. Anschläge betrafen den sogenannten "Aluminium-Duce?" in Waidbruck durch Heinrich Klier und Martl Koch. Ebenso betraf es das Anwesen von Ettore Tolomei in Glen bei Neumarkt im Bozner Unterland durch Josef Fontana.
Vom 11. auf den 12. Juni 1961 in der "Herz-Jesu-Nacht? kam es zur großen "Feuernacht" mit genau geplanten Sprengungen von Hochspannungsmasten durch den "Befreiungs-Ausschuß? Südtirol B.A.S.". Nach den Anschlägen brach die Stromversorgung in Bozen zusammen. Angst in der italienischen Bevölkerung brach aus. Die Hochöfen der Aluminiumwerke in der Industriezone konnten weiterlaufen. Obwohl über 43 Strommasten gesprengt wurden, war die "Feiernacht" kein Erfolg und wurde von der SVP-Parteispitze? verurteilt. Eine neuerliche Bombenwelle am 10. und 11. Juli auf große Bahnlinien mit Lahmlegung des internationalen Zugverkehrs trug allerdings zur Radikalisierung der Lage bei (vgl. GEHLER 2008, 301-304, 309). Die Bevölkerung in Südtirol lehnte die Gewaltakte ab, in Tirol gab es Distanz und Zurückhaltung.
Am 18. Juli 1961 hatte Österreich wieder die Südtirolfrage vor die UNO gebracht und am 24. Juli dem italienischen Innenminister das Angebot einer Einsetzung einer Kommission unterbreitet.
Dies sollte die "19er-Kommission" aus 11 italienischen und sieben Südtiroler Vertretern und einem Ladiner zur Ausarbeitung für eine verbesserte Autonomie sein. Damit wurde Österreich aus den zwischenstaatlichen Konferenzen herausgehalten. Mit der Einsetzung der Kommission verloren die radikalen Elementen viel an Bedeutung. Als inneritalienisches Problem brauchte sich die UNO nicht damit beschäftigen.
Die Anschläge gingen im Herbst 1961 weiter mit Attentaten auf Bahnhöfen und in Städten Italiens, Mitglieder der "Germania" wurden in Trient mit Koffern voller Molotowcocktails festgenommen. Die italienische Gegenaktion mit Neofaschisten aus Mailand sprengte am 1. 0ktober 1961 das Andreas-Hofer-Denkmal? am Bergisel und begingen Anschläge in Ebensee/ Oberösterreich (ein Toter und zwei Schwerverletzte).
Der italienische Geheimdienst unterwanderte nach der "Feuernacht" BAS-Kreise? mit "Maulwürfen" und beeinflusste so den BAS. In der Folge wurde erneut die Südtirolfrage vor die UNO gebracht. Am 28. November 1961 wurden Italien und Österreich nochmals verpflichtet, eine einvernehmliche Lösung zur Erfüllung des Pariser Abkommens zu finden.
Der abscheuliche Anschlag an der Porzenscharte im Grenzgebiet von Osttirol zur Provinz Belluno am 25. Juni 1967 mit vier getöteten italienischen Erhebungsbeamten hat in der Folge eine Verschärfung in der Überwachung im "Grenzeinsatz Süd" durch das Bundesheer mit Schießbefehl und blockierte die zwischenstaatlichen Verhandlungen. Der Vorfall führte auch zum italienischen Veto bei den EWG-Verhandlungen? Österreichs mit Brüssel bis 1969 (vgl. GEHLER 2008, 314).
Ende der sechziger Jahre zeichnete sich mit dem "Südtirol-Paket?" und dem "Operationskalender" eine diplomatische Lösung für eine Südtirol-Autonomie? ab (Mitte-Links-Regierung? unter Aldo Moro). Eine Spaltungsgefahr der SVP konnte überwunden, die Mitglieder des "Aufbaues" konnten in die politische Mitte gedrängt werden, die Einheit der Partei und Geschlossenheit der Volksgruppe war gesichert (vgl. GEHLER 2008, 316-319).
1.3.15 Die Ära Eduard Wallnöfer (1963-1987) | |
Als langdienender Landeshauptmann Tirols begründet er eine neue Ära, mit dem Versuch, Konservatismus und Modernität, Föderalismus und staatliche Loyalität zu verbinden. Wirtschaftliche und soziale Dynamik waren ebenso Zielsetzungen. Eduard Wallnöfer wird als politisches Naturtalent beschrieben (vgl. GEHLER 2008, 319-335).
Als Mann des Bauernbundes, 1945 Sekretär der Bezirkslandwirtschaftskammer Imst, wird er 1949 Landtagsabgeordneter, Landesrat für Landwirtschaft, Königsmacher waren die Bauernbundvertreter Angelus Scheiber und Franz Schuler am 13. Juli 1963 bei seiner Landeshauptmannwahl.
Zu seinen langfristigen und modernisierten Reformen gehören Gemeindezusammenlegungen, die Arbeitsgemeinschaft Alpenländer (ARGE ALP), die infrastrukturelle Erschließung von entlegenen Gebieten, die gesetzlichen Grundlagen für das Elektrizitätswesen, die Eingliederung der Sicherheitsdirektion in das Bundesland und die Erhebung der apostolischen Administration Innsbruck-Feldkirch? zur selbständigen Diözese, die Schaffung des Landeskulturfonds zur Vergabe von Mitteln zur Hofsanierung, Grunderwerbs und Maschinenankaufs. Sein Zusammenwirken mit dem Landesamtsdirektor Rudolf Kathrein als persönlicher Ratgeber war von großer Bedeutung.
In der Personalpolitik gibt es interessante Aspekte, die in der politischen Epoche bestimmend waren.
Das Amt des Landtagspräsidenten blieb eine Ehrenfunktion. Die bisherigen Präsenten amtierten in Nebenfunktion: Alois Lugger (19065-1979) Bürgermeister von Innsbruck, Josef Thoman (1979-1989) Direktor der "Neuen Heimat" und Carl Reissigl (1989-1994) Präsident der Handelskammer und Obmann des Wirtschaftsbundes (WB).
Bei der Landtagswahl 1975 wurde ein Mandat dazugewonnen. Beim AAB gab es massive Konflikte um die Kandidaten für die beiden Landesräte, Fridolin Zanon (Osttirol) und Fritz Prior (Innsbruck) kamen in den Landtag und Regierungsfunktion.
Von Interesse als langjähriger Bürgermeister von Innsbruck (1956-1983) und als Landtagspräsident (1963-1979) als Begleiter und Unterstützer der Politik Wallnöfers war Alois Lugger. Er war maßgeblich an den Verhandlungen zur Rückgliederung Osttirols mit dem britischen General Winterton beteiligt. In seiner Amtszeit führt er erfolgreich zwei Winter-Olympiaden? 1964 und 1976 durch. Zudem war er 25 Jahre Vizepräsident im "Rat der Europäischen Gemeinden". 1964 erhielt Innsbruck nach Wien als zweite Stadt Österreichs nach Wien den Titel "Europastadt". Die große Popularität zeigt sich in der Kandidatur zum Bundespräsidenten, am 23. Juni 1974 verlor er (48,3 Prozent) gegen Rudolf Kirchschläger (51,7 Prozent).
Ebenso eine politische Persönlichkeit war Fritz Prior, als Landeshauptmann-Stellvertreter?, Bildungs-und Kulturverantwortlicher in der Landesregierung. Über den Vorsitz der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst in Tirol erfolgte 1965 der Einstieg in die Landesregierung. 1978 wurde er in Nachfolge Luggers zum Landesobmann des ABB gewählt (bis 1988). 1966 bis 1994 war er ehrenamtlicher Präsident des Landesschulrates.
Nach US-Muster? führte Robert Fiala mit kleinem Stab und sachorientiert die ÖVP-Landesleitung? im engen Kontakt mit den Gemeinden. 60 Prozent der Bürgermeister waren Parteiobleute oder ÖVP-Mitglieder?. Die ÖVP hatte 310 Ortsgruppen, allein in Innsbruck 22. Fiala führte über 80 000 Funktionäre im Bauernbund, Jungbauernschaft, Arbeiter- und Angestelltenbund und Wirtschaftsbund. Parteimitglieder gab es weit weniger.
Die Südtirolpolitik empfand der Vintschgauer Wallnöfer als politisches und persönliches Anliegen. Jeden Dienstag in der Sitzung der Landesregierung war Südtirol auf der Tagesordnung. Der SVP-Landesparteisekretär? Josef Atz war wöchentlich nach der Regierungssitzung in Innsbruck anwesend. Südtirol war ein parteiübergreifendes Anliegen. Der Bau der "Europabrücke" hatte auch eine südtirolpolitische Funktion. Sie sollte auch die Verbindung zum südlichen Landesteil symbolisieren.
Das Verhältnis zu Wien und im Kontakt Wallnöfer-Kreisky? war von gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Ein starker ÖVP-Club? im Nationalrat mit acht Abgeordneten befasst sich zweimal im Jahr mit Tiroler Anliegen (etwa Südtirol, Katastrophenfondsgesetz).
Die Bilanz Wallnöfers betrifft Aktivbereiche wie Strukturpolitik in den Gemeinden, Ausbau der Energieversorgung und Verkehrswege (Inntal- und Brennerautobahn, Felbertauernstraße, Arlbergstraßentunnel), Erweiterung des Fremdenverkehrs und der Bildungsangebote (jedem Bezirk eine höhere Schule), Technische Fakultät und Modernisierung der Universität Innsbruck.
Negativbereich war der Bevölkerungszuzug mit starker Umweltbelastung und Anpassungsschwierigkeiten mit dem Wandel der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse (Bevölkerungsstruktur, politische Einstellung, Ökologie-Ökonomie?). Er starb am 15. März 1989.
1.3.16 Olympische Winterspiele 1964 Innsbruck | |
Eine langjährige Planung der Olympischen Winterspiele ging durch die Bewerbungen 1951 und 1960 voraus. Bei der Finanzierung gab es eine Fehlkalkulation.
Der ORF hatte das Monopol in Radio und Fernsehen, es war das größte Sportereignis der Zweiten Republik. Entsprechend war der Kommerzialisierungsprozess und die Professionalität vorhanden.
Die Politik profilierte sich mit Bundesminister Heinrich Drimmel, Bürgermeister Alois Lugger und Landeshauptmann Eduard Wallnöfer.
Neu war für Innsbruck die Internationalität, die über den normalen Fremdenverkehr ging. Die Sicherheitskräfte reagierten nervös, offensichtlich gab es Sorge vor Zwischenfällen.
Folgen der Spiele waren die große Bautätigkeit im Großraum Innsbruck bei Bundesstraßen, Brückenbauten, der Errichtung von Sportstätten und der Schaffung des Olympischen Dorfes.
1.3.17 Silvius Magnago - Ära in Südtirol (1960-1989) | |
Die Biographie von Silvius Magnago widerspiegelt die Geschichte Südtirols im 20. Jahrhundert. Im Folgenden wird verkürzt auf wichtige Etappen in seinem Leben und Wirken eingegangen (vgl. GEHLER 2008, 341-347).
Geboren am 4. Februar 1914 in Meran als zweites Kind des Bezirksrichters Silvio Magnago und seiner Vorarlberger Frau Helene Riedler, 1915 Umzug nach Bozen, nach der Annexion Italiens Wechsel in der vierten Klasse in eine italienische Schule, bis zur Matura/ Reifeprüfung Besuch des staatlichen Gymnasiums Rediffianum mit Konvikt in Meran, Vater freischaffender Rechtsanwalt in Bozen (Ablehnung der Versetzung nach Mailand), 1936 Einberufung zum italienischen Militär (sechs Monate Palermo, elf Monate in Rom), lernt in Rom seine künftige Frau Sophia Cornelissen kennen.
1939 optiert er als Jurastudent mit seiner Schwester Selma für das NS-Deutschland?, seine Eltern und ältere Schwester optieren für Italien. Im Juni 1940 promoviert er an der Universität Bologna zur Doktor der Rechtswissenschaft. Er startet sein berufliche Laufbahn im Bozner Hotel Stiegl als Angestellter, im November 1940 meldete er sich freiwillig bei der Musterungskommission der Deutschen Wehrmacht und wurde im Oktober 1943 an der Ostfront eingesetzt. Im gleichen Monat heiratet er in Innsbruck Sophia Cornelissen, im Dezember 1943 wurde er als Kompanieführer bei Nikopol im Süden der Ukraine durch eine Granate so schwer verletzt, dass ihm im Lazarett in Warschau nach sieben Operationen das linke Bein amputiert wurde. Im April 1945 wird er entlassen und kehrt mit seiner Frau nach Bozen zurück. Er wurde als Sprecher der Südtiroler Kriegsopfer aktiv. Im November 1945 wird er Mitglied der Südtiroler Volkspartei (SVP) und übersetzt Beschwerden gegen die italienische Verwaltung.
1947 wird er Mitglied des nicht gewählten Bozner Gemeinderates, im Mai 1948 erhält er die meisten Stimmen bei der Bozner Gemeinderatswahl und wurde erster deutscher Vizebürgermeister (bis 1952). Im gleichen Jahr wird er in den Landtag gewählt und erster Landtagspräsident. Im Mai 1957 wird er überraschend zum SVP-Obmann? gewählt, am 17. November hält er seine berühmte Rede vor 30 000 Anhängern auf Schloss Sigmundskron bei Bozen mit dem berühmten "Los von Trient!".
Im Dezember 1960 wurde Magnago mit 41 741 Vorzugsstimmen in den Südtiroler Landtag und in der Folge zum Landeshauptmann gewählt. Er blieb sechs Legislaturen bis 1989 an der Spitze des Landes. In der 19er-Kommission war er Wortführer der Südtiroler Delegation.
Am 19. Jänner 1971 erhielt Magnago im Europarat in Straßburg den Robert-Schumann-Preis? verliehen. Mit der Annahme des Pakets verbesserten sich die Beziehungen zwischen zwei europäischen Staaten. Als einziger Südtiroler erhielt er den Ring des Landes Tirol und den "Cavaliere di Gran Croce" von Italien.
Am 11. Juni 1992 wurde mit der Streitbeilegungserklärung Österreichs gegenüber Italien vor der UNO sein politisches Ziel erreicht. Als Ehrenobmann der SVP mit Sitz und Stimme fungierte er noch in der Parteileitung. Als er 1989 abtrat, war er der dienstälteste Regierungs- und Parteichef Europas. Sein Nachfolger war Luis Durnwalder.
1.3.18 Übergang und Umbruch - Alois Partl (1987-1993) | |
Als Direktor der Landeslandwirtschaftskammer Tirol hat 1970 Eduard Wallnöfer Alois Partl als Gemeindereferent in die Landessregierung geholt. 17 Jahre führte er den Vorsitz in der Kommission für Raumordnung, Umwelt und Landwirtschaft der ARGE ALP, 12 Jahre war er Vertreter der Bundesländer in der Konferenz der Gemeinden und Bundesländer im Europarat (Ausschuss für Raumordnung und Entwicklung).
In der traditionellen Ämterhäufung als Landesrat für Gemeinde-und Feuerwehrwesen, Forstwirtschaft, Wasserversorgung und Kanalisierung war er Obmann der Raiffeisen-Zentralkasse? Tirol, Aufsichtsratsmitglied der TIWAG und der Innsbrucker Messegesellschaft, stellvertretender Landesparteiobmann und stellvertretender Bauernbundobmann. 1987 wurde er Landeshauptmann und übernahm das Amt des Parteiobmannes. Zwei Belastungen hatte er zu bestehen, den Schatten der Popularität Wallnöfers und die bestehenden ungelösten Aufgaben der späten Ära Wallnöfer personeller Art und innerparteilicher Konflikte (vgl. GEHLER 2008, 358-363).
Der Einbruch der ÖVP bei der Landtagswahl am 12. März 1989 (minus 16 Prozent) führte zur Fortsetzung der 1987/ 1988 beginnenden EG-Debatte?, Zurückhaltung der Landepartei und Euphorie der Bundespartei (Mock, Khol) und Gegenwerbung der Grün-Alternativen?. Der Abschied von der Zweidrittelmehrheit nach Wallnöfers Abgang wurde die ÖVP-Regierungsmannschaft? einschließlich des bewährten Osttirolers Fridolin Zanon ausgewechselt.
Partls Image sank, innerparteiliche Kritik mit Rücktrittsforderungen wurde laut. Der Austritt Hans Lindners aus dem ÖVP-Landtagsclub? bedeutete den Verlust der absoluten Mehrheit, in die Landesregierung bzw. Nationalrat wurden die zwei Quereinsteiger Wendelin Weingartner (Banker) und Dieter Ludesch (Univ.Prof., Obmann Akademikerbund) geholt.
1991 wuchs der innerparteiliche Druck für Reformen, Erneuerung des Funktionärskaders und einem Verzicht auf die Parteiobmannschaft. Als Bewerber traten Wendelin Weingartner, Franz Fischler, Helmut Mader und Hermann Arnold auf. In der Stichwahl errang Weingartner 64 Prozent, Mader dagegen nur 36 Prozent. Nunmehr konnte Partl seine Position festigen. Weingartner und der berufene Helmut Krieghofer als Nachfolger von Robert Fiala sahen sich in der Defensive beim Umbau der Partei.
Spannungen gab es im Verhältnis Partl-Weingartner? über den Abschluss des Südtirol-Pakets?, Abgabe der Streitbeilegungserklärung vor der UNO, Vorbehalte bei der Unterzeichnung des Transitvertrages. Letztlich entschloss sich Partl nicht mehr zu kandidieren. Auslösender Faktor war ein einmaliger Faktor in der Geschichte der Tiroler ÖVP. Der Bauernbündler Partl wurde vom eigenen Bund gestürzt (vgl. den Druck der Bundesparteileitung von Erhard Busek mit der Unterstützung Weingartners). Weingartner ernannte zum neuen Agrar- und Finanzlandesrat Ferdinand Eberle vom Bauernbund.
Die Bilanz der Amtszeit von Alois Partl war letztlich nicht ungünstig. Positive Akzente einer Nachbarschaftspolitik in Zusammenarbeit (vgl. die "Europaregion Tirol"), letztlich in der Übergangsphase zur gelockerten, liberalen und reformbereiten Parteikurs unter Weingartner, den Partl durch sein vorzeitiges Ausscheiden fördern sollte.
1.3.19 Osttirol als Region | |
Nach Martin KOFLER bestimmten spezifische Entwicklungen den Landesteil, die Region Osttirol (vgl. KOFLER 2005, 240-244). Entstanden durch die Abtrennung Südtirol von Tirol 1919/1920 setzte sich langsam der Name als östlicher Landesteil durch.
Die isolierte Lage ergab nach 1945 die zweifache Identität "Bezirk Lienz" und als zweiter Landesteil "Osttirol".
Die Abgeschiedenheit und Isolierung wurde erst mit der Eröffnung der Felbertauernstraße beendet. Nach fast 80 Jahren Bemühungen wurde die kürzere innerösterreichische Verbindung zwischen Lienz-Mittersill-Kitzbühel-Innsbruck? als winterfeste Straße bzw. Alpentransversale Nord-Süd? 1967 eröffnet. Damit fördert der Verkehrsweg den Anschluss an die Nachbarregionen vorrangig Salzburg und Tirol, in der Folge Südtirol und den umgebenden EU-Raum?.
Konsequent ist ein verbesserter Wirtschafts- und Bildungsanschluss in seiner breiten Bedeutung möglich.
In seiner Nachkriegsgeschichte in der Besatzungszeit war dieser Raum als letzter Teil Tirols von den Briten besetzt., aber auch als erster Tiroler Bezirk wieder frei. Verzögert erfolgte der Wiederaufbau, die Ernährungssicherung und Entnazifizierung.
In der NS-Zeit? war Osttirol Teil des "Gau Kärnten". Die Rückführung zu Tirol stand außer Diskussion für den Großteil der Bevölkerung. Am 17. Oktober 1947 kam die Wiedervereinigung mit Tirol zustande. Die Urkunde trägt die Unterschriften der Landeshauptleute Ferdinand Wedenig/ Kärnten und Alfons Weißgatterer/ Tirol.
Die Erschließung Osttirols wurde vorangetrieben, so der Nationalpark Hohe Tauern, die TAL-Öl-Pipeline?, EU-Förderprogramme? und Betriebsansiedelungen.
Die Nähe zur gegründeten Alpen-Adria-Universität? Klagenfurt in Verbindung mit Lienz als Schulzentrum und EU-Erwachsenenbildungsprogrammen? förderten die Bildung der Region (vgl. > https://www.lienz.gv.at/fileadmin/neu/Marketing/Bilder/Sued_Alpen_Raum/rmo_strategiepapier_su__dalpenraum_DIN_A4_de-klein.pdf., Seiten 13 und 42).
Von 1945 bis 1956 wird die Gemeindepolitik in Innsbruck von christlich-sozialen Persönlichkeiten aus dem politischen Widerstand gegen den NS oder mit ihm sich verbunden fühlten dominiert (Anton Melzer, Franz Greiter).
1956 endete mit Alois Lugger diese Epoche, der mit eigener Liste innerhalb der ÖVP gegen Greiter kandidierte und eine knappe Mehrheit erhielt. Lugger strebte eine Aussöhnung mit dem nationalen Lager an und versuchte den starken Anteil an großdeutschem-nationalen Bürgertum einzubinden.
Damit entstand ein Sonderfall Innsbruck mit der bewussten Integrationsstrategie von Bundeskanzler Julius Raab gegenüber "Ehemaligen". Mit dieser Personalpolitik warb Lugger FPÖ-Wähler? ab. Das Prinzip der Listenkoppelung sicherte erste Erfolge. Später gewann Lugger eine sichere Mehrheit. Mit den sozialistischen Vizebürgermeistern Hans Flöckinger und Ferdinand Obenfeldner gab eine gute Zusammenarbeit. Die weitsichtige und umsichtige Politik zog etwa den maßgeblichen Geldgeber der Freiheitlichen Lorenz Rhomberg auf seine Seite für eine Koalition mit der SPÖ (vgl. GEHLER 2008, 372-376).
Der Tiroler Arbeitsbund (TAB) 1963 unter Klaus Posch und Wilhelm Steidl verstand sich als Erneuerungsbewegung mit dem Ziel einer überbündischen Volkspartei, war die erste rechtsgerichtete gemeindepolitische Wahlgruppe in Österreich. Der TAB war von 1963 bis 1971 Mitglied der ÖVP-Liste?, verstand sich später als Reflex gegen das "System Lugger". Aus der innovativen Gruppierung gingen in der Folge ÖVP-Mandatare? wie Dietmar Bachmann (Geschäftsführer Vereinigung Österreichischer Industrieller Tirol), Ronald Niescher (Innsbrucker Bürgermeister) und Otto Keimel (Abg. zum Nationalrat) hervor.
Eine Gruppe des TAB war für den Verbleib in der ÖVP und eine innere Reformbewegung. andere Kräfte für eine kritische Position von außen. Letztere wurden von Posch und Steidl vertreten. Beide fanden in der ÖVP wenig Raum für abweichende Positionen. Steidl ging von der 68ger-Bewegung aus, die bürgerliche Welt müsse den Linken voraus sein. Der TAB hatte Vorbehalte gegen die Selbstgefälligkeit der Stadtführung und die fehlende Bürgernähe. Der SPÖ wurde eine fehlende Oppositionskraft vorgeworfen. Der TAB empfahl sich als bürgerliche Alternative. Die Überwindung der bündischen Struktur war kaum realisierbar.
Bei den Gemeinderatswahlen 1977 errang man schon vier und 1983 sogar fünf Mandate. Für die Landtagswahl scheiterte die Kandidatur wegen mangelnder personeller Ressourcen in den ländlichen Gemeinden, 1989 erfolgte bei den Gemeinderatswahlen mit nur einem Mandat der Einbruch und Bedeutungslosigkeit.
Als weitere politische Gruppierung jenseits der traditionellen ÖVP trat der "Innsbrucker Mittelstand" mit Hermann Weißkopf vom Wirtschaftsbund und mit Rechtsanwalt Paul Flach auf. 1983 schaffte die Gruppe den Einzug mit 5,2 Prozent in den Gemeinderat.
Der Übergang von der langen Ära Lugger zur Amtsperiode von Ronald Niescher erfolgte nahtlos, Niescher war ÖVP-Stadtparteiobmann?. Von 1983 bis 1994 war er Bürgermeister in einer Epoche der starken Dominanz des AAB in Innsbruck. Mit der aktiven Stadtpolitik Weingartners durch den knappen
Mandatsvorsprung der ÖVP-FPÖ-Koalition? und der innerparteilichen Polarisierung mit dem Schwiegersohn Wallnöfers Herwig van Staa, ging Weingartner auf Distanz zu Niescher und der ÖVP-Innsbruck?. Für den vom Gemeindeclub ausgeschlossenen van Staa war dies ein Vorteil.
Herwig van Staa konnte in der Folge die Obleute von Frauenbund, Wirtschaftsbund und Junger ÖVP auf seiner Lite "Für Innsbruck" platzieren. Es gelang ihm auch, das ehemalige Wählerpotenzial des TAB an sich zu binden. Am 24. April 1994 ging er bei der Gemeinderatswahl als Sieger aus der innerparteilichen Kontoverse hervor. Mit einer ungekoppelten eigenen Liste erreichte er den Sieg. Erstmals hatten SPÖ und ÖVP keine gemeinsame Mehrheit mehr in Innsbruck.
Das Ende der Amtszeit Nieschers war mit der Paktkündigung der FPÖ abzusehen, Das gewagte Verkehrskonzept erregte viel Unmut und eine harsche Medienkritik der Tiroler Tageszeitung und des ORF. Eine umstrittene Volksbefragung über die Durchführung einer dritten Winterolympiade und die innerparteiliche Spaltung über den Ausschluss van Staas aus dem ÖVP-Gemeinderatsclub? sowie die Ablehnung des Budgets durch die FPÖ, SPÖ und Grünen und falsche Hoffnung auf Neuwahlen mit einer besseren Position waren Aspekte der Niederlage.
Bei der Wahl siegte van Staa mit seiner Liste "Für Innsbruck". Niescher betrachtete nachträglich seine fehlende Medienpolitik als größten Fehler. Der Nachfolger Herwig van Staa (1994-2002) verfolget eine rigide Budgetpolitik, einen Beamtenabbau, Infrastrukturausbau und Modernisierung der Stadt mit neuer Architektur.
Seine Nachfolgerin Hilde Zach versuchte den Kurs beizubehalten. Innsbruck profitierte aus Luggers Ära als regionales Dienstleistungszentrum, Tourismushochburg, einer qualitativ wachsenden Universität/ Studentenstadt, reichem Freizeitwert und weltoffener "Alpenhauptstadt" (vgl. GEHLER 2008, 376).
1.3.21 Medienlandschaft Tirols | |
Mit der "Tiroler Tageszeitung" als genehmigte Ausgabe der Besatzung, die ab dem 1. Juni 1945 regelmäßig erscheinen konnte, war eine Grundlage nach Kriegsende geschaffen. In der Phase 1945-1955 gab es eine Reihe parteiungebundener Blätter wie "Die Wochenpost", "Tiroler Nachrichten" und "Volkszeitung". Eine Monopolstellung erreichte in kurzer Zeit die "Tiroler Tageszeitung" bis in die neunziger Jahre.
Als Sprachrohr der Tiroler ÖVP fungierten die "Tiroler Nachrichten" (1945-1973) und in der Folge die "Neue Tiroler Zeitung" (1973-1990), die ein immer mehr werdendes Zuschussobjekt wurde. In der mangelhaften Medienvielfalt gab es keine mediale kontroversielle Auseinandersetzung. Trotz der Veränderung der gesellschaftlichen Struktur blieb der Printsektor unverändert stabil.
1981 waren es nur mehr sechs Prozent der Bevölkerung, die dem Agrarsektor angehörten. Das Land blieb trotz wirtschaftlichem und technischem Fortschritt im Sinne der Moderne stark auf Tradition bezogen. Die Kluft zwischen den Lebensverhältnissen und gesellschaftspolitischen Idealen wurde größer. Die Formel "Landesregierung-ÖVP?" funktionierte von den sechziger bis in die achtziger Jahre. Während in Wien die Reformen der Ära Kreisky im Nachziehverfahren in Europa dem gesellschaftlichen Wandel Rechnung trugen, wurde in Tirol das neue Gedankengut der siebziger Jahre als Bedrohung von außen wahrgenommen (vgl. GEHLER 2008, 377).
Das Fehlen einer ÖVP-Parteizeitung? war das Ergebnis einer erfolgreichen ÖVP-nahen "Tiroler Tageszeitung", die erst 1989/ 1990 ihren Kurs ändern sollte. Bis Ende der achtziger Jahre änderte sich nichts, einen Neuanfang setzte der ORF mit der Sendung "Tirol heute" als Konkurrenz zur "Tiroler Tageszeitung". Mit dem Einstieg des bundesdeutschen Springer-Konzerns? änderte sich die Ausrichtung der "Tiroler Tageszeitung" /TT. Der veränderte mediale Hintergrund trug zu Erfolgen der reformorientierten Politiker Weingartner und van Staa bei. Die TT wandelte sich zu offenen Tagesblatt. Das Ende der Nachkriegszeit war erreicht und der Aufbruch in die (Post) Moderne erfolgte.
Noch stärker als in Nordtirol beherrschte in Südtirol das Verlagshaus Athesia mit dem Tagesblatt "Dolomiten" die Medienlandschaft und das politische Geschehen. Hier ist auch auf die Monopolstellung der Südtiroler Volkspartei/ SVP und die Landtagswahlen 1983 hinzuweisen. Die medienpolitische Konstellation ist hier anders gelagert. Der ethnisch-gelagerte Konflikt mit Italien hielt die Dominanz des Athesia-Imperiums? mit den "Dolomiten" bis zum heutigen Tag (vgl. die ORF-Sendung? "Südtirol heute" und damit die Bedeutung des ORF Tirol mit täglich zwei aktuellen Lokalsendungen).
1.3.22 Paketabschluss | |
Nach den Turbulenzen der SVP 1990 war der Rechtsanwalt, Universitätslehrer und Senator Roland Riz am 27. April 1991 neuer Parteiobmann geworden. Silvius Magnago hatte nach 34 Jahren seinem Wunschkandidaten das Amt abgegeben. Riz erhielt 94,44 Prozent der Stimmen und vertrat eine gemäßigte Linie gegenüber Rom. Als Angehöriger der Reformgruppe "Aufbau" war er prädestiniert für den Abschluss des "Pakets".
Mit einem Rechtsgutachten der Professoren Felix Emacora (Innsbruck) und Franz Matscher (Salzburg) versuchte Wien die Rechtslage zu klären. Nicht alle 137 Maßnahmen des Pakets waren Durchführungen des Pariser Abkommens, hervorzuheben war der internationale Konfliktsmechanismus mit einer ständigen Kommission (Matscher). Der zumindest nach außen vertretene Rechtstandpunkt Italiens , wonach die Paketmaßnahmen innerstaatlich und international nicht verbindliche Rechtsakte seien, sei überholt. Das sahen italienische Völkerrechtsexperten ebenso (vgl. GEHLER 2008, 379).
Ziel einer Gruppe von "Südtirolaktivisten" um Christian Waldner (Obmann der Jungen SVP) und Peter Paul Rainer war ein autonomes Tirol in einem "Europa der Regionen". Bis zum EU-Beitritt? Österreichs sollten die letzten Autonomiebestimmungen des Pakets erfüllt sein und in der Folge eine abschließende Volksabstimmung in Süd- und Nordtirol stattfinden.
Die mangelnde Entscheidung über die "Streitbeilegungserklärung" zeigte sich bei der Kundgebung am 15. September 1991 des überparteilichen "Initiativkomitees Junges Tirol" am Brenner. Gefordert wurde eine "Europaregion Tirol" und erregte internationale Aufmerksamkeit.
Vor diesem Hintergrund wurden beim zweitägigen Staatsbesuch von Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) in Rom die letzten offenen Durchführungsbestimmungen verhandelt. Roland Riz brachte noch Schwung in die Verhandlungen. Bis zum 23. November 1991 am Tag der Landesversammlung der SVP sollte die Zustimmung zur Streitbeilegungserklärung vorhanden sein. Bei der stürmischen Landesversammlung wurde gefordert, dass Italien und Österreich nu eine Streitbeilegungserklärung akzeptieren können, wenn der Stand der Autonomie bei Paket-Anschluss? mit Inhalt und Geist des Pakets von 1969 übereinstimmt. In einer Kampfabstimmung gab es ein positives Votum. Am 18. Dezember 1991 verabschiedete der römische Senat die Gesetzesvorlage zur Neueinteilung der Senatswahlkreise in Südtirol. Das Land erhielt jetzt drei Wahlkreise und damit drei Sitze im Senat.
Der Abschluss des Verfahrens fand im kleinen Kreis mit abschließendem Notenaustausch der Außenmister Österreichs und Italiens statt (vgl. GEHLER 2008, 382-384).
1.4 Tirol im 21. Jahrhundert | |
1.4.1 Tirols Weg in die Postmoderne | |
Die Zeit verbindet eng in Tirol den Bereich der Aktivitäten von Wendelin Weingartner. Als Landesrat, Parteiobmann und Landeshauptmann (1993-2002) zeigt er Ambitionen auf dem Weg in die Postmoderne. Sein Amtsantritt als Landeshauptmann war vom Erscheinen seines Buches "Nachdenken über Tirol" begleitet.
Politisches Anliegen waren eine Parteireform, der Föderalismus, Bundesstaat und die Landesverfassung, in Tirol waren Kernthemen der Transitverkehr und die Ausgestaltung der "Europaregion Tirol (ERT)" (vgl. GEHLER 2008, 402-403).
Am 6. November 1989 löste Weingartner Alois Partl mit einer Zustimmung von 96 Prozent als Bezirksparteiobmann Innsbruck-Land? ab und signalisierte, junge Leute für die Partei gewinnen zu wollen. Die ÖVP befand sich on 1989 bis 1991 in einer Krisensituation. Der Obmann des Tiroler Bauernbundes Anton Steixner brachte im November 1990 Weingartner als neuen Landespareiobmann in die Diskussion.
Auf dem ÖVP-Landesparteitag? am 16. März 1991 erfolgte die Wahl Weingartners zum Landesparteiobmann mit 64 Prozent Zustimmung.
1.4.2 Aufbruchstimmung "Wir Tiroler" | |
Der neue Obmann strebte eine Parteireform, die sich auch auf politikwissenschaftliche Gutachten über eine "strategische Neuausrichtung" stützte. Mit einem "Corporate Design" sollte in den Medien durch "Wir Tiroler"-Slogans geworben werden (vgl. GEHLER 2008, 406-408).
"Wir-Tiroler?" - Feste in Nord-, Süd- und Osttirol standen im Vordergrund. Weingartner verpasste nun die Stereotypen Tirols wie Fleiß, Leistungswillen und Mut mit einem zeitgemäßen Design, Andersartigkeit und Besonderheit. Beim SVP-Landesparteitag? in Meran wurde das Tirol-Klischee? auffallend stark betont.
Das Vorwahlmodell wurde zur Landtagswahl bei aller Kritik als "größte Reform seit 1945" beschlossen. Der Werbeeffekt war beachtlich. 70 000 Tiroler nutzten die Möglichkeit, aus 100 Bewerbern die VP-Kandidaten? mitzubestimmen.
Das Vorhaben, die Bünde zugunsten der Partei zurückzudrängen, erlitt doch einen Rückschlag. Der Bauernbund mobilisierte seine Mitglieder wie kaum zuvor und besetzte den Großteil der Mandate.
Über die Landesliste musste ein bündischer Ausgleich gesucht werden.
Das Vorwahlmodell wurde unter Herwig van Staat wieder abgeschafft, eingeführt wurde das alte Rekrutierungsmodell.
Die Wahl zum Landeshauptmann wurde als Abgesang der alten Tiroler VP-Politiker? und einer Aufbruchstimmung gewertet.
Di Vorstellung von einer "Europaregion Tirol" diente als Konzept, bestehende Strukturen des Föderalismus zu sichern und weitere Kompetenzen auszubauen. Ein Beispiel war in gemeinsames Büro/ gemeinsame Präsenz in Brüssel (vgl. GEHLER 2008, 410-412).
Mit einer neuen Stabsstelle des Landes wollte man gemeinsame grenzüberschreitende Projekte in Wirtschaft, Landwirtschaft, Verkehr, Tourismus, Kultur, Bildung und Schule anregen.
Das neue zukunftsorientierte Bewusstsein war eine Neuauflage der von Wallnöfer vertretenen "geistig-kulturellen Landeseinheit". Mit dem EU-Beitritt? Österreichs am 1. Jänner 1995 kam die die politische Komponente der Tiroler Südtirol-Politik? stärker zum Tragen.
Das neue Selbstbewusstsein zeigte sich in Projekten wie Freie Universität Bozen, Flughafen, Schnellstraße Meran-Bozen?, Ötzi-Museum? und neuer Messe in Bozen.
Das Schengener Abkommen ab 1. April 1998 ergab eine freie Fahrt über den Brenner.
Als Weingartner Vizepräsident des seit dem Unionsvertrag von Maastricht (1. November 1993) geschaffenen "Ausschusses der Regionen" konnte er auf der Bühne der EU als Repräsentant Tirols auftreten. Eine Länderkammer nach deutschem Vorbild schwebte ihm hier vor. Er trat für Freiheitsrechte der Regionen ein.
Die Eröffnung des "Europabüros Tirol" erzeugte in Italien Kritik als politisches Phänomen. Weingartner erneuerte seinen Wunsch nach Föderalismus. Im Vergleich zur ARGE ALP gehe es um einen Schritt weiter.
1.4.4 Landtagswahlen neunziger Jahre | |
Ein auf die Person Weingartner zentrierter Wahlkampf brachte am 13. März 1994 stimmenmäßig ein schlechtes Ergebnis. Die Wahlarithmetik Grundmandate-Restmandate-Wahlzahl? ergab den Vorteil, dort zu verlieren, wo sie Polster hatte. So sicherte sich die ÖVP die absolute Mehrheit. Das Ergebnis ermöglicht die Wiederwahl Weingartners zum Landeshauptmann am 5. April 1994.
Mitentscheidend war en kontraproduktiver Wahlkampf der Tiroler FPÖ mit einer ungeschickten Vereinnahmung des verstorbenen Eduard Wallnöfer. Die ÖVP erhielt vier von sieben Landesräten. Problemlos verlief der Einzug der FPÖ und Grünen in die Landesregierung ( Hannes Lugger/ FPÖ und Eva Lichtenberger/ Grüne).
Der bevorstehende EU-Beitritt? war in Tirol mit den Themen Transitverkehr, Zweitwohnsitze und Ausländergrundverkehr besetzt.
Fünf Jahre später stand die Landtagswahl am 7. März 1999 im Schatten der Lawinenunglücke von Galtür und Valzur im Paznauntal. Der Landeshauptmann fungierte als Krisenmanager und war in medialer Dauerpräsenz. Dieser Bonus verhalf zu einem unerwarteten Erfolg. Allerdings war das 19. Mandat mit nur 165 Stimmen abgesichert.
In Innsbruck hatten besonders viele ungültige Stimmen eine Nachzählung durch Einsprüche notwendig gemacht. Die Neuzählung brachten die ÖVP um die absolute Mehrheit. Eine Landesregierung musste erstmals in freien Parteiverhandlungen gebildet werden. Die FPÖ erzielte sieben und die SPÖ acht von 36 Mandaten. Die Grünen erreichte nur drei Mandate.
Angesichts der Forderungen der FPÖ (Haider-Vertraute?) stimmte Weingartner einer Koalition mit der SPÖ mit den Regierungsmitgliedern Fritz Astl, Herbert Prock, Christa Gangl, Wendelin Weingartner, Elisabeth Zanon, Konrad Streiter und Ferdinand Eberle zu.
1.4.5 Modell Autonomie | |
Nah der Streitbeilegung betont Österreich die völkerrechtliche Stellung, Vertrauensstärkung und den Informationsaustausch in grenzüberschreitender Zusammenarbeit von Gebietskörperschaften (vgl. GEHLER 2008, 439-440).
Rom bestätigt den internationalen Charakter der Südtirol-Autonomie? in einem Brief, Außenminister Lamberto Dini benachrichtigte seine Kollegin Benita Ferrero-Waldner? auch über die bevorstehende Verfassungsreform.
Angesichts der unsicheren regierungspolitischen Verhältnisse in Rom war für den Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder es klar, dass es zu keiner Bevormundung und Einmischung von Österreich als "Schutzmacht" kommen darf. Ebenso klar war die Rolle der SVP als dominante politische Kraft und Gestaltungsfaktor.
Im Zuge der italienischen Verfassungsreform im Jahre 2000 profitierte die "Autonome Provinz Bozen" in Form von 90 Prozent der Steuereinnahmen im Lande und wurde damit ein Vorbild für andere Provinzen, die mehr Föderalismus forderten.
International wurde die Autonomie Südtirols ein Modell, wie es sich im April 1999 des Kosovo als Beispiel zeigen könnte.
Gleichwohl wies Staatssekretär Ludwig Steiner darauf hin, dass ein jahrzehntelanges Ringen als Zeitfaktor zu beachten ist, eigene Bedürfnisse zu formulieren und zu verhandeln sind. Die Geschlossenheit einer Volksgruppe ist entscheidend.
1.4.6 Dauerproblem Transit | |
In Tirol als "Land im Gebirge" mit geringen freien Flächen, man denke an die Bedeutung des Inntales, dominierte seit den neunziger Jahren die politische Diskussion über Transit- und Grundverkehr.
Weingartner ging zum Bund und der EU auf Distanz, weil dies seine Begründung in der österreichischen Verkehrspolitik hat.
Eingefordert wurden reale Gestaltungsmöglichkeiten des Bundeslandes. Die Verlagerung des Schwerverkehrs von der Straße auf die Schiene, ein Nachtfahrverbot, der Brennerbasistunnel, Mauteinführungen, Reduzierung des Schadstoffausstoß und die Ausweitung der Brennermaut bis Kufstein stammen aus dieser Epoche einer kontroversiellen Tiroler Verkehrspolitik.
Mit der Zusammenarbeit mit der ÖBB bei der Verlagerung des Schwerverkehrs von der Straße auf die Schiene erfolgte ein bescheidener Teilerfolg. Fritz Gurgiser kritisierte wortgewaltig als Führer der Transitgegner den Zustand.
1.4.7 Der Aufstieg von Herwig van Staa | |
Nach Beendigung des Studiums an der Universität Innsbruck in Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Volkskunde und Soziologie, Promotion zum Dr. phil. und Dr. iur. war er geschäfsführender Gesellschafter in einem Raum- und Sozialforschungsinstitut.
1974 war er Assistent und in der Folge seit 1980 Leiter des Forschungsinstituts für Alpenländische Land- und Forstwirtschaft der Universität Innsbruck sowie seit 1989 ist er Assistenzprofessor.
Bei den Gemeinderatswahlen 1994 trat er als ÖBVP-Mitglied? mit einer eigenen Liste "Für Innsbruck" an, die zweitstärkste Fraktion wurde. Ab 1994 war er Bürgermeister der Landeshauptstadt Innsbruck und wurde 2000 wiedergewählt. Seit 1995 ist er Vizepräsident des Österreichischen Städtebundes. Am 27. Oktober 2001 wurde er zum Landesparteiobmann der Tiroler Volkspartei trotz Zugehörigkeit zu einer Splittergruppe der Volkspartei gewählt.
Am 26. Oktober 2002 wählte ihn der Tiroler Landtag zum Nachfolger von Wendelin Weingartner. Hilde Zach folgt als Bürgermeisterin in Innsbruck. Bei der Landtagswahl 2003 wurde er im Amt des Landeshauptmann bestätigt.
1.4.8 Landtagswahl 2022 | |
Kennzeichnend im Vorfeld der Wahl am 25. September 2022 waren kein Antreten des amtierenden Landeshauptmannes Günther Platter und die Nominierung des Wirtschaftslandesrates Anton Mattle als Spitzenkandidat der ÖVP sowie die Beurteilungen von Meinungsumfragen und möglichen Koalitionen. Im Folgenden wird mit Internethinweisen darauf eingegangen.
Internethinweise:
https://www.msn.com/de-at/nachrichten/inland/dramatische-tiroler-wahl-im-zeichen-von-övp-abstiegskampf/ar-AA10q70Y?ocid=msedgdhp&pc=U531&cvid=09d87f24639548bba6c7eb0e2a855c9d (8.8.2022)
https://www.msn.com/de-at/nachrichten/inland/tirols-övp-wahlkampfleiter-rechnet-nicht-mit-35-prozent/ar-AA10CUUg?ocid=msedgdhp&pc=U531&cvid=e533dbb279f7442a81ba8b2133c36941 (14.8.2022)
https://tirol.orf.at/stories/3169270/ (16.8.2022)
Zur Wahl selbst wird aus Gründen einer mangelnden Distanz zum Ereignis nicht eingegangen.
Politische Bildung beruht auf einem Entwicklungsprozess in Lehre und Lernen.
Gegenstand sind Aspekte eines solchen Entwicklungsprozesses in einem didaktisierten Bildungsverlauf, der im Zeitpunkt der Manuskripterstellung nicht gegeben sein konnte.
2 Wanderbewegungen in Tirol | |
Ein Blick in die Geschichte weist auch auf erzwungene Auswanderung aus religiösen Gründen hin (vgl. STÖGER 2002, 135-165; SCHLACHTA 2006; SCHREIBER 2008, 231-236).
Für die Politische Bildung sind sozio-kulturell-religiöse Bewegungen und Phänomene von Migration und Flucht bedeutungsvoll.
2.1 Die Hutterer | |
Jakob Huter, geboren um 1500 im Weiler Moos bei St. Lorenzen im Pustertal, lernte das Hutmachergewerbe und ging auf Wanderschaft. In dieser Zeit setzte er sich mit den Lehren der Wiedertäufer auseinander.
Die Lehren Martin Luthers fanden Gefallen. Bezweifelt wurden die Priesterhierarchie, kirchliche und staatliche Autorität und die Kindertaufe. Grundsatz war für das Zusammenleben die Heilige Schrift.
Im Sinne des allgemeine Priestertums brauchte es Verkünder der Lehre, gewählt im Sinne des Urchristentums.
Die Gütergemeinschaft entstand als Reaktion auf den Frühkapitalismus.
2.1.1 Lehre der Reformation | |
In Tirol war der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit auch spannungsreich. Die Lehren der Reformation verbreiteten sich durch die knappen in Tirol und Sachsen in die Tiroler Täler. Einer der ersten Prediger war Jakob Strauß, ehe nach Hall kam, wird von ihm von einer Ansprache in Schwaz berichtet (vgl. STÖGER 2002, 137; SCHLACHTA 2006, 18).
1525 ist Jakob Huter zur Schweizer Wiedertäufergemeinschaft gestoßen. Die erste Gemeinde war Welsberg (Pustertal). Anziehend wirkte der einfache Glaube und die Orientierung des Lebens nach der Heiligen Schrift.
Anhänger waren vor allem einfache Leute. Lebendige Gemeinschaften entwickelten sich im Pustertal, im Raum Sterzing und in Rattenberg (Bergrichter Pilgram Marbeck).
Beim Ruf nach einer neuen öffentlichen Ordnung wurden die Hutterer auch in Tirol als Aufwiegler behandelt. Karl V. führte 1529 für die Taufe Erwachsener die Todesstrafe ein. Ferdinand I. als Landesherr ließ Hunderte der Anhänger hinrichten. Michael Kürschner, ehemaliger Gerichtsschreiber von Völs, wurde 1529 in Kitzbühel verbrannt (vgl. STÖGER 2002, 138)
2.1.2 Flucht - Verfolgung | |
In der Folge kam es zur Flucht zahlreicher Anhänger mit Jakob Huter nach Südmähren mit der Errichtung von Bruderhöfen. 1529 kam es zur Gründung einer Tiroler Täufergemeinde in Austerlitz (vgl. SCHLACHTA 2006, 25). Ab 1529 sind fast 6000 Hutterer sind aus Tirol ausgewandert.
Eine radikale Ausrichtung ähnlich Thomas Müntzer fand in Tirol keine Anhänger (vgl. STÖGER 2002, 138).
1533 wurde Jakob Huter Oberhaupt der Gemeinschaft auch der Anhänger in Süd- und Mitteldeutschland (vgl. SCHLACHTA 2006, 25). Kurz danach wurde auch in Mähren das Leben gefährlich, Verfolgungen begannen und Fluchten folgten.
1535 wurde Jakob Huter in Klausen verhaftet, in Innsbruck im Kräuterturm eingesperrt und am 25. Februar 1536 vor dem Goldenen Dachl vor einer großen Menge am Scheiterhaufen verbrannt. In Tirol dürften über 600 Hutterer hingerichtet worden sein (vgl. STÖGER 2002, 139; SCHLACHTA 2006, 33).
Seit dem Tod Jakob Huters nannten sich die Wiedertäufer "Huterische Brüder". Nach einer Blütezeit in Mähren gab es wieder Anzeichen einer Verfolgung. 1621/1622 wurden die Hutterer aus Mähren verjagt. Viele zogen in die Slowakei, nach Ungarn und Transsilvanien. Ab Mitte dem 18. Jahrhundert erfolgten durch Jesuiten Zwangstaufen, Fluchtbewegungen folgten in die Walachei.
2.1.3 Auswanderung | |
Zarin Katharina II. lud die Heimatlosen in ihr Reich ein, wo sie mit den Mennoniten an der Desna (1770-1842) und auf der Krim (1842-1873) Gemeinden gründeten. Unter Zar Alexander II. begannen wieder Verfolgungen.
1874 kam es zur Einwanderung nach Kanada und in die USA (vgl. STÖGER 2002, 140-141; SCHLACHTA 2006, 141-160). Heute gibt es 219 Gemeinden, in Manitoba 72, British Columbia 1, in Alberta/ Rocky Mountains 107 und Saskatchewan 39. Von Kanada wanderten viele in die USA aus.
Mit dem Schiff "Harmonia" erreichten 1874 113 Hutterer die USA. In der Folge siedelten sich viele in den Jahren in South-Dakota?, North-Dakota?, Missouri, Washington, Montana und Minnesota an. Insgesamt leben in Nordamerika rund 25 000 Hutter, verstreut in über 300 und abgelegenen Siedlungen. Weitere Siedlungen gibt es in England (Sussex), in Villingen (Deutschland) und in Japan/ "Owa - Gemeinde" (vgl. SCHLACHTA 2006, 199).
2.1.4 Gemeindeleben | |
Die Gemeinden haben als Kennzeichen gemeinsamen Besitz (urchristliche Idee), gemeinsames Essen (ohne Vorsteher), Ausrichtung nach der Heiligen Schrift, Kirchensprache Deutsch, kein kirchlicher Prunk und Heiligenverehrung, Andachts- und Schulraum ein Raum im Hauptgebäude.
Der Eintritt in die Gemeinschaft beginnt mit der Taufe, die Entscheidung ist autonom und zumeist zwischen 16 und 20 Jahren.
Traditionell ist die Kleidung für Männer schwarze Hose und Jacke, für Frauen Kopftücher und Mädchen kleine Hauben. TV, Radio und Musikinstrumente sind verpönt. Der Wehrdienst widerspricht dem Glauben, es gibt ein Alkoholverbot.
Der Unterricht ist zweisprachig englisch und deutsch (ein Reflex aus 450 Jahre Wanderungen, Vertreibungen und Migration). Einen besonderen Stellenwert besitzt die religiöse Unterweisung mit Schwerpunkt sozialem Lernen. Noten und Zeugnisse sind nicht üblich.
Zwischen zwei und fünf Jahren besucht das Kind eine Ganztagseinrichtung, nach acht Jahren Schulbesuch ist eine Arbeitsstelle garantiert. Danach sollen mehrere Handwerksberufe erlernt werden, ein Studium ist nicht erlaubt. Der Schulbetrieb hat seine Grundlage in einer Schul-Ordnung? aus dem Jahre 1568 (vgl. STÖGER 2002, 143-145).
Die Familienstruktur ist sehr stabil. Die Meinung der Alten wird gehört. Die Bruderhöfe sind als eine Erweiterung der Familie zu sehen. Bei Teilung der Brudergemeinschaften, werden Familien nicht zerrissen. Ämter wie Prediger und wichtige Handwerker oder Deutschlehrer werden gewählt. Die Kinderzahl ist groß.
In Tirol konnten die Hutterer ihren Glauben nicht in das 20. Jahrhundert retten. Verfolgung, Vertreibung, Auswanderung, Todesstrafen und die Gegenreformation waren ausschlaggebend. Dies gehört zu den dunklen Seiten der Geschichte des Landes (vgl. STÖGER 2002, 147).
2.2 Deferegger Protestanten | |
Viele Einwohner suchten ihr Glück im Wandergewerbe. Die herumziehenden Handwerker, Händler und auch Bergknappen verbreiteten die Lehren Luthers in den Tälern.
Viele Deferegger mussten ihre Heimat verlassen ("Wessen das Land ist, dessen ist die Religion"). Vor 1685 lebten ungefähr 3000 Einwohner im Tal.
Bis 1720 wurde rund ein Drittel des Tales ausgewiesen, St. Veit hatte die Hälfte seiner Bewohner verloren (vgl. STÖGER 2002, 149).
Von Interesse in der Schulgeschichte ist, dass vor über 300 Jahren ein Großteil der Bewohner mit Hilfe der Lutherbibel das Schreiben und das Lesen erlernten. Durch das Ausweisen wurde die Motivation für das schulische Geschehen stark beeinträchtigt.
2.3 Zillertaler Inklinanten | |
Protestantismus am Beginn der Reformation kommt in das Zillertal mit den Bergknappen in Schwaz und Wanderhändlern, die in das Tal kommen.
Im Unterinntal wird 1521 schon in Hall ein Prediger beurkundet.
Die Forderung nach Gerechtigkeit, getragen vom religiösen Engagement, beginnt mit dem Bewusstsein der Ausbeutung weiter Bevölkerungsteile durch den Niedergang
des Bergbaues und der Bauernaufstände. Nach einer Verbreitung im Untergrund, in der Folge offenen Bekenntnisses, lehnte man sich gegen die Obrigkeit und damit katholische Kirche auf. Die Reaktion auf die Reformation und Bauernaufstände war die sogenannte Gegenreformation.
2.3.1 Zillertaler Protestanten | |
Im Zillertal widersetzten sich Protestanten, zunächst im Lesen reformatorischer Schriften und Bücher, mitgebracht durch Viehhändler und Wanderhändler, die auch in protestantische Regionen bis nach Hamburg und Amsterdam mit Zillertaler-Handelsniederlassungen? kamen. Heimliche Versammlungen gab es auf entlegenen Bauernhöfen. Die Ausrichtung auf die Lehre war uneinheitlich im Augsburger Bekenntnis und Helvetischen Bekenntnis. Um den Klerus war es nicht gut bestellt, wenig eifrig und glaubensstark (vgl. STÖGER 2002, 151).
Zillertaler Protestanten erhielten Besuch durch Glaubensbrüder, Studenten und Handwerker, die die Inklinanten im Glauben bestärkten.
2.3.2 Toleranzpatent | |
Am 13. Oktober 1781 erließ Kaiser Josef II. das "Toleranzpatent", ein Gesetz neuer Kirchenpolitik. Protestanten und Griechisch-Orthodoxe? erhielten das Recht auf freie Religionsausübung, es folgen Angehörige jüdischen Glaubens 1782.
Ursprünglich 1781 haben sich nur fünf Prozent offen für die evangelische Religion bekannt. 1830 gab es auch zwischen 10 und 12 Inklinanten in Hippach, 6 in Mayrhofen und 20 in Zell/ Ziller. In der Folge war das Zentrum das hintere Zillertal. Das vordere Tal blieb unberührt.
1832 erfolgte der Antrag auf Errichtung einer eigenen Kultusgemeinde. Mit dem juristischen Kniff, durch die bayerische Herrschaft in den Napoleonischen Kriegen, sei das Toleranzpatent in Tirol ungültig geworden, bedürfe es einer neuen Proklamierung. Am 4. März 1832 wurde erklärt, dass das Patent für alle Provinzen der Monarchie seine Gültigkeit habe. Am 30. Juni 1832 reichten Johann Fleidl, Christian Brugger und Bartholomäus Heim bei Kaiser Franz I. ein Bittgesuch mit vier zentralen Punkten ein (vgl. STÖGER 2002, 153),
- kein Gewissenszwang, keine Schmähung.
- Freiheit bei einer Eheverbindung,
- Freiheit bei Geschäftsabschlüssen außerhalb der Gemeinde, Heimatgericht und
- Erlaubnis zur einmalig jährlichen Einreise eines Geistlichen ("Pastors") zur Abendmahlfeier.
Mit 500 Bekennenden zum protestantischen Glauben, konnte eine eigene Kirchengemeinde gegründet werden. Die Zahl wurde knapp durch Drohungen verfehlt. Am 4. Juli 1830 beantragte Fürsterzbischof Augustin Gruber/ Salzburg beim Tiroler Gubernium die Aussiedelung in ein Provinzen, wo akatholische Gotteshäuser und Pastoren sind. Erstmals wurde vor den Tiroler Landtag am 24. April 1833 die Problematik im Zillertal gebracht. Kaiser Franz I. hatte sich am 2. April 1834 der Auffassung des Salzburger Erzbischofs angeschlossen.
Nach gespanntem Warten und Überprüfung durch den Landrichter Dietl von Zell, blieb es beim Verbot ein Bethaus zu errichten, öffentliche Gespräche über den Glauben zu führen und der Verweigerung der Eheerlaubnis und katholischer Begräbnisse. Als die Inklinanten ihre Bitten nicht zurückstuften und sogar ausbauten, kam es zum Verdacht "Sektierer" zu ein. Auf diese war das Toleranzpatent ohnehin nicht anwendbar (vgl. STÖGER 2002, 155).
Am 26. November 1835 wurde eine Kundmachung des Landesguberniums für das Zillertal zum Vollzug von Verwaltungsmaßnahmen angeordnet. Im Hinblick auf die Unerreichbarkeit der Wünsche wurde die Erteilung von Reisepapieren zur Erkundung einer Aussiedelung in Bayern und Preußen beantragt.
2.3.3 Emigrationsedikt 1837 | |
Ferdinand I. ("der Gütige") gab der Entschließung des Tiroler Landtages nach, 436 Zillertaler Augsburger Bekenntnisses aus dem Land zu verweisen (Emigrationsedikt vom 12. Jänner 1837).
Binnen 14 Tagen hatten sich die Inklinanten endgültig zu deklarieren. Wer keine Erklärung abgab, sollte als Katholik gelten. Die Bekennenden konnten nach einem sechswöchentlichem Religionsunterricht und einer anschließenden viermonatigen Frist, für die Auswanderungs- und Übersiedelungstätigkeiten, das Land verlassen. Die Zwangsbelehrung rief Widerstand vor.
In der Phase der Restauration 1848 kehrten nur sieben Inklinanten zum katholischen Glauben zurück. 393 entschieden sich für die Auswanderung ( vgl. STÖGER 2002, 157-158).
2.3.4 Auswanderung | |
In einem Brief an den preußischen König Wilhelm III. vom 27. Mai 1837 vom Wortführer Johann Fleidl unterzeichnet wurde von der Ausgangssituation und Bitte um Einwanderung gesprochen (vgl. ausführlich STÖGER 2002, 158-160). Am 20. Juli 1837 erhielt man die Zusicherung, sich in Preußen/ Schlesien niederlassen zu dürfen. 34 Gehöfte wurden gegründet, der Großteil in Erdmannsdorf und sechs in Seidersdorf. Die Alternative wäre vermutlich Siebenbürgen gewesen.
56 Jahre nach dem Toleranzpatent zogen zwischen dem 31. August und 4. September 1837 in vier Auswanderzügen 427 Zillertaler aus ihrer Heimat, 11 nach Kärnten und in die Steiermark, 416 nach Oberschlesien. In der Nähe von Hippach stehen noch heute die drei Linden, wo sich die Auswanderer zu ihrem Auszug fanden.
Etliche der Inklinanten in Preußen wanderten 1838 nach Bayern, Polen und Australien. 55 Zillertaler zogen nach Chile (vgl. STÖGER 2002, 163).
Die Aussiedler lebten in der Folge hauptsächlich von der Milchwirtschaft, betrieben Gartenarbeit und errichteten eine große Flachsgarnspinnerei. 1940 lebten noch dort 3000 Einwohner. 1945 mussten die Tiroler wieder ihre Heimat verlassen, das Tiroler Dorf wurde Polen angegliedert.
2.3.5 Schlussbemerkung | |
Noch 1866 hat der Tiroler Landtag ein Gesetz beschlossen, dass die Errichtung einer Evangelischen Kirchengemeinde an die Zustimmung der Behörden bindet. 1875 wurde das Landesgesetz von der kaiserlichen Regierung für ungültig erklärt. 94 Jahre hat es gedauert, bis das Toleranzpatent Joseph II. in Tirol politisch durchsetzbar war (vgl. STÖGER 2002, 164).
1987 wurde am Dorfplatz in Stumm Felix Mitterers Stück "Verlorene Heimat" in Anwesenheit von Nachfahren von Auswanderern gespielt.
2.4 Jenische | |
Benannt auch als Karner, Törcher und Lanninger waren und sind es verarmte Landsleute ("Karner" von Karrenziehen mit ihrem Hab und Gut). Die Wanderschaft begann meist im Frühjahr (vgl. SCHREIBER 2008, 234) .
2.4.1 Wanderrouten | |
Größere Wanderrouten waren von Telfs, Mötz, Haiming nach Nasserreith und Reutte. Hier zweigten sich die Wege nach Bayern und Württemberg/ Schwaben. Eine Route war auch über den Arlberg nach Bludenz und in Richtung Bodensee. Gearbeitet wurde dort in saisonaler Arbeit zumeist als Holzfäller, Flößer, Käser, Kupferschmiede und Glasarbeiter.
In Tirol zog man vor allem in der Inntalfurche umher. Als Landfahrer traten Vorurteile auf, gesellschaftlich stand man am Rande (vgl. STÖGER 2002, 179-180). Sie flickten Pfannen und Regenschirme, waren Messerschleifer und Hausierer, Taglöhner und Besenbinder. Beliebt war der Tauschhandel. Gelagert wurde gern auf Plätzen außerhalb von Orten, auch in Höhlen. Einen regelmäßigen Schulbesuch der Kinder gab es nicht.
Die Jenischen aus dem Vinschgau kamen überwiegend aus Stilfs, Prad, Tartsch und Laatsch (vgl. JENEWEIN 2008, 22-31).
Gründe waren hier die Verarmung (vgl. STÖGER 2002, 183). Der wirtschaftliche Status ergibt gewisse Parallelen zu "Gastarbeitern".
Die mitteleuropäische Herkunft der Jenischen weist auf kein eigenes Volk und keinen Stamm. Zum eigenen Schutz entwickelte man eine eigene (Misch-)Sprache und sippenähnliche Normen. In Diskussion ist eine Anerkennung als eigene Volksgruppe.
Der Name "Jenische" ist hauptsächlich in der Schweiz gebräuchlich. Hier sind sie in einem Dachverband zusammengeschlossen. Pro Juventute hat in der Schweiz hat zwischen 1927 und 1972 über 700 Kinder den jenischen Familien entrissen und in Heime gebracht.
Nennenswerte Ansätze gibt es auf literarischem Gebiet bei Romed MUNGENAST, der die Kultur der Jenischen pflegt. Waltraud KREIDL hat in "Erziehung heute" Nr. 4/ 1990 einen Themenschwerpunkt gesetzt.
Herbert JENEWEIN hat im "Der Schlern" Nr. 7/ 2008 sich mit dem überholten Bild der Karrner im Obervintschgau auseinandergesetzt.
2.5 Sinti und Roma | |
Weltweit leben rund acht Millionen Roma und Sinti. Die Hälfte lebt in Europa. Neben der Bewahrung der Identität und Eigenständigkeit ist es eine Geschichte der Verfolgung und eines Unverständnisses. Zwang zur Sesshaftwerdung und Assimilation sind Kennzeichen der Versuche der Mehrheit (vgl. STÖGER 2002, 194; SCHREIBER 2008, 231).
Das Beispiel der Minderheiten weist gut darauf hin, dass das koloniale Mechanismus auch innerhalb von Machtbereichen wirkt. Kolonialismus und Rassismus sind ein strukturelles Prinzip von Mehrheiten gegenüber Minderheiten einschließlich aktueller Globalisierungstendenzen.
2.5.1 Leidensweg | |
Kaiser Maximilian wies 1500 alle Roma und Sinti aus dem Deutschen Reich. Vogelfrei war jeder, der bis zum Osterfest 1501 nicht das Land verlassen hatte (vgl. STÖGER 2002, 195).
Der Leidensweg der Roma und Sinti wurde auch in Tirol einem Verdrängungsprozess unterworfen. In Tirol darüber zu sprechen, heißt auch über die NS-Zeit? zu sprechen. Die Verfolgungsgeschichte ist nicht weniger dramatisch als die der Juden. Die einzelnen Schritte der systematischen Verfolgungsgeschichte führt STÖGER (2002, 196) an.
Der "Zigeunererlass" vom 8. Dezember 1938 ordnet die Registrierung der Roma und Sinti für den Erkennungsdienst in Form einer "rassenbiologischen Untersuchung". Der 1939 gegebene "Umsiedelungserlass" für ca. 30 000 Roma und Sinti zur Deportation nach Polen wurde durch den Kriegsbeginn nicht durchgeführt. Umgesetzt wurden die Transporte in die Konzentrationslager.
1938 leben in Österreich rund 8 000 Roma und 3 000 Sinte. Der zentralen Inhaftierung beim Anschluss Österreichs diente das Sammellager in Hopfgarten im Brixental. Bald folgten die Transporte nach Dachau und Ravensbrück. In Auschwitz waren zwischen dem 31. März 1943 und dem 22. Jänner 1944 3 923 österreichische Roma und Sinti inhaftiert, 42 Prozent davon waren Kinder (vgl. STÖGER 2002, 197).
Mit der Errichtung eines polizeilichen Durchgangslagers in Bozen wurden ab Sommer 1944 auch Roma und Sinti interniert. Als Sammellager waren kurzfristige Anhaltrungen geplant. Allerdings wurden bald die Internierten in die Vernichtungslager abgeschoben.
Im Herbst 1940 wurden in Lackenbach im Mittelburgenland über 4 000 Roma und Sinti eingeliefert und in Salzburg/ Maxglan rund 300 Insassen eingesperrt. Gegen Kriegsende kamen die Insassen nach Birkenau (Auschwitz). Ein drittes Lager war in Weyer/ Oberösterreich mit 350 Internierten (vgl. STÖGER 2002, 198-199).
Am 16. 12. 1942 kommt der "Auschwitz- Erlass" für die Roma und Sinti. "Durchführungsbestimmungen" erfolgen am 29. Jänner 1943. Mit den Transporten nach Osten werden die Lager aufgelassen, lediglich eine kleine Belegschaft bleibt in Lackenbach bis Kriegsende. Die Lagerbedingungen waren katastrophal, Epidemien brachen aus (vgl. DLUGOBORSKI 1993, 14).
Die zweibändige Dokumentation über 23 000 Personen im "Zigeunerlager" Birkenau erschien 1993 mit dem Titel "Gedenkbuch: Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau?" mit einer Einleitung von Waclaw DLUGOBORSKI.
Mehr als die Hälfte der 8 000 Burgenland-Roma? und rund 3 000 Sinti, die bis 1938 in Österreich lebten, haben die Verfolgung nicht überlebt.
2.5.2 Einstellung und Entwicklung nach 1945 | |
Nach 1945 blieb die Einstellung gegenüber den vernichteten Minderheiten bei vielen gleich. Dazu zählten und zählen auch die Tiroler Sinti und Roma. Erst in den sechziger Jahren wurden Wiedergutmachungsrenten eingeräumt. Das Unrechtsbewusstsein scheint erst aktuell größer zu werden (vgl. STÖGER 2002, 202).
Die Vorurteile gegenüber Minderheiten haben mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches nicht aufgehört. Im Vordergrund stand der Wiederaufbau. Da blieb für eine pädagogische Aufgabenstellung kein Platz. Erst mit einer Politische Bildung wurde/ wird Bewusstseinsbildung relevant (vgl. Kap. 3).
Die meisten Sinti Tirols leben im Talkessel von Bozen, in Bozen zwischen 260 und 280, in Meran 33, in Brixen 40, in Eppan 11 Sinti. Insgesamt dürfte aktuell es zwischen 350 und 360 Sinti in Südtirol geben. Sie sind Einheimische seit langer Zeit und besitzen die italienische Staatsbürgerschaft. Dazu kommen im Raum Bozen rund 400 Roma-Flüchtlinge? aus Ex-Jugoslawien? (vgl. STÖGER 2002, 203-204).
Im Bemühen um Gerechtigkeit, Selbstbewusstsein und Anerkennung entstanden bemerkenswerte Solidaritätsgruppen. Sozialminister Rudolf Dallinger zeigte sich für die Anliegen der Roma offen. 1993 erfolgte die Anerkennung der Roma als sechste österreichische Volksgruppe neben Kroaten, Slowenen, Tschechen, Slowaken und Ungarn.
2.6 Juden | |
Die Geschichte des Landes und Aspekte einer Politischen Bildung betrifft nicht nur die Mehrheitstiroler - deutschsprachige und katholische - auch die Minderheiten, etwa protestantische und jüdische Minderheiten (vgl. die Bedeutung von Interkulturalität/ kulturell-religiöse Kompetenz).
2.6.1 Geschichte einer Minderheit | |
Die Geschichte des Landes Tirol beinhaltet auch eine jüdische Geschichte. Dies wird nicht immer verstanden. Ein Beispiel ist der Wiederaufbau der Synagoge in Innsbruck (vgl. STROBL 1995, 20).
Den jüdischen Teil an der Geschichte verleugnen, heißt eine verfälschte Darstellung geben.
- Ein Beispiel dafür ist der einzige Anwalt, der Andreas Hofer mit Nachdruck verteidigte und keine Bezahlung dafür annahm, ein Jude war, Dr. Gioaccchino BASEVI (vgl. STÖGER 2002, 216).
- Verschwiegen wird auch gerne als Innsbruck im April 1809 für kurze Zeit zurückerobert wurde, für den weiteren Befreiungskampf fünf Wohnungen und drei Geschäfte von Juden geplündert wurden (vgl. PETERLINI 1986, 9; STÖGER 2002, 216).
Jüdische Bürger besorgten für die Landesfürsten die Zolleinnahmen und die Verwaltung der Münzstätten.
- Die Zunftsordnungen und das Zinsnehmungsverbot für Christen brachten es mit sich, dass Juden oft im Handel und Transitgeschäften tätig waren.
- Ab dem 14. Jahrhundert erhielten diese Berufe mehr Bedeutung.
Jüdische Siedlungen gibt es schon früh in Innsbruck, Meran, Bozen, Brixen, Bruneck, Lienz, Rattenberg, in Roveretto und Trient (vgl. KÖFLER 1988, 169).
2.6.2 Verfolgung | |
Vorwände für Verfolgungen sind die Pest (1348-1349, Vergiftung von Brunnen), Ritualmorde (Judenstein bei Rinn) und Hostienfrevel (vgl. STÖGER 2002, 217-218).
1496 erfolgte eine stärkere Einwanderung aus Kärnten und der Steiermark durch eine Vertreibung von Kaiser Maximilian mit der Begründung von Hostienschändung, Kindermarterung und Tötung (vgl. PINZER 1986, 8). Diskriminierungen waren in der Folge eine drückende Judensteuer, hoher Leibzoll und gelber Fleck an der Kleidung (vgl. STÖGER 2002, 219).
Wirtschaftliche Neidgefühle und Juden als Gottesmörder bildeten die Grundlage für Überfälle auf Juden als Sündeböcke in Zeiten der Krise und des Niederganges. 1525 im Jahr der Bauernaufstände kam es zu Überfällen von unterdrückten Bauern (vgl. PETERLINI 1986, 9).
In der von Ferdinand II. 1574 erlassenen Polizei- und Sittenordnung gibt es eine Kleiderordnung mit inem gelben Ring an den "Ober-Röcken?" auf der linken Seite (vgl. HARB-KÖLL-MELICHAR-PLATTNER? 1996, 106).
Das Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 brachte bürgerliche Gleichberechtigung und damit Niederlassungsfreiheit. Der Bahnausbau in der Monarchie brachte in der Folge mit dem größeren Bahnnetz eine stärkere Mobilität.
Es bildeten sich Gruppen mit Juden der "Zweiten Generation" aus Wien, Ungarn, Böhmen, Mähren und Galizien. Im Zuge der Bahnbautätigkeiten kamen jüdische Staatsbahnbedienstete nach Innsbruck (vgl. ACHRAINER - HOFINGER 1996, 30).
1880 lebten 109 Juden in Tirol, 70 davon in Innsbruck. Schon 1890 hatte die jüdische Gemeinde 163 Mitglieder in Innsbruck und das Anrecht auf Gründung einer eigenen Kultusgemeinde. Bis 1892 war Innsbruck eine Filiale der Kultusgemeinde Hohenems. Eine jüdische Privatschule (ohne Öffentlichkeitsrecht) wurde am 5. Februar 1892 eröffnet.
Einen eigene Kultusgemeinde in Innsbruck wurde erst 1914 anerkannt.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa ab 1885 entwickelte sich ein "moderner" Antisemitismus. Erkennbar war dies in Zeitungen (vgl. beispielhaft STEURER 1986, 43).
ACHRAINER-HOFINGER? (1996, 30-31) beschreiben die Situation, antijüdische Einstellungen waren selbstverständlich. Dabei hatten einige Innsbrucker Juden Aufnahme und Anerkennung in liberalen Organisationsformen wie der Kaufmannschaft, dem Turn- und Verschönerungsverein sowie der Akademischen Sängerschaft gefunden. 1910 war der Höchststand jüdischer Bevölkerung mit rund 1624 Juden (damals 0,2 Prozent der Bevölkerung Tirols).
Die demographische Bewegung der Monarchie zeigte sich im Zuzug nach Tirol (vgl. STÖGER 2002, 224). Nach dem Ersten Weltkrieg bekannten sich 1934 nur mehr 365 Personen (0,1 Prozent der Bevölkerung) zur Israelitischen Kultusgemeinde (vgl. KÖFLER 1984, 420).
Rückblickend war einer der Höhepunkte antisemitischer Propaganda das Jahr 1889. Die kandidierende Gruppe für den Landtag "Christlicher Mittelstand" gab ein antisemitisches Flugblatt mit Warnung der Eltern für ihre Kinder, vor rituellen Morden, Körperverletzungen und Blutabnahmen ("Blutabzapfungen") heraus (vgl. STEURER 1986, 45; STÖGER 2002, 226).
1919 gab es in Innsbruck eine örtliche Gruppe von 50 mittelständischen Mitgliedern der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiter-Partei?/ NSDAP.
- Erst 1923 kam ein Kandidat in den Gemeinderat.
- Innerhalb der Flügel der Bewegung - Gewerkschaftsflügel "Die Gelben", Wehrverband, Schulzgruppe und "Hitlerbewegung " - war die Südtirol-Frage? ein Streitpunkt (vgl. HARB-KÖLL-MELICHAR-PLATTNER? 1996, 206).
- 1920 kam Hitler nach Innsbruck, um zu den Gelben zu sprechen.
Eine unrühmliche Rolle spielte der Führer der Tiroler Heimwehr Dr. Richard Steidle. Er forderte die Trennung des deutschen und jüdischen Volkstums (vgl. STÖGER 2002, 227).
Im Antisemitenbund gegründet 1919 - Leiter war der spätere Landwirtschaftsminister Andreas Thaler aus der Wildschönau - waren Anhänger christlichsoziale, deutschnationale Politiker und Sympathisanten, Burschenschaftler, Turnbündler und Mitglieder vom Bauernbund. Im Forderungskatalog an die Tiroler Landesregierung stand, dass jener als Jude zu gelten habe, der auch nur einen jüdischen Urgroßelternteil hatte (vgl. PINZER 1986. 12). Die Forderungen wurden zur Seite gelegt.
Die zwanziger Jahre mit ihrem politischen Klima förderten den Antisemitismus, kennzeichnend der Zulauf zum Antisemitismusbund, die Rolle deutsch-völkischer Turn., Sport- und Gesangsvereine. Man beachte das 5. Deutsche Turnbundfest mit rund 2 000 Teilnehmern in Innsbruck mit seinem Festplakat eines germanischen Turners mit deutscher Fahne, im Hintergrund sind Stadtturm, der Dom St. Jakob und die Nordkette (vgl. STÖGER 2002, 229).
Der Volksdichter Sebastian Rieger ("Reimmichl") ist ein Beispiel für die Selbstverständlichkeit antisemitischen Gedankengutes mit seiner Klage im Jahr 1900, Österreich als Heimstätte des ungläubigen Volkes der Juden (vgl. PETERLINI 1986, 9).
Fünf Tage vor der am 10. April 1938 angesetzten Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zum Deutschen Reich (Wahlbeteiligung 99,57 Prozent, Anschluss-Stimmen? 99,3 Prozent) zog Hitler in Innsbruck ein. Die Ursachen des Erfolges liegen im sozialen, religiösen und pädagogischen Umfeld. Tirol war damals stark im Tourismus auf Deutschland orientiert, die 1000 Mark-Sperre? traf voll den Fremdenverkehr und ergab eine hohe Zahl von Arbeitslosen (vgl. STÖGER 2002, 233-234).
Nach heutigem Stand einer Antisemitimusforschung im Kontext der Politischen Bildung wird von einer Resisdenz gegen
- logische Einwände gegen Argumente,
- Herstellung von Vorurteilen,
- einer Unkenntnis eines Judentums und
- Vermengung religiöser Unkenntnis ausgegangen.
Ein pädagogischer Auftrag in den schulischen Fachbereichen Geschichte - Sozialkunde - Politische Bildung, Religion und Ethik ist gegeben.
Außerschulisch ist zudem der tertiäre und quartäre Bildungsbereich herausgefordert (vgl. BRUMLIK 2020, GRIMM-MÜLLER? 2021).
3 Minderheit in Tirol - Protestanten | |
"Das Aufkommen von Reformation und Protestantismus in Tirol war keine ruhige Angelegenheit. Im Gegenteil, die reformatorischen Ideen regten sich sofort und unmittelbar nach dem Öffentlichwerden von Luthers Kirchenkritik, sie äußerten sich zugleich mit dem Erscheinen seiner und der anderen Reformatoren Hauptschriften, die damals Mitteleuropa mit ihren Reformideen lawinenartig überschwemmten. Selbst im europäischen Vergleich traten die reformatorischen Gedanken sehr früh und mit besonderer Heftigkeit auf. Es ist zwar kaum einer breiten Öffentlichkeit bekannt, aber es ist eine Tatsache: Tirol stellt darin eines der interessantesten Gebiete der frühen Reformation im damaligen Europa dar - wie dies auch jetzt die neue schöne Kirchengschichte Tirols von Josef Gelmi zu Recht darlegt (LEEB 2001, 227, GELMI 2001, 135).
Bei aller Frömmigkeit gab es in der Kirche strukturelle Schwächen. Zahlreiche Klagen belegten dies. Die Kirche als Mittlerin des Heils war unglaubwürdig geworden. Ablasswesen, Reliquienkult, Dispens, Privilegien und Wallfahrten ließen Gläubige Missstände im Klerus erleben. Zuverdienste waren Geistrlichen oftmals wichtiger als seelsorgerliches Wirken ("Mehr Wirt als Hirt"). Es entstand ein regelrechter Hass auf den Klerus (vgl. GOERZ 1995).
3.1 Evangelische Bewegung im 16. Jahrhundert - Täufertum | |
Es überrascht keineswegs, dass vor diesem Hintergrund der erste reformatorische Prediger von Hall Jakob Strauß 1522 großes Aufsehen verursachte und Zulauf gewann. Strauß war kein Einzelfall. Luthers Reformvorschläge Vorschläge waren mit den Gedanken des allgemeinen Priestertums (Gleichberechtigung im geistlichen Sinne und Selbstregelung kirchlicher Angelegenheiten) und der Außerkraftsetzung der Leistungsfrömmigkeit (Gnade als Geschenk Gottes ohne Bezahlung) in Verbindung mit einem kirchenkritischen Biblizismus attraktiv geworden (vgl.im Folgenden DICHATSCHEK 2007, 7-11).
Es entstand in Tirol - insbesondere in den internationalen Zentren des Bergbaues - Schwaz, Hall und Rattenberg - spontan eine evangelische Bewegung von unten aus der Bevölkerung heraus. Allerdings wurden im Unterschied zu anderen österreichischen Ländern diese reformatorischen Aktivitäten von Beginn an entschlossen bekämpft.
"Tirol war als Zentrum des Bergbaues aus finanzpolitischen Gründen so wichtig, dass jede Regelung in den dem Landesherren unterstehenden Städten unterdrückt wurde. Zudem besaß der Tiroler Adel im Vergleich zu den Städten in den anderen habsburgischen Ländern keine vergleichbaren Machtpositionen, sodass sich auch hier kein nachhaltiger politischer Rückhalt für die evangelische Bewegung bilden konnte" (LEEB 2001, 228).
Auf Grund der repressiven Maßnahmen darf man vermuten, dass der radikale Flügel der Reformation in Tirol gestärkt wurde. In diesem Umfeld einer sozial und religiös aufständischen Bewegung, in Verbindung mit Bauernaufständen, entstand die Täuferbewegung. Die abgeschlossenen Täler waren ein europäisches Zentrum von Täufern, wobei das Tiroler Täufertum eine pazifistische Haltung einnahm (vgl. MECENSEFFY 1975, 20). Hunderte männliche und weibliche Täufer wurden grausam verfolgt -verbrannt, gehenkt, enthauptet und ertränkt. Es gab Massenhinrichtungen. Ergreifende Geschichten solcher Hinrichtungen sind dokumentiert (vgl. MECENSEFFY 1975, 21). Als in Kitzbühel zwei Täufer hingerichtet werden sollten, rief jemand aus der Menge. "Ei wie fein lassen eure Hirten und Lehrer das Leben für euch" (zur Stärke des Luthertums im Raum Kitzbühel LEEB-LIEBERMANN-SCHEIBELREITER-TROPPER? 2003, 215).
Heimliche Auswanderungen bis nach Mähren in die Nähe von Nikolsburg begannen. Der Pustertaler Jakob Huter ("Hutter") wurde Führer jener Gruppe, die später als Hutterer bezeichnet wurden. Bei seiner Rückkehr in die Heimat wurde Huter festgenommen und 1536 in Innsbruck verbrannt. Über Zwischenstationen in Siebenbürgen, der Walachei und der Ukraine kamen die Hutterer 1874 bis nach Amerika ("Hutterian Brethern Church"). In South Dakota gründete man den ersten "Bruderhof". Diese "Brüderhöfe" - Zeichen für eine erfolgreiche wirtschaftliche Gütergemeinschaft - mit Abgrenzungen zu bestehenden Gemeinschaft, bestehen heute noch. Manche Bewohner sprechen neben Englisch noch jetzt ein altertümliches Deutsch mit Tiroler und Kärntner Einschlag (vgl. LEEB-LIEBMANN-SCHEIBELREITER-TROPPER? 2003, 191-192; SCHLACHTA 2006; Verordnungsblatt des Landesschulrats für Tirol/ Jg. 2006, Stück X, Nr. 75 "Symposium und Seminar 'Verbrannte Visionen' -Jakob Hutter und die Täuferbewegung").
3.2 Geheimprotestantismus | |
Wie man heute weiß, wurde kein Lutheraner in Tirol aus Glaubensgründen hingerichtet. Nur ein kleiner Teil schloss sich der Täuferbewegung an. Trotz massiver Verfolgung entstand die für Tirol typische Situation, "dass es zwar zahlreiche evangelische Personen gab, die manche Regionen sogar dominierten, dass diese aber inoffiziell existierten" ( LEEB 2001, 229). Das Schicksal von Jakob Stainer, dem berühmten Geigenbauer aus Absam, ist ein typisches Beispiel hierfür. Als Anhänger Luthers geriet er in Konflikt mit der katholischen Kirche, die ihn nach einem kostspieligen Prozess über sechs Monate einsperrte.
1549 hört man von Klagen, dass in Gehöften und Häusern zur Zeit der katholischen Sonntagsmesse evangelische Gottesdienste bzw. Andachten vom Hausvater der Familie mit dem Gesinde bzw. den Nachbarn mit Bibelauslegung, Gebet und Liedern gehalten wurden. In Wohnstuben wurde ein Tisch als Altar aufgestellt. Im Gegensatz zu Oberösterreich, Niederösterreich, der Steiermark und Kärnten - wo der Protestantismus legitimiert wurde - gab es in Tirol keine Kirchenorganisation und Prediger, so dass man hier von einem Laienchristentum sprechen kann.
"Es ist der evangelischen Geschichtsschreibung kaum bzw. gar nicht bewusst, dass zuerst in Tirol (und dann in Salzburg) auf diese Weise schon sehr früh das bemerkenswerte kirchengeschichtliche Phänomen des so genannten Geheimprotestantismus entstand. Nicht immer war es so geheim, wie es der Name es suggeriert. Es äußerte sich oft auch als Aufmüpfigkeit, wenn z.B. in den Wirtshäusern auf provokante Weise lutherische Schandlieder gesungen wurden (es existierte während der Gegenreformation ein bestimmtes Sortiment an lutherischen Kampfliedern). Bei Vorladungen zeigte sich ein ziviler Ungehorsam, man berief sich auf die Gewissensfreiheit, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen" (LEEB 2001, 229). Insofern kann man in Tirol auch von einem politischen Protestantismus im 16. Jahrhundert sprechen.
3.3 Ausweisungen und Emigration | |
Seit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 bestimmte der Landesherr die Konfession in seinem Land (ursprünglich "ubi unus dominus, ibi una sit religio"). Folgte man dieser Regelung nicht, konnte/ musste man auswandern. Gegenüber dem mittelalterlichen Ketzerrecht wurde dies als Fortschritt angesehen, zumal man mit Vermögen und in Ehren das Land verlassen konnte. Dieses Recht gilt als Grundrecht von Untertanen in Europa (vgl. HECKEL 1983, 33)
Für Tirol gilt, dass bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts evangelisches Leben noch nachzuweisen ist. Zwei Ausnahmen, die allerdings damals teilweise zu Salzburg gehörten, bilden das Defereggen- und das Zillertal. Auf der Grundlage des Augsburger Religionsfriedens 1555 und der Bestimmungen des Westfälischen Friedens 1648 wurden evangelische Deferegger ab 1684 ausgewiesen. Mit der Missionierung durch Kapuzinerpatres begann sich die Situation in Form von antiklerikalen Aktionen zu verschärfen. Bei der Auseisung durch den Salzburger Erzbischof Max Gandolf von Kuenberg kam es zur Verletzung der Durchführungsbestimmungen. Es wurden keine Dreijahresfrist zur Vorbereitung der Emigration eingehalten, vielmehr mussten 621 Personen um Neujahr innerhalb weniger Wochen das Tal verlassen. Das Corpus Evangelicorum in Regenburg zur Einhaltung der Reichsverfassung wurde zu spät informiert, womit nur eine bruchstückhafte Wiedergutmachung der Bestimmungen möglich wurde (vgl. DISSERTORI 1964).
Die Ausweisung evangelischer Zillertaler 1837 steht in Verbindung mit der Rechtsgültigkeit des Toleranzpatents von 1781, das für Tirol auch galt. Als nämlich 1826 drei evangelische Hippacher aus der katholischen Kirche austraten, kam eine Austrittsbewegung mit letztlich 427 Personen in Gang (vgl. HEIM-REITER-WEIDINGER? 2006; KÜHNERT 1973, 15). Der Tiroler Landtag stimmte mehrheitlich für konfessionelle Einheit des Landes. Die letzte Entscheidung hatte Kaiser Ferdinand, der die Ausweisung trotz Gültigkeit des Toleranzpatents verfügte, die internationales Aufsehen erregte.
Nach dem Bekenntnis zur freien Religionsausübung in der Unabhängigkeitserklärung der USA (1776) und der Französischen Revolution (1789) war das Toleranzpatent 1781 mit Einschränkungen versehen, wodurch Ideen der Aufklärung - religiöse Toleranz und Gleichberechtigung - unterlaufen wurden und die Ausweisungen ein unzeitgemäßes Relikt und als solches ein Spezifikum der Tiroler Geschichte darstellten (vgl. RIEDMANN 1982, 115; LEEB 2001, 231).
3.4 Protestantenpatent 1861 | |
Damit war in Tirol keineswegs die Gründung einer evangelischen Gemeinde möglich. Meran als Kurort hatte zwar gleich einen Betsaal für die vielen evangelischen Gäste eingerichtet, eine Gründung einer Pfarrgemeinde war dies nicht. Die Mehrheit des Tiroler Landtages beschloss in der Folge ein Gesetz, wonach die Bildung einer evangelischen Gemeinde verboten sei. Wien bestätigte dieses Gesetz nicht. 1863 verabschiedete der Landtag daraufhin ein Gesetz über die Zulassung einer privaten Religionsausübung.
Für diese politische Bewegung sprach der Brixner Fürstbischof Vinzenz Gasser von der Einheit des Glaubens als kostbarem Edelstein im Ehrenkranz Tirols (vgl. GELMI 2001; LEEB 2001, 231). Die gesteigerte Frömmigkeit in Europa zeigte sich in Tirol im Herz-Jesu-Kult?. Der gefühlsmäßige Widerstand gegen evangelische Gemeindegründungen hat hier seine Wurzeln.
Einer der Wortführer einer liberalen Gruppe in Tirol war der Jenbacher Gastwirt und Arzt Norbert Pfretschner, der als Reichstagsabgeordneter noch in seiner Jugend die Ausweisung der Zillertaler erlebt hatte. Demonstrativ gab er seinem Gasthaus den Namen "Zur Toleranz".
Die Reichsverfassung 1867 brachte erst einen Durchbruch mit den Gemeindegründungen 1876 von Meran und Innsbruck, den ersten öffentlich anerkannten evangelischen Pfarrgemeinden in der Geschichte Tirols. Mit dem Verlust der Glaubenseinheit des Landes reichte auch Fürstbischof Vinzenz Gasser seinen Rücktritt bei Papst Pius IX. ein, der ihn jedoch zum Weitermachen ermunterte, da in Rom sich inzwischen auch eine evangelische Gemeinde konstituiert hatte. 1883 war es auch im Tiroler Landtag nicht mehr möglich, das Protestantenpatent zu kippen.
In Kärnten, der Steiermark, Oberösterreich und dem Burgenland entwickelten sich aus evangelischer Tradition heraus Toleranzgemeinden. In Tirol gab es keine bodenständigen evangelischen Christen mehr, vielmehr handelte es sich um größtenteils Zugezogene Beamte, Armeeangehörige und Wirtschaftstreibende. Vor allem gab es kein evangelisches Leben, wie es etwa in den bäuerlich sozialisierten Toleranzgemeinden der Fall war. Damit war ein gleichberechtigtes und zwangloses Verhältnis zur katholischen Umwelt nicht möglich. "Für die konservative katholische Mehrheit in Tirol waren Luthertum und Protestantismus landfremd, sie waren Stellvertreter und Einfallstor für alles Liberale, Umstürzlerische, nicht Vaterlandstreue {...]" (LEEB 2001, 232).
Protestantismus stellt sich als moderne attraktive Alternative - im Hinblick auf das Mutterland der Reformation - dar. Gegner des politischen Katholizismus suchten naturgemäß hier eine Heimat, es kam - wie am Beispiel Innsbrucks zu beobachten ist - zu vielen Übertritten.
Um die Jahrhundertwende kam es zur "Los-von-Rom-Bewegung?", die sich weniger in Über- als in Austritten zeigte. Die evangelische Glaubensbewegung in Tirol lief Gefahr, in das deutsch-nationale Eck gedrängt zu werden. Die Die Bewegung selbst hat im Land kaum Niederschlag gefunden. Zumeist aus Deutschland kommende Pfarrer versuchten allerdings bewusst, evangelische Mission im katholischen Österreich zu betreiben. Ein überaus kämpferischer geistlicher Amtsträger war in Innsbruck Ludwig Mahnert, wobei er ab 1923 in der Konfliktsituation der Ersten Republik deutsch-nationales Gedankengut verbreitete und letztlich auch die Gemeinde in den Umkreis illegalen Nationalsozialismus brachte (vgl. LEEB 2001, 233).
3.6 Nachkriegszeit - Gegenwart | |
Nach einer massiven Austrittswelle 1938 musste 1945 und danach durch die Flüchtlingsströme, in der Folge durch Aussiedler und später Urlaubsgäste evangelisches Leben und Kirchenorganisation neu gestaltet werden. Gottesdienste in kirchenfremden Räumlichkeiten und Neubau von Kirchen und Gemeindezentren mit Gründung von Pfarrgemeinden als Körperschaften öffentlichen Rechts sowie der die Versorgung mit Religionsunterricht waren wesentliche Aufgabenfelder (vgl. Protestantengesetz 1961: "freie Kirche in einem freien Staat").
Gleichzeitig versuchte in der unmittelbaren Nachkriegszeit die "Innere Mission", später Diakonie, die Sicherstellung der alltäglichen Lebensbedürfnisse über die Pfarr- und Tochtergemeinden sowie Predigtstationen zu gewährleisten.
Kennzeichnend für die Evangelische Kirche, nicht nur in Tirol, war eine zunächst betont unpolitische Haltung. Diese hat sich inzwischen mit Beschlüssen der Generalsynoden in den letzten Jahrzehnten geändert. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang besonders an das ausdrückliche Bekenntnis zur Demokratie und zur Europäischen Union als Friedensgemeinschaft sowie der Mitarbeit in internationalen kirchlichen Organisationen wie dem Lutherischen Weltbund, Weltkirchenrat/ WCC, der Gemeinschaft Evangelischen Kirchen Europas/ GEKE und der Ökumene. Themen wie Armut, Migrantentum und Bildungsfragen spielen in der Aufgabenstellung ebenso eine Rolle.
Für Tirol ist auch zu vermerken, dass sich das Verhältnis der Konfessionen zueinander grundsätzlich geändert hat. Erfahrungen des Krieges und der NS-Zeit? brachten eine Wende, auch die zunehmende Säkularisierung und die großen Tourismusströme spielten eine Rolle. Auf offizieller Ebene war das II. Vatikanische Konzil entscheidend. Nur so war etwa die Versöhnungsfeier im Defereggental 2002 möglich.
Innerkirchlich vertreten die sieben Tiroler Pfarrgemeinden - Innsbruck-West? und -Ost, Oberinntal, Reutte, Jenbach, Kufstein und Kitzbühel - in ihren kirchlichen Gremien die Interessen evangelischer Christen über die Pfarrgemeinden hinaus in der Diözese Salzburg-Tirol? und in den Kommissionen, Ausschüssen und Leitungsgremien der Gesamtkirche. Ein besonderes Problem stellt die unzureichende Zahl ehrenamtlicher Mitarbeiter dar (vgl. DICHATSCHEK 2005, 14). Entsprechende zusätzliche Angebote zur Schulung sind notwendig.
1966 wurde die selbständige Diözese Salzbug-Tirol? gegründet. 2004 wurde das "Evangelische Bildungswerk in Tirol" reaktiviert und bedarf eines zunehmenden Engagements. 2005 übersiedelte, kirchengeschichtlich einmalig, die Superintendentur von Salzburg nach Innsbruck. 2006 konnte ein "Offenes Evangelisches Kirchnzentrum" in Innsbruck (Christuskirche) eröffnet werden. Mit diesen Aktivitäten wurden Akzente evangelischen Glaubenlebens über Jahre hinweg gesetzt.
Theaterstücke
Karl Schönherr (1867-1943): Glaube und Heimat. Tragödie eines Volkes (1910)
Felix Mitterer (1948): Verlorene Heimat - Stumm: Zillertaler Volksschspiele 1987
4.1 Grundlagen | |
Am 22. Juni 2015 kam es zur Publikation einer Überarbeitung des Unterrichtsprinzips Politische Bildung (Grundsatzerlass 2015), dass Politische Bildung in allen Schulstufen und Schulformen vermittelt werden soll (vgl. Bundesministerium für Bildung und Frauen, Unterrichtsprinzip Politische Bildung, Grundsatzerlass 2015, Rundschreiben Nr.12/ 2015).
Am 24. August 2015 folgte der Erlass, Schulen können im Rahmen der Schulautonomie Politische Bildung ab der sechsten Schulstufe als Gegenstand verankern und ein neuer Entwurf des Lehrplanes für die Sekundarstufe I in "Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung (Pflichtmodul)".
Internethinweis > http://www.politik-lernen.at/gskpb (4.7.2022).
In Österreich spielt Politische Bildung trotz der wesentlichen Bedeutung der Themenfelder wie Europa, Ökonomie, Ökologie, Interkulturalität, Globalisierung, Migration, Sicherheit und Medien weiterhin nur eine Nebenrolle ( vgl. WEISSENO-DETJEN-JUCHLER-MASSING-RICHTER? 2010).
- Als eines der fächerbergreifenden Unterrichtsprinzipien und der Dichte der Lehrpläne fehlt die Zeit einer Bearbeitung.
- Zudem sind viele Lehrende nicht entsprechend ausgebildet und fühlen sich oftmals nicht zuständig (vgl. SCHREIBER-JAROSCH-GENSLUCKNER-HASELWANTER-HUSSL? 2015, 92).
4.2 Zielsetzungen | |
Bildung/ Erziehung kann/ soll zum Verständnis für politische, sozio-ökonomische, ökologische, globale, mediale und kulturell-religiös-ethische Entwicklungen führen.
Ziel ist eine demokratisch-kritische Bildung in Verbindung mit Basiswissen und einer Handlungsfähigkeit. Zusammenhänge erkennen, Handlungsorientierung, Ideologiekritik und demokratisches Engagement ergänzen Zielsetzungen.
Kritische Politische Bildung kann nicht immer auf alles Antworten geben.
- Ohne Zweifel bedarf es schulisch einer praktizierbaren und umsetzbaren Politischen Bildung.
- Außerschulisch bedarf es im tertiären und quartären Bildungsbereich ebenso verstärkter pädagogischer Bemühungen (vgl. SCHEIDIG 2016).
Angeführt sind jene Titel, die für den Beitrag verwendet und/ oder direkt zitiert werden.
Achrainer M. - Hofinger N. (1996): "Wir lebten wie sie, aber abseits von ihnen". Alltag und Ausgrenzung der Tiroler Juden bis 1938. Eine Ausstellung des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck/ Ansichtssachen, 30-36
Alexander H.- Kriegbaum B. (2004): Bischof Paulus Rusch. Wächter und Lotse in stürmischen Zeiten, Innsbruck
Auer W. (2008): Kriegskinder. Schule und Bildung in Tirol im Ersten Weltkrieg, Innsbruck
Biasi F. (1948): Die Lutherische Bewegung in der Herrschaft Kitzbühel von ihren Anfängen bis zum Tode Ferdinands II. (1595) - Masch. Diss. Universität Innsbruck
Brumlik M. (2020): Antisemitismus 100 Seiten, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10572, Bonn
Dichatschek G. (2005): Das Rollenspektrum ist groß. Überlegungen zur Nachwuchsfrage in zukunftsorientierten Pfarrgemeinden, in: SAAT Nr. 3/ 2005, 14
Dichatschek G. (2007): Minderheiten in Tirol: Protestanten, in: Tiroler Heimatblätter 1/ 2007, 7-11
Dichatschek G. (2017): Didaktik der Politischen Bildung. Theorie, Praxis und Handlungsfelder der Fachdidaktik der Politischen Bildung, Saarbrücken
Dissertori A. (1964): Auswanderung der Defregger Protestanten 1666-1725, in: Schlernschriften 235/ 1964, Innsbruck
Dlugoborski W. (1993): Zur Geschichte des Lagers für Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau?, in: Mermorial Book. The Gypies at Auschwitz-Birkenau? - Ksiega Pamieci Cyganie w obozie koncentracyjinym Auschwitz-Birkenau? - Gedenkbuch. Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau?, Herausgeber: Staatliches Museum Auschwitz-Birkenau? in Zusammenarbeit mit dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutacher Sinti und Roma, Heidelberg, Bd. 1 München - London - New York - Wien
Ebert K. (Hrsg.) (2014): Festschrift Herwig van Staa: zum 25-jährigen Jubiläum seines politischen Wirkens, Innsbruck
Gehler M.(2008): tirol im 20. Jahrhundert vom kronland zur europaregion, Innsbruck
Gelmi J. (2001): Geschichte der Kirche in Tirol. Nord-, Ost- und Südtirol, Innsbruck- Wien-Bozen?
Goerz H.-J.(1995): Antiklerikalismus und Reformation, Göttingen
Grimm M.- Müller St. (2021): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung, Frankfurt/ M.
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Kapitel 3 | |
Der alpine Lebensraum | |
Einleitung | |
Ein uralter Kulturraum, besiedelt von rund 14 Millionen Menschen, verändert sich durch Klimawandel und Tourismus (vgl. KASTLER 2018, 19)
Für die Politische Bildung bedeutet die Veränderung eines Kulturraumes eine Herausforderung, sich mit Aspekten und Entwicklungen der alpinen Region interdisziplinär auseinanderzusetzen (vgl. DICHATSCHEK 2018).
Werbung, Ansichtskarten, Zeitschriften, Filme und Bildbände zeigen den Alpenraum als unberührte Landschaft, liebliche Almregion mit Hüttenromantik, Felsen und Gipfel im Sonnenauf- bzw. Sonnenuntergang, schneebedeckte Pisten im Winter und eine eindrucksvolle Seilbahntechnik zur Erschließung der Bergwelt.
- Die Menschen in der Alpenregion werden als gut gelaunt dargestellt und haben immer Zeit für die Gäste, die sich erholen und braungebrannt sind.
- Bergwandern, Schipisten in das Tal und Training für viele Sportarten in der Berglandschaft ergänzen ein Bild, das durch Klimawandel und Tourismus gekennzeichnet ist.
- Konkurrenz in der Darstellung von Urlaubsträumen gibt es nur in der Trias Sandstrand, Meer und Palmen.
Es gibt aber auch Ausschnitte, die mehr zeigen als Idylle und Informationen liefern, wie sich ein jahrtausendealter Kultur- und Lebensraum erhalten lässt (vgl. BÄTZING 2018).
- Als eine der größten Bergketten der Welt erstreckt sich die alpine Landschaft über 1200 Kilometer von Nizza bis Wien. Die Region Tirol liegt in einem hohen Maß in einer alpinen Landschaft.
- Kennzeichnend sind der Mont Blanc mit 4807 Metern als höchster Berg, ein Lebensraum von rund 14 Millionen Menschen und einem Anteil von acht Staaten an den Alpen mit Monaco, Frankreich, Italien, der Schweiz, Liechtenstein, Deutschland, Österreich und Slowenien.
Menschen haben im Laufe der Geschichte zur Lebenssicherung tiefgreifend die Landschaft ökologisch verändert und umgestaltet, kulturell beeinflusst und sozioökonomisch erschlossen.
Dieser Abschnitt gliedert sich in vier Themenbereiche.
Alpine Erdgeschichte,
Besiedelung und Nutzung,
Massentourismus und
Alpenkonvention.
Eine Reflexion beschließt das Kapitel mit Zukunftsfragen.
1 Alpine Erdgeschichte | |
Der Alpenraum erzeugt in seiner geographischen Unterschiedlichkeit der Landschaften, Räume bzw. Regionen und kulturellen Vielfalt jene Sehnsüchte, die in der Werbung angesprochen und in der Nutzung von Freizeit, wirtschaftlicher Nutzung und persönlichem Lebensraum sich ergeben.
Bevor auf die kulturgeographischen Gegebenheiten näher eingegangen wird, sollen einleitend der Alpenraum erd- und siedlungsgeschichtlich betrachtet werden.
Die Alpen sind erdgeschichtlich ein junges Gebirge (vgl. BÄTZING 2018, 32-35). Entstanden sind sie durch das Zusammenprallen von Afrika und Europa vor etwa 25 Millionen Jahren.
- Die Adriatische Platte - heute Teile Italiens, des Balkans, des Alpenraumes und der Adria - war noch ein Teil Afrikas und wurde in Jahrmillionen wie ein Keil in die europäische Südküste getrieben.
- Durch den Zusammenprall falteten sich die Ränder der Afrikanischen und Europäischen Platte dort auf, wo heute die Alpen sich befinden. Die Gesteinsmassen türmten sich übereinander, sie wachsen heute noch.
- Die Afrikanische Platte bewegt sich heute mit fünf Zentimeter pro Jahr nach Norden.
- Die Alpen wachsen daher jedes Jahr um einige Millimeter.
- Schnee, Wasser, Wind und Eis tragen die die Gebirgskette wieder ab und formen sie um.
2 Besiedelung und Nutzung des alpinen Raumes | |
Durch die Besiedelung kam es zu kulturellen und wirtschaftlichen Veränderungen, die zum Zwecke der Lebensraumgestaltung und Lebenssicherung tiefgreifende ökologische und sozioökonomische Veränderungen und Umgestaltungen ergaben.
- Rodungen und Bannwälder ergaben kleinräumige Siedlungen und Wirtschaftsräume mit bäuerlichen Familienstrukturen, die in Generationen dachten und planten (vgl. die Landwirtschaft im Alpenraum BÄTZING 2018, 140-145).
- Heute wird ein solches Denken und Handeln gegen die Zerstörung wertvoller Lebensräume empfohlen.
- Oft übersehen wird das Gewerbe und die Industrie, wobei der Übergang europaweit und im gesamten Alpenraum zur Dienstleistungsgesellschaft geht (vgl. BÄTZING 2018, 146-149).
2.1 Bäuerliche Kulturlandschaft | |
Die Umwandlung in eine bäuerliche Kulturlandschaft hat neben einer sozioökonomischen Bedeutung für die Bergbauern eine biologische in der die Artenvielfalt der Pflanzen- und Tierwelt (vgl. HAID 2005, VIDEK o.J.). Der alpine Raum stellt eines der Biodiversitätszentren Europas dar.
- Obwohl der alpine Raum nur zwei Prozent der Fläche Europas bedeckt, beherbergt er rund 40 Prozent der europäischen Pflanzenwelt mit rund 400 Pflanzenarten (vgl. BÄTZING 2018, 62-65).
- Von besonderer Bedeutung ist der Wald in den Alpen (vgl. geschlossene Waldflächen, Bannwald, Waldweide).
- Ebenso gilt der alpine Raum als eine Zone für Wasserreserven (vgl. BÄTZING 2018, 58-61, 164-167).
- In den Alpen gibt es mindestens 30 000 Tierarten.
- Der Klimawandel setzt dieser Vielfalt besonders zu.
2.2 Almwirtschaft | |
Der alpine Raum gilt als ideale Fläche für die Almwirtschaft (vgl. MAIR 2019, 5; Klimawandel wirkt sich auf Almen aus > https://tirol.orf.at/news/stories/2976847 [20.4.20019], "Dokumentation am Feiertag" Kuh, Schaf, Wolf & Klima > https://tirol.orf.at/tv/stories/3168228/ 13.8. 2022]).
- Die unterschiedliche Nutzung von Nieder-, Mittel- und Hochalmen ist für die bergbäuerliche Bewirtschaftung wesentlich.
- Ebenso bedeutend sind die unterschiedlichen Formen von Rinder-, Stier-, Pferde-, Schaf- und Ziegenalmen.
- Wesentlich sind die Besitzverhältnisse wie Privat-, Genossenschafts-, Servituts- und Gemeindealmen.
- Die Bauweisen unterscheiden Almhütten als Stein- und Holzbauten.
- Für das Almpersonal ist "Kost" (Ernährung), Kleidung, Tracht, Entlohnung und Almleben wesentlich.
- Die Almen gelten seit ihrer wirtschaftlichen Nutzung auch als Kulturraum (vgl. Feste, Lieder und Almsagen - Erholungsraum).
Die Universität Innsbruck erforscht im Projekt Stella hydrologische Verhältnisse im Tiroler Brixental im Almbereich (vgl. https://www.uibk.ac.at/geographie/stella/stella-executive-summary.pdf > Version 2/6.11.2017 [21.12.2018]).
Unterschiedliche Aspekte bei Nutzung ergeben aus dem Interessenskonflikt von Ökonomie und Ökologie.
2.3 Alpenraum als Rohstoffquellen | |
Der alpine Raum war schon früh ein Gebiet für begehrte Rohstoffquellen, etwa Gold, Silber, Kupfer, Eisen und Salz (vgl. BÄTZING 2015).
- Die Bergbaugebiete wurden zu Handelsknotenpunkten und entwickelten sich in der Folge zu Märkten und Städten (vgl. BÄTZING 2018, 116-123).
- Mit der zunehmenden Besiedelung kam es zu Entwicklungen von
- Wanderbewegungen notwendiger Arbeitskräfte und
- kulturell und religiöser Vielfalt (man denke an die Reformationszeit mit der Verbreitung des reformatorischen Glaubens durch Zuwanderung in den Bergbauregionen/ Beispiel Schwaz; vgl. BÄTZING 2018, 124-127).
- Wirtschaftliche Konzentration und in der Folge damit verbunden politische Macht ergaben sich aus den Gewinnen der Nutzung der Bergbauproduktion.
2.4 Industrielle Revolution | |
Mit Beginn der industriellen Revolution begannen die Städte das Land bzw. den alpinen Raum zu beherrschen.
- Kleinbetriebe verloren an Bedeutung.
- Es begann die Nutzung der große Alpentäler.
- Das Auto, der Lastkraftwagen und die neuen Eisenbahnlinien, mit Tunnelbauten im Gebirge, gewannen in der Folge an Bedeutung und wurden zunehmend notwendig.
Heute führen die großen Transversalen von Nord nach Süd durch den Alpenraum und verursachen ökologische Probleme, deren Folgen den Lebensraum und die Lebensbedingungen der Bevölkerung belasten (vgl. die Verkehrserschließung des alpinen Raumes BÄTZING 2018, 132-139).
3.1 Erschließung des alpinen Raumes | |
Die Erschließung des alpinen Raumes war die Grundlage für einen Massentourismus, der zu Beginn des von vorigen Jahrhunderts sich entwickelte (vgl. BÄTZING 2018, 150-159).
In vielen Tälern war der Tourismus die Grundlage für eine Besiedelung und einen wirtschaftlichen Nutzen.
Alpine urbane Zentren und Tourismuszentren wurden bzw. werden in diesem Entwicklungsstadium intensiv genützt (vgl. BÄTZING 2018, 160-163).
Problembereiche gibt es, wenn der Tourismus in Gebiete vorstößt, die für keine Besiedelung geeignet sind.
Fragen treten bei der Gestaltung des Tourismus mit Millionen Gästen auf, wenn Erlebnislandschaften in einem sensiblen Raum verlangt und geplant werden.
Der Nutzen für einen Großteil der Bevölkerung ist fraglich (vgl. überdimensionale Infrastrukturen, hoher Strom- und Wasserverbrauch, hohe Müllkapazitäten, teure Baugründe, Verkehrschaos)
Gefordert sind Steuerungsmechanismen, um Raumordnungspläne und regionale Entwicklungen abstimmen zu können.
3.2 Freizeitverhalten | |
In diesem Zusammenhang ist etwa das zunehmende Freizeitverhalten der Bevölkerung im alpinen Raum zu sehen (vgl. BÄTZING 2018, 24-27).
Der Drang, die alpine Landschaft zu genießen, bringt für das Wild - man denke allein in Tirol gibt es rund einen Bestand von 200 000 Tieren - in Unruhe, damit können die notwendigen Abschusszahlen jährlich nicht erfüllt werden.
Es bedarf funktionierender Steuerungsmachanismen zwischen der Jägerschaft und den Tourismusverbänden (vgl. https://tirol.orf.at/news/stories/2953841/ [18.12.2018]).
Im Wintertourismus steigt der Druck durch den Klimawandel.
Gebiete sollen erschlossen werden, die bis jetzt Rückzugsräume waren (vgl. Freizeitparks im Hochgebirge BÄTZING 2018, 194-205).
Heute bildet der alpine Raum das Ziel von rund 120 Millionen Gästen.
Zu beachten sind Bemühungen um einen Naturschutz als Erhaltung der Realität im alpinen Raum (vgl. BÄTZING 2018, 168-169).
Die Erhaltung und Förderung von Nationalparks mit Naturbeobachtungen, Vermehrung des biologischen Wissens und einer Erhaltung von geschützten Großräumen verdient vermehrt Beachtung.
3.3 Alpine Vereine | |
Die nationalen und internationalen alpinen Vereine mit rund 2 Millionen Mitgliedern erhalten den größten Teil der Wege und Hütten unter immer mehr erschwerten Bedingungen.
Sie sind abhängig von Subventionen der öffentlichen Hand und eines freiwilligen Engagements ("Ehrenamtlichkeit").
Dies bedeutet die Basis für einen alpinen Tourismus, der einen sanften Tourismus bildet.
Zudem gilt das Engagement als ein der großen Gemeinwesen-Projekte?.
Zu beachten sind überlaufende Berghütten der Mitglieder, Gefahren im Hochgebirge werden oftmals unterschätzt.
- - -
Verband Alpiner Vereine Österreichs (VAVÖ)
Alpenverein Südtirol (AVS)
Alpine Association of Slovenia
Club 4000
Club Alpin francais
Club Alpino Italiano (CAI)
Deutscher Alpenverein (DAV)
Österreichischer Alpenverein (ÖAV)
Naturfreunde Deutschland
Naturfreunde Österreich
Naturfreunde Schweiz
Österreichischer Bergführerverband
Österreichischer Touristenclub
Schweizer Alpenclub
4 Alpenkonvention 1989 | |
Die völkerrechtlich verbindliche Konvention - geschlossen 1989 in Berchtesgaden von den Umweltministern von Deutschland, Frankreich, Italien, Slowenien, Liechtenstein, Österreich, der Schweiz und Europäischen Gemeinschaft - umfasst eine Präambel und 14 Artikel.
4.1 Präambel | |
Die Präambel betont die Bedeutung der Alpen als großen zusammenhängenden Naturraum in Europa,
- die spezifische und vielfältige Natur, Kultur und Geschichte als ausgezeichneten Lebens-, Wirtschafts-, Kultur- und Erholungsraum im Herzen Europas, an dem zahlreiche Völker und Länder teilhaben.
- Die Bedeutung für außeralpine Gebiete, unter anderem als Träger bedeutender Verkehrswege, wird anerkannt.
- Ebenso wird der alpine Raum als Rückzugs- und Lebensraum für gefährdete Pflanzen- und Tierarten betont.
Festgehalten werden die Unterschiede
- der einzelnen Rechtsordnungen,
- der naturräumlichen Gegebenheiten und Besiedelungen,
- der Land- und Forstwirtschaft und Entwicklung der Wirtschaft,
- der Verkehrsbelastung und
- die Art und Intensität der touristischen Nutzung.
Anerkannt wird die wachsende Beanspruchung des Alpenraumes, die Gefährdung ökologischer Funktionen und deren hoher Aufwand, verbunden mit beträchtlichen Kosten zur Behebung in der Regel nur in großen Zeiträumen.
Ausgedrückt wird die Überzeugung, dass wirtschaftliche Interessen mit den ökologischen Erfordernissen in Einklang gebracht werden müssen.
4.2 14 Artikel | |
Artikel 1 umfasst den Anwendungsbereich.
Artikel 2 betrifft die allgemeinen Verpflichtungen wie die Achtung, Erhaltung und Förderung der Bevölkerung und Kultur, die Raumplanung, Luftreinhaltung, der Bodenschutz, Wasserhaushalt, Naturschutz und die Landschaftspflege, Berglandwirtschaft, der Bergwald, der Einklang von Tourismus und Freizeitaktivitäten, die Belastung von Verkehr, die Erzeugung von Energie und Abfallvermeidung.
Artikel 3 beschreibt die Forschungsaktivitäten und systematische Beobachtung der in Artikel 2 genannten Gebiete.
Artikel 4 dokumentiert die Zusammenarbeit im rechtlichen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Bereich.
Artikel 5 umfasst die Organisation der Konferenz der Vertragsparteien(Alpenkonferenz).
Artikel 6 umfasst den Aufgabenbereich der Alpenkonferenz.
Artikel 7 behandelt die Beschlussfassung in der Alpenkonferenz.
Artikel 8 bezieht sich auf die Bestimmungen des Artikel 7 mit den Aufgaben des Ständigen Ausschusses.
Artikel 9 bezieht sich auf das Sekretariat der Alpenkonferenz.
Artikel 10 betrifft Änderungen des Übereinkommens.
Artikel 11 bezieht sich auf Protokolle und ihre Änderung.
Artikel 12 regelt die Unterzeichnung und Ratifizierung des Übereinkommens.
Artikel 13 regelt eine Kündigung des Vertragswerkes.
Artikel 14 regelt die Notifikationen.
IT-Hinweis?
Geltende Fassung 2021 > http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10010876 (22.9.21)
4.3.1 Zukunft des alpinen Raumes | |
Für die Politische Bildung ist die Frage nach der Zukunft des alpinen Raumes eine wesentliche Fragestellung.
"Wenn die Entwicklung der Alpen so weitergeht wie bisher, dann werden die letzten noch erhaltenden Kulturlandschaften in absehbarer Zeit allmählich verschwinden und die Alpen werden ausschließlich aus verwaldeten und verstädterten Regionen bestehen" (BÄTZING 2018, 210).
4.3.2 Zielsetzungen | |
Zielsetzungen wären in Anlehnung an HAID (2005) und BÄTZING (2018)
- eine Aufwertung als dezentraler Lebens- und Wirtschaftsraum,
- in Anbindung an eine Modernisierung Europas die Erhaltung des alpinen Raumes als Freiraums mit eigenständiger Entwicklung,
- dies bedeutet die Nutzung der wertvollen Ressourcen (etwa regionstypischer Qualitätsprodukte/Viehwirtschaft, Acker- und Obstbau, Holz, Energienutzung),
- Umbau des Tourismus zur Nutzung der Regionalwirtschaft (vgl. Alpintourismus/Bewertung und Wandel > http://m.bpb.de/apuz/25886/alpentourismus-bewertung-und-wandel?p=all [2.2.2019]),
- schnelleres Internet mit dezentralen Arbeitsplätzen,
- neue Kulturlandschaften mit Schutz des Lebensraumes.
Dazu bedarf es einer spezifischen Infrastruktur und Stützung, Betreuung und Beratung von Gemeinwesenprojekten wie etwa
- Ausbau von schulischen und außerschulischen Bildungseinrichtungen,
- Versorgung mit Medizineinrichtungen und Krankenbetreuung,
- Sozialbetreuung für Jugend und Senioren,
- ausreichender Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr und einen tauglichen Verkehrsverbund,
- ausreichende Verwaltungseinheiten,
- Möglichkeiten von Arbeitsräumen,
- Stützung und Förderung Berglandwirtschaft und
- Schaffung von Freizeiträumen.
Die vermehrte Beachtung der Bedeutung der Alpenkonvention zur Wahrung europäischer Interessen in den Alpen ist einzumahnen (vgl. Transitverkehr, Wassernutzung, Erholungsraum/Schutzräume-Naturschutz-Nationalparks).
Aktuell stellt sich die Rückkehr der Beutegreifer im alpinen Raum von Wolf, Bär, Goldschakal und Luchs. Fragestellungen ergeben im Sinne der Alpenkonvention und EU-Bestimmungen? (vgl. DICHATSCHEK 2022, 12-28). Ein Wunschdenken einer Rückkehr in die mehr und mehr dicht besiedelten und genützten Gebirgszonen und Täler hat die Realitäten anzuerkennen. Angestrebt wird eine Versachlichung der komplexen Thematik.
4.3.3 Aufgabenfelder einer Politische Bildung | |
Als Aufgabenfelder stellen sich
- eine Agrarpolitik mit dem Aspekt der Erhaltung einer Berglandwirtschaft - ökonomisch, ökologisch, sozial und kulturell,
- der Klimawandel und Klimaschutz als komplexes Anliegen einer Umweltpolitik und
- der vermehrten Beachtung des sensiblen alpinen Raumes, im Rahmen globaler Überlegungen bzw. Globalen Lernens.
Ein Interessenskonflikt ergibt sich aus der Bipolarität von Ökonomie und Ökologie.
Politische Bildung zeigt die Kontroverse auf und sucht nach konsensualen Lösungswegen im Einzelfall.
Vermehrt sollte die Schönheit der alpinen Landschaft und ihre Einmaligkeit - schulisch und außerschulisch - im Kontext Politischer Bildung in
- Projekten,
- Exkursionen,
- Erkundungen,
- Bildmaterial und
- praktischen Erfahrungen anschaulich demonstriert werden (vgl. als Impuls die Dissertation zur Kultur des Bergführerberufs [Schweiz]von HUNGERBÜHLER 2014).
Zunehmend sind zu beobachten die Folgen eines Klimawandels mit einer
- Erwärmung im Hochgebirge (vgl. Ansteigen der Schneegrenze, Gletscherschmelze, geringere Wasserabflüsse, Permafrostschmelze, Unwetter- und Naturgefahren [Starkregen, Murenabgang und Steinlawinen] sowie zunehmender Dürreflächen),
- Verschieben der Pflanzen- und Tierwelt sowie
- Auftreten neuer Schädlinge.
9.4 IT-Hinweise? | |
Universität Innsbruck - "International Mountain Conference 2019"/8-12, 2019 > https://tirol.orf.at/stories/3011876/ (8.9.2019)
ORF.at - Klimawandel lässt Alpen rascher zerbröseln > https://salzburg.orf.at/stories/3014758/ (27.9.2019)
Literaturhinweise Alpiner Lebensraum | |
Angeführt sind jene Titel, die für den Beitrag verwendet und/oder direkt zitiert werden.
Alpenkonvention (2013): Nachhaltiger Tourismus in den Alpen, 4. Alpenzustandsbericht, Innsbruck
Bätzing W. (2015): Die Alpen - Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft, München
Bätzing W. (2018): Die Alpen. Das Verschwinden einer Kulturlandschaft, Darmstadt
Dichatschek G. (2018): Didaktik der Politischen Bildung. Theorie, Praxis und Handlungsfelder der Fachdidaktik der Politischen Bildung, Saarbrücken
Dichatschek G. (2022): Die Rückkehr des Wolfes. Aspekte einer Beziehung im mitteleuropäischen Kulturraum im Kontext Politischer Bildung, Saarbrücken
Haid H. (1986): Vom alten Leben. Vergehende Existenz-und Arbeitsformen im Alpenbereich, Rosenheim
Haid H. (2005): Neues Leben in den Alpen. Initiativen, Modelle und Projekte der Bio-Landwirtschaft?, Wien-Köln-Weimar?
Heinich-Böll-Stiftung/Bund? für Umwelt und Naturschutz Deutschland/Le Monde Diplomatique (2019): Agrar-Atlas? 2019. Daten und Fakten zur EU-Landwirtschaft?, Berlin
Hungerbühler A. (2014): Könige der Alpen. Zur Kultur des Bergführerberufs, Bielefeld
Kastler U. (2018): In den Alpen gibt es keine heile Welt, in: Salzburger Nachrichten, 13. Dezember 2018, 19
Luger K.-Rest Fr. (Hrsg.) (2018): Alpenreisen. Erlebnis, Raumtransformation, Imigation, Innsbruck-Wien-Bozen?
Mair B. (2019): Zwischen Heimat und Erholung, in: Tiroler Tageszeitung, 15. 4.2019, 5
Mathieu J. (2015): Die Alpen. Raum-Kultur-Geschichte?, Stuttgart
Pfeiffenberger A. (2019): Das Risiko auf dem Berg wird unterschätzt, in: Salzburger Nachrichten, 8. Jänner 2019, 1
Vitek E. (o.J.): Die Pflanzenwelt der österreichischen Alpen, Naturhistorisches Museum, Wien
IT-Autorenbeiträge? | |
Die Autorenbeiträge dienen der Ergänzung der Thematik.
Netzwerk gegen Gewalt
http://www.netzwerkgegengewalt.org
Politische Bildung
Globales Lernen
Agrarpolitik
Almen
Kapitel 4 | |
Österreich | |
1 Politisches System | |
Das politische System der Republik Österreich beruht auf dem Grundsätzen der/des
- Demokratie,
- republikanischen Staatsform,
- Gewaltenteilung,
- liberalen Prinzips und der
- Zugehörigkeit zu den Vereinten Nationen (UNO), zum Europarat (ER) und der Europäischen Union (EU).
Wesentliche Rechtsgrundlagen des politischen Systems sind der Vertrag von Lissabon über die Struktur der EU und die Bundesverfassung 1920/1929.
Das EU-Mitglied? "Republik Österreich" ist eine semipräsidiale parlamentarische Demokratie. Das Verhältniswahlrecht bestimmt die Größe der wahlwerbenden Parteien, die zumeist Koalitionen zu einer Regierungsbildung bilden müssen. Die staatstragenden Parteien spielen eine zentrale Rolle im politischen Leben des Landes.
Der EU-Vertrag? regelt die Aufgabenverteilung zwischen den neuen Bundesländern und dem Bund durch das "Bundesverfassungsgesetz" (B-VG?). Über die Einhaltung des Vertrages wacht der Europäische Gerichtshof/Luxemburg, über die Bundesverfassungsgesetze der nationale Verfassungsgerichtshof/Wien.
Das demokratische Prinzip beruht auf dem Grundsatz, dass alles staatliche Recht vom Volk ausgeht. Artikel 1 des B-VG? legt fest, dass Österreich eine repräsentative Demokratie ist, es werde demnach alle Repräsentanten gewählt. Artikel 26 des B-VG? legt freie und geheime Wahlen fest. Als wichtiges Element gilt die direkte Demokratie, die durch Volksbegehren, Volksbefragung und Volksabstimmung gewährleistet wird.
Das republikanische Prinzip betrifft die Staatsform. Seit dem 12. November 1918 ist Österreich eine Republik, seit 1920 an der Spitze mit einem Bundespräsidenten als Staatsoberhaupt. Dieser wird alle sechs Jahre von den Wahlberechtigten gewählt (Artikel 60, Abs. 5 des B-VG?).
Das bundesstaatliche Prinzip legt fest, dass das Land kein Einheitsstaat, kein Staatenbund ist (Artikel 2 B-VG?). Die neun Bundesländer haben in der Bundesverfassung und den jeweiligen Landesverfassungen eigene Gesetzgebung. Die Bereiche durch Bundesrecht und Landesrecht bestimmt die Bundesverfassung (Artikel 10-15).
Das rechtsstaatliche Prinzip schützt die Bürger vor staatlicher Willkür. Der Rechtsstaat gestattet die gesamte Tätigkeit nur auf Grund von geltenden Gesetzen, gewährleistet durch Gewaltenteilung und unabhängige Gerichte. Gewaltenteilung bedeutet die Trennung von Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichten. Kontrollrechte garantieren eine Rechtsstaatlichkeit.
Das liberale Prinzip garantiert dem Bürger durch Grund- und Freiheitsrechte persönliche Freiheit. Kodifiziert ist das Prinzip durch die im Verfassungsrang stehende "Europäische Menschenrechtskonvention"(EMRK) und das Staatsgrundgesetz 1867.
2 Bundesebene | |
Im Folgenden werden die europäische Ebene, die Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit angesprochen. Im Selbstverständnis einer Demokratie gelten diese Ebenen zentral für eine Gewaltenteilung im Staat (vgl. PELINKA-ROSENBERGER? 2003, PELINKA 2008, 431-461).
2.1 Europäische Ebene | |
Außenminister Dr. Alois Mock suchte um Beitritt in die damalige EWG am 17. Juni 1989 an.
- Am 12. Juni 1994 erfolge die Volksabstimmung mit der Annahme von 66,58 Prozent.
- Am 24. Juni wurde der Beitrittsvertrag unterzeichnet. Am 1. Jänner 1995 erfolgte der Beitritt.
- Im Jahre 2000 wurde Österreich für die Regierungsbeteiligung der FPÖ mit Sanktionen belegt. Dies könnte mit ein Grund für eine EU-Skepsis? der Bevölkerung sein.
- 1999 trat Österreich der Eurozone bei, 2002 wurde der Euro als Bargeld eingeführt.
Kompetenzen vor allem in der Wirtschaft und Landwirtschaft, im Verkehr, Umweltschutz, der Energiepolitik und im Konsumentenschutz wurde an die EU abgegeben.
- Europarecht hat Vorrang vor nationalen Rechtsverordnungen.
- EU-Verordnungen? sind unmittelbar anwendbar, EU-Richtlinien? bedürfen bedürfen erst einer rechtlichen Umsetzung im nationalen Bereich.
Mit dem Vertrag von Lissabon stellte Österreich 19 Abgeordnete im EU-Parlament?, seit 2014 sind es 18 Sitze. Je 12 Mitglieder werden in den Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie in den Ausschuss der Regionen entsendet. Nominiert ist ein Mitglied in der Europäischen Kommission (2019 Johannes Hahn als Kommissar für Europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen).
2.2 Gesetzgebung (Legislative) | |
Die gesamtstaatliche Gesetzgebung wird im Parlament (National- und Bundesrat) wahrgenommen. Beschlossen werden der Haushalt des Bundes und alle Bundesgesetze.
Eine wichtige Aufgabe des Parlaments ist die Kontrolle der Bundesregierung.
Das Parlament ist kein echtes Zweikammersystem, da die Mitglieder des Bundesrates von den Landtagen entsendet werden, nur die Abgeordneten zum Nationalrat sind über Parteilisten vom Volk gewählt. Der Bundesrat ist keine gleichwertige Kammer und kann in den wenigsten Fällen ein Veto einlegen. Beide Kammern zusammen bilden die Bundesversammlung, welche bei die Angelobung des Bundespräsidenten vornehmen, bei der Absetzung des Bundespräsidenten eine Volksabstimmung ansetzen können und einen Krieg erklären können.
Der Nationalrat bildet die Abgeordnetenkammer der Republik Österreich, 183 Abgeordnete gehören ihm an, seit 2007 werden die Abgeordneten alle fünf Jahre gewählt. Mitglieder des Nationalrates haben ein freies Mandat, sind demnach juristisch von ihrer Partei oder Interessensgruppen unabhängig. Zur Erhaltung der Klubdisziplin genügt zumeist die Drohung, bei der nächsten Wahl nicht mehr aufgestellt zu werden. Das Präsidium des Nationalrates besteht aus drei Präsidenten, die neben der Sitzungsführung auch bei längerer Verhinderung des Bundespräsidenten die Vertretung des Staatsoberhaupts haben. Der Nationalrat spricht der Regierung das Vertrauen bzw. Misstrauen aus, der Bundespräsident hat entsprechend die Bestellung bzw. Abberufung durchzuführen.
Bundesgesetze werden im Parlament beschlossen, vorbereitet werden sie in den einzelnen Ausschüssen. Die Zustimmung des Bundesrates ist jedenfalls notwendig. Kein Einspruchsrecht besitzt der Bundesrat bei der Haushaltsgesetzgebung, den Finanzgesetzen und bei Gesetzen, die nur den Nationalrat betreffen, wie etwa seine Auflösung oder die Geschäftsordnung. Als zweite Kammer und Vertretung der Bundesländer auf Bundesebene (Länderkammer) werden die Mitglieder von den Landtagen entsandt. Ihre Anzahl wird nach jeder Volkszählung vom Bundespräsidenten festgelegt, dzt. sind es 61 Mitglieder (Stand 2019). Die Mitglieder sind den Landtagen nicht verantwortlich, sie besitzen ebenfalls ein freies Mandat. Der Bundesrat kann nur Gesetze aufschieben, nicht verhindern. Der Nationalrat kann eine Aufschiebung durch einen Beharrungsbeschluss verhindern, Ausnahmen sind Gesetze mit Kompetenzen der Bundesländer oder Gesetze, die nur den Bundesrat betreffen.
Gesetzesinitiativen können vom Nationalrat (Initiativantrag), von der Bundesregierung (Regierungsvorlage) oder vom Bundesrat kommen (Artikel 41 Abs. 1 B-VG?). Volksbegehren mit mehr als 100 000 Unterschriften oder je einem Sechstel der Stimmberechtigten dreier Bundesländer sind dem Nationalrat vorzulegen (Artikel 41 A bs. 2 B-VG?). In drei Lesungen muss jeder Gesetzesentwurf im Nationalrat behandelt werden. Dazwischen finden Beratungen in den Ausschüssen statt. Nach der dritten Lesung findet eine Abstimmung statt (einfache Mehrheit, qualifizierte Mehrheit für Verfassungsgesetze/zwei Drittel der abgegebenen Stimmen).
Beschließt der Nationalrat ein Gesetz, muss der Beschluss unverzüglich dem Bundesrat übermittelt werden. Innerhalb von acht Wochen kann ein Einspruch (suspensives Veto) erhoben werden. In der Regel hat das Veto aufschiebenden Charakter. Ohne Einspruch oder mit Beharrungsbeschluss im Nationalrat gefasst, wird das Gesetz dem Bundespräsidenten zur Beurkundung übermittelt. Das verfassungsgemäße Zustandekommen des Gesetzes ist in der Folge zu beurkunden, umstritten ist die inhaltliche Prüfung bzw. ob diesem formalen Akt es sich nur um die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften handelt. Findet die Beurkundung statt, wird das Gesetz vom Bundeskanzler gegengezeichnet und in der Folge im Bundesgesetzblatt der Republik Österreich veröffentlicht (Kundmachung). Sofern im Gesetz keine anderen Fristen festgelegt sind, tritt das Gesetz einen Tag nach der Veröffentlichung in Kraft.
Die Bundesversammlung als Organ des Nationalrates und Bundesrates hat mehrere Funktionen, die vor allem den Bundespräsidenten betreffen (vgl. Angelobung, Volksabstimmung zur Absetzung des Bundespräsidenten, behördliche Verfolgung des Bundespräsidenten [Aufhebung der Immunität]). Kriegserklärungen fallen in den Aufgabenbereich.
2.3 Verwaltung (Exekutive) | |
Die Verwaltung beinhaltet alle Behörden des Bundes und der Bundesländer, sofern es Bundesgesetze betrifft (mittelbare Bundesverwaltung), die Bundesregierung, die Sicherheitskräfte (Bundespolizei, Justizwache, Bundesheer) und den Bundespräsidenten.
Aufgabe ist die Vollziehung der Gesetze und Verordnungen der Bundesregierung. Die konkrete Auslegung der Gesetze wird in der Regel durch Erlässe des jeweiligen Bundesministers festgelegt.
Gegen Verwaltungsakte können die Bürger je nach Materie bei Landesverwaltungsgerichten bzw. Bundesverwaltungsgerichten oder dem Bundesfinanzgericht Beschwerde einlegen, gegen dessen Entscheidung sich an den Verwaltungsgerichtshof wenden. Verletzung von Grundrechten werden beim Verfassungsgerichtshof eingeklagt.
Der Bundespräsident ernennt den Bundeskanzler, auf dessen Vorschlag einzelne Minister oder ohne Vorschlag entlässt er die gesamte Bundesregierung. Ebenso löst er auf Antrag der Bundesregierung den Nationalrat, beurkundet Gesetze, hat den Oberbefehl des Bundesheeres, ernennt Spitzenbeamte/Offiziere des Bundes und vertritt die Republik nach außen. Die meisten Akte erfolgen auf Vorschlag der Bundesregierung, ohne Begründung kann er einen Vorschlag ablehnen. Er wird für sechs Jahre vom Bundesvolk gewählt, eine Wiederwahl ist einmal möglich. Abgesetzt werden kann er durch ein Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof oder durch eine von der Bundesversammlung angeordnete Volksabstimmung.
Die Bundesregierung führt die Verwaltung des Bundes durch. Als Kollegialorgan übt sie die Tätigkeiten aus, die gesetzlich nicht den einzelnen Bundesministern übertragen werden. Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler, Vizekanzler und den Bundesministern. Staatssekretäre sind dem jeweiligen Minister untergeordnet und besitzen im Ministerrat kein Stimmrecht. Ernannt wird die Regierung auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten. Will die Regierung Bestand haben, müssen die Mehrheitsverhältnisse im Parlament beachtet werden.
Der Bundeskanzler führt den Vorsitz im Ministerrat. Er besitzt keine Richtlinienkompetenz. Er schlägt den Bundespräsidenten eine Abberufung eines Ministers vor, damit ist er in der politischen Realität stärker als ein Bundesminister. Zudem ist er zumeist Vorsitzender/Obmann der stärksten Parlamentspartei und besitzt entsprechend politisches Gewicht.
Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt. Jeder Minister ist nach dem Bundesministeriengesetz für seinen Bereich zuständig. Nach einem Misstrauensvotum im Parlament hat der Bundespräsident einen Minister zu entlassen.
2.4 Gerichtsbarkeit (Judikative) | |
Die ordentliche Gerichtsbarkeit wird vom Bund wahrgenommen. Damit sind Gerichte Bundesgerichte, Bezirksgerichte, Landesgerichte und Oberlandesgerichte sind lokale Einrichtungen des Bundes.
- Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts - Verwaltungs- und Verfassungsrecht - wurden bis 2013 vom Bund geführt.
- Ab 2014 wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit um eine aus elf Gerichten bestehende Unterinstanz ergänzt, also in dem jeweiligen Bundesland eingerichteten Landesverwaltungsgericht, das Bundesverwaltungsgericht bzw. Bundesfinanzgericht.
An den Landesgerichten für Strafsachen sind Staatsanwaltschaften, die dem Justizminister gegenüber weisungsgebunden sind, eingerichtet. Richter sind unabhängig, unabsetzbar und unversetzbar (vgl. Artikel 87, 88 Abs. 2 B-VG?).
In Österreich kann gegen Akte der ordentlichen Gerichtsbarkeit keine Verfassungsbeschwerde erhoben werden, allerdings seit 1993 eine Grundrechtsbeschwerde an den Obersten Gerichtshof als oberste Instanz in Zivil- und Strafsachen.
Alle Gerichte können beim Verfassungsgerichtshof Gesetzes- oder Verordnungsprüfungsverfahren veranlassen, wenn sie Bedenken gegen die Verfassungsgemäßigkeit der Vorschriften haben.
Im Folgenden wir die Sozialpartnerschaft als politischer Gestaltungsfaktor in der Zweiten Republik(1945- heute) angesprochen (vgl. TALOS 2008) .
Als Besonderheit des politischen Systems bildet die Sozialpartnerschaft (SP) eine Form der Entscheidungsfindung unter Einbeziehung der Interessensverbände, also der Vertretungen der Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Landwirtschaft. Sie dient der Konsensbildung in wirtschaftspolitischen und sozialpolitischen Bereichen. Mitglieder der SP sind der ÖGB, die Kammer für Arbeiter und Angestellte, die Wirtschaftskammer und die Präsidentenkonferenz der Landwirtschaftskammer.
Wesentliche Aufgaben der SP sind Verhandlungen über Kollektiverträge, Löhne und Stellungnahmen zur Gesetzesbegutachtung vor dem parlamentarischen Gesetzesbeschluss.
Kritik an der SP kommt von jenen politischen Parteien, die kaum oder gar nicht in den Interessensvertretungen Sitz und Stimme haben. Damit wird die SP als undemokratisch bezeichnet. Die SP selbst beruft sich auf das "Prinzip der Freiwilligkeit" und sieht die Kooperation der Interessensverbände als informell an.
4 Direkte Demokratie | |
Die Bundesverfassung sieht drei Elemente einer direkten Demokratie vor.
- Ein Volksbegehren ist eine Petition des Volkes/Wählerschaft für eine bestimmte gesetzliche Regelung an den Nationalrat. Bei mehr als 100 000 Unterschriften oder der Zustimmung von je einem Sechstel der Stimmberechtigten dreier Bundesländer hat das Volksbegehren im Nationalrat behandelt zu werden. Der Nationalrat muss aber keineswegs dem Volksbegehren zustimmen.
- Eine Volksabstimmung über ein Gesetz kann jederzeit vom Nationalrat beschlossen werden. Eine Volksabstimmung ist bindend für das Parlament. Zwingend vorgesehen sind Volksabstimmungen für Gesamtänderungen der Bundesverfassung und Absetzung des Bundespräsidenten.
- Eine Volksbefragung ist dagegen unverbindlich. Durchgeführt wird sie, wenn man die Haltung der Wählerschaft zu einer bestimmten Befragung wissen will. Keine große Rolle spielt sie, weil man durch Meinungsbefragungen schneller und leichter Haltungen ermitteln kann (vgl. die Volksbefragung zur Wehrpflicht 2013).
5 Landesebene | |
Im Folgenden wird auf den Föderalismus und Regionalismus als politisches System auf Landesebene in Österreich eingegangen (vgl. BUSSJÄGER 2018).
5.1 Bundesländer | |
Die neun Bundesländer Vorarlberg, Tirol. Salzburg, Oberösterreich, Niederösterreich, Wien, Burgenland. Steiermark und Kärnten bilden die Gliedstaaten der Republik Österreich. Ihre legislativen und exekutiven Kompetenzen sind in der Bundesverfassung festgelegt. Kompetenzen ohne Festlegung in der Bundesverfassung werden von den Ländern autonom verwaltet, wobei die jeweilige Landesregierung die politische Steuerung und Verantwortung trägt. Die Steuerhoheit besitzt der Bund, auch jene, deren Ertrag an die Bundesländer geht.
Wichtig ist die mittelbare Bundesverwaltung. Es handelt sich jene Kompetenzen, die im Auftrag des Bundes von den Ländern vollzogen werden. Der Landeshauptmann bzw. der verantwortliche Landesrat ist dem zuständigen Bundesminister für den Gesetzesvollzug direkt verantwortlich.
Über den Bundesrat nehmen die Länder formal indirekt an der Bundesgesetzgebung teil, direkt durch Einflussnahme auf die Abgeordneten und aus den Bundesländern stammende Bundesminister.
Auf Landesebene gibt es seit 2014 Landesverwaltungsgerichte.
Die Landesgesetzgebung vollzieht sich in den Landtagen. 2013 wurde das suspensive Veto des Bundes abgeschafft. Landesverfassungsgesetze haben im Einklang mit der Bundesverfassung zu stehen. Bei Kompetenzstreitigkeiten entscheidet der Verfassungsgerichtshof, Bundesrecht hat keinesfalls Vorrecht vor Landesrecht. Die Legislaturperiode beträgt in Oberösterreich sechs, in den anderen Bundesländern fünf Jahre.
Die Landesregierung besteht aus dem Landeshauptmann (in Wien Bürgermeister und Landeshauptmann)), seinen Stellvertretern und den Landesräten. Die Landesregierung wird von Landtag als Proporz- oder Mehrheits- bzw. Minderheitsregierung gewählt. Vorsitzender der Landesregierung ist der Landeshauptmann, gewählt vom Landtag und angelobt vom Bundespräsidenten. Als Träger der unmittelbaren Bundesverwaltung ist er der Bundesregierung bzw. dem jeweiligen Bundesminister verantwortlich. Der Aufgabenbereich umfasst die Vertretung des Bundeslandes auf nationaler und internationaler Ebene, die Koordination aller Behörden (etwa bei Krisen) und der Vorsitz in der Landesregierung und ihre Angelobung.
Die Landeshauptleutekonferenz als informelles Treffen der neun Landeshauptleute gilt in der politischen Realität als wesentliches politisches Mittel der Landesebene.
5.2 Bezirke | |
Die dzt. 79 Bezirke in Österreich sind eine Verwaltungseinheit zwischen Gemeinde und Bundesland. Als Bezirksverwaltungsbehörde ist dies die Bezirkshauptmannschaft, in 15 Staturstädten der Magistrat.
Die Ebene der Bezirke kennt keine gewählten Amtsträger. Der oberste Beamte als Bezirkshauptmann wird von der Landesregierung ernannt. Die Bezirksverwaltungsbehörde hat als Aufgabenbereiche u.a. die öffentliche Gesundheit (Amtsarzt), den Gewerbebereich (Gemeindebehörde), die Gemeindeaufsicht und den Sicherheitsbereich zu verwalten.
In der Bundeshauptstadt Wien bestehen gewählte Bezirksvertretungen und gewählte Bezirksvorsteher. Sie sind nicht dem Magistratischen Bezirksamt vorgesetzt.
5.3 Gemeinden | |
Gemeinden bilden die unterste Ebene der Gebietskörperschaften, sie handeln nur in der Verwaltung (Exekutive).
- Der Aufgabenbereich wird in der Bundesverfassung und in den Landesgesetzen (Gemeindeordnung)geregelt. Zuständig sind sie etwa für die Bereiche der Pflichtschulerhaltung, Raumordnung und Bauwesen. Organe sind der Gemeinderat, der Gemeindevorstand und der Bürgermeister.
- Der Gemeinderat ist der gewählte Vertretungskörper des Gemeindevolkes, Bürgermeister werden direkt von den Wahlberechtigten gewählt, wenn die Landesverfassung es vorschreibt(vgl. die Ausnahmen in Wien, Niederösterreich und der Steiermark, wo Bürgermeister vom Gemeinderat gewählt werden).
- Der Gemeindevorstand besteht aus dem Bürgermeister, den Vizebürgermeistern un den geschäftsführenden Gemeinderäten. Im Gemeinden mit Stadtrecht heißt der Gemeindevorstand Stadtrat, in Städten mit eigenem Statut Stadtsenat.
- Grundsätzlich sind alle Gemeinden rechtlich gleich, es gibt keine Unterschiede zwischen einfachen Gemeinden, Marktgemeinden und Stadtgemeinden.
Seit 2018 gibt es in Österreich 2098 Gemeinden, von diesen sind 770 Marktgemeinden und 201 Stadtgemeinden.
Staturstädte und die Bundeshauptstadt Wien haben besondere Rechte und Pflichten. Sie sind nicht nur Gemeinden, vielmehr auch Bezirksverwaltungsbehörden für ihr Gebiet. Die Verwaltungsbehörden heißen Magistrate und sind Bezirkshauptmannschaften gleichgestellt. Damit übernehmen die Bürgermeister auch die Aufgaben eine Bezirkshauptmannes. Sie werden von den Wahlberechtigten gewählt.
Die Stadt Wien ist zugleich Bundesland, der Wiener Gemeinderat ist daher zugleich Landtag, der Stadtsenat zugleich Landesregierung und der Bürgermeister Landeshauptmann.
6 Politische Einstellungen | |
Die folgenden Ausführungen betreffen folgerichtig Einstellungen und Werthaltungen in den Bereichen Politik-Demokratie?, Arbeit-Arbeitsmarkt?, Familie-Partnerschaft-Geschlechtsrollen?, Religion, sozialer Zusammenhalt-Diversität? und Solidarität und Europa.
Grundlage bildet die "Europäische Wertestudie" (EVS), die seit 1990 erforscht, wie Österreich sich verändert(vgl. AICHHOLZER-FRIESL-HAJDINJAK-KRITZINGER? 2019).
6.1 Politik-Demokratie? | |
Auf der Basis der empirischen Erhebungen von HAJDINJAK-GLAVANOVITS-KRITZINGER? (2019, 135-173) ergeben sich die folgenden Herausforderungen und Folgerungen.
- Die politische Form der Demokratie genießt einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Alternative Regierungsformen finden wenig Anklang.
- Ein starker Führer, Militärregierungen und Theokratien finden breite Ablehnung.
- Die Bewertung einer Expertenregierung fällt gemischt aus. Die Zustimmung zur Technokratie bleibt über die Jahre hinweg gleich und kann als Zustimmung zu mehr Sachpolitik verstanden werden.
- Eine breite Mehrheit stimmt zu, dass Österreich demokratisch regiert wird.
- Hohes bzw. steigendes politische Interesse stärkt zusätzlich das demokratische System. Im Langzeitvergleich ist das Vertrauen in Institutionen für alle fast alle Einrichtungen gestiegen. Damit gibt es eine Legitimationsgrundlage.
- Gemischt wird die Rolle der Medien gesehen. Viele Österreicher/innen attestieren den Medien eine mangelnde unvoreingenommene Berichterstattung, woraus sich ein relativ niedriges Vertrauen ableiten lässt.
- Wichtige Bestandteile einer liberalen Demokratie werden in einer rechtlichen Gleichstellung von Frauen und Männern, der Wahl der Repräsentanten und in der Existenz der Bürgerrechte gesehen.
- Der Großteil der Bevölkerung lehnt eine flächendeckende Überwachung etwa von E-Mails? oder das Sammeln von Informationen über jede Person ohne deren Wissen ab.
- Das politische System erhält durch Wahlen eine Legitimierung. Selbst nach der Aufhebung der Bundespräsidentenstichwahl 2016 durch den Verfassungsgerichtshof werden Wahlen als fair wahrgenommen.
Die österreichische Demokratie ist aus Bevölkerungssicht gut aufgestellt. Dennoch gilt es Entwicklungen auf den unterschiedlichen Ebenen kontinuierlich zu beobachten und zu bewerten.
6.2 Arbeit-Arbeitsmarkt? | |
Auf der Basis der empirischen Erhebungen von VERWIEBE-SEEWANN? (2019, 36-56) ergeben sich die folgenden Herausforderungen und Folgerungen.
- Ein gut bezahlter Beruf ist der Wunsch der Mehrheit.
- Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten zwei Dekaden verändert. Mehr Frauen sind berufstätig, oftmals in Teilzeitarbeit.
- Berufe nehmen immer häufiger atypische Formen an, wie geringfügige und befristete Arbeitsverträge.
- Insgesamt ist die Anzahl verfügbarer Arbeitsplätze gestiegen, vor allem im Dienstleistungsbereich in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Handel. Ein Rückgang in der Industrie ist zu verzeichnen. Qualifizierte Arbeit wird seltener. Damit findet eine Polarisierung der Berufsstruktur statt.
- Der Bereich der Zuwandernden/Migranten ist davon besonders betroffen.
- Der Bereich der gut bezahlten und erfüllenden Berufe zu finden ist schwieriger geworden.
- Dies bedeutet eine Änderung in der subjektiven Bewertung von Arbeit, bei der das Arbeitsleben eine neue Perspektive erhält. Zugenommen hat die Relevanz von Freizeit und Familie, Ansprüche von Selbstverwirklichung und Arbeitsautonomie haben sich gebildet.
- Arbeit ist weniger identitätsstiftend geworden, weil auch kurzfristige Jobs zunehmen. Sinnvoll und notwendig erscheint daher ein flexibles Arbeitsleben, das sich an persönlichen Rahmenbedingungen anpasst(vgl. den IT-Autorenbeitrag? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Vorberufliche Bildung in Österreich).
- Überzeugt sind immer Österreicher/innen, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt Frauen und Zuwandernden ebenso offenstehen soll wie Männern und Einheimischen.
- Unterschiede zwischen sozialen Gruppierungen lassen sich feststellen, etwa im Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnort und Erwerbsstatus. Sie prägen deutlich das Zusammenleben am Arbeitsplatz.
Zusammenfassend hat ein Strukturwandel den Lebensbereich deutlich verändert, ausdifferenzierte Berufsformen nehmen ab, Arbeit verliert an Bedeutung. Die Arbeitszeit muss zunehmend mit Familien und Freizeit abgestimmt werden. Universelle Zugänge kennzeichnen den Arbeitsmarkt, etwa die Öffnung für Frauen und Zuwandernde(vgl. eine stärkere Binnenwanderung in der EU).
6.3 Familie-Partnerschaft-Geschlechtsrollen? | |
Auf der Basis der empirischen Erhebungen von BERGHAMMER-SCHMIDT? (2019, 57-88) ergeben sich die folgenden Herausforderungen und Folgerungen.
- Deutlich wird, dass Wertvorstellungen und Kontinuität in der Gesellschaft kennzeichnend sind. Die Wichtigkeit von Familie ist mit Abstand wichtigster Lebensbereich, nicht etwa Arbeit und Beruf sowie Freizeit.
- Wichtig in der Erwartung an Partnerschaften ist eine Stabilität.
- Traditionelle Werte wie Treue und Kinder sind mit Abstand wichtigste Faktoren. Kinder und Freude bringen ein glückliches Leben.
- Stabile Faktoren sind Zeit für Freunde, Hobbies und die Teilung von Hausarbeit. Wichtig zunehmend eingeschätzt wird eine ökonomische Basis einer Partnerschaft und speziell der Ehe.
- Leicht sank in den letzten Jahrzehnten die Attraktivität der Ehe, nur mehr wenige Bevölkerungsteile lehnen nichteheliches Zusammenleben ab. Eheliches Zusammenleben wird mit Verbindlichkeit, Sicherheit und dauerhaftem Bekenntnis zueinander in Zusammenhang gebracht. Unterschiedlich ist dieses Bekenntnis in den verschiedenen Lebensphasen.
- In den letzten Jahrzehnten haben die Eltern-Kind-Beziehung? und Kindererziehung sich von autoritärem zu partnerschaftlichem verhalten ausgerichtet. Erziehungsziele befürworten Konformität seitens der Kinder. Unverändert werden gute Manieren, Toleranz und Unabhängigkeit als wichtig angesehen(vgl. en IT-Autorenbeitrag? http://www.netzwerkgegengewalt.org >Index: Erziehung).
- Den stärksten Wandlungsprozess betreffen Einstellungen zu Geschlechterrollen. Elternrollen mit der Erwerbstätigkeit von Müttern mit Kleinkindern und Vollerwerbstätigkeit von Frauen mit Familie werden immer noch abgelehnt. Hauptsächlich Mütter sind für die Kindererziehung und Hausarbeit zuständig, Väter für die finanzielle Absicherung der Familie(vgl. die gängige Beschäftigungsarten von Müttern mit Kleinkindern in Teilzeitarbeit und Vätern in Vollzeitarbeit).
- Es gibt Hinweise auf eine Re-Traditionalisierung?, etwa die Zeitgemäßheit der Ehe oder Konformitätswerte der Kindererziehung(Gehorsam, hart arbeiten). Eine Auflösung der Familie ist nicht in Sicht.
- Gleichgeschlechtliche Beziehungen entwickeln sich zunehmend in Lebensformen, in denen auch Kinder aufwachsen.
- Kaum erfolgsversprechende politische Anstrengungen gibt es für eine verstärkte Einbindung der Väter in die Kindererziehung.
- Kinderbetreuung und Familienzeiten werden an eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie angepasst. Eine Vereinbarkeit dürfte sich durch Investitionen in Elementarbildungseinrichtungen und Ganztagsschulen verbessern. Offen bleiben sozial- und familienpolitische Initiativen wie Arbeitszeitregelungen und finanzieller Ausgleich mit Pensionsansprüchen für Kinder-und Familienbetreuung.
6.4 Religion - Säkularisierung und Pluralisierung | |
Auf der Bass von empirischen Erhebungen von POLAK-SEEWANN? (2019, 89-134) ergeben sich die folgenden Herausforderungen und Folgerungen.
- Durch Migration ändert sich die sozioreligiöse Zusammensetzung der Bevölkerung. Die individuelle Religiosität verändert sich langsamer als gedacht.
- Es gibt trotz eines hohen Niveaus des Glaubens an Gott Signale für einen schleichenden Verlust spezifischer christlicher Glaubensüberzeugungen und der Dimension des Transzendenten (vgl. Glaubensverlust an die Auferstehung oder des Weiterleben der Seele nach dem Tod). Indikator für diese Tendenz ist eine Dominanz naturwissenschaftlicher Weltdeutungen, denen die große Mehrheit zustimmt.
- Das plurale Feld der Religionsgemeinschaften in Österreich - immerhin sind 16 Religionsgemeinschaften staatlich anerkannt - gerät in den folgenden Generationen in Bewegung und wird seine Legitimität und Rationalität zu begründen haben.
- Dem steht gegenüber die Gruppierung jener Religiosität der Zuwandernden, deren Religiosität höher und weniger durch Transzendenzverlust gekennzeichnet ist (vgl. die Gruppe der Muslims und christlicher Fundamentalisten; RIESEBRODT 2000).
- Empirische Ergebnisse legen nahe, dass Integration sozioreligiöse Konflikte nicht deutet. Innerhalb der Konfessionsgruppen ist die religiöse Haltung höchst heterogen.
- Konfliktlinien liegen zwischen den Generationen, bei Geschlechtern und in der Intensität zwischen Stadt und Land.
- Verstärkt wird die Konstellation zwischen Hoch-und Niedrigreligiösen, eine demographische Dynamik, wachsende Religionsskepsis und Vorbehalte gegen den Islam. Säkularisierung wird als Bedrohung erlebt.
- Es geht tatsächlich um eine Anpassung des Verhaltens einer angeblich christlichen Monokultur. Eine Mehrheit ist durchaus bereit, Menschen anderer Herkunft zu akzeptieren, solange diese sich an herrschende kulturelle Vorstellungen einer als homogen angenommenen Mehrheit halten.
- Integration wird politisch und medial im Zeichen der Religion geführt macht damit Religiosität zu einem Merkmal, wobei im urbanen Raum es zu gelingen hat, mit religiös-säkularer Pluralität umzugehen.
- Hier sind die Konfliktlinien sehr deutlich.
- Chancen ergeben sich aus einer Dialogfähigkeit, interkulturell-religiöser Begegnungen, interkulturellem Lernen für einen Umgang in Verschiedenheit(vgl. den IT-Autorenbeitrag? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Interkulturelle Kompetenz, Religion).
- Entscheidend wird auch eine schulische und erwachsenenpädagogische Vermittlung religiöser Inhalte und Verhaltensweisen sein.
- Die Qualität der Religionsdiskurse in Bildung, Medien und Politik sowie die Richtungsentscheidungen in den angesprochenen Religionsgemeinschaften mit ihren Angeboten werden zusätzlich entscheidend sein.
6.5 Sozialer Zusammenhalt - Diversität und Solidarität | |
Auf der Basis von empirischen Erhebungen von AICHHOLZER (2019, 174-205) ergeben sich die folgenden Herausforderungen und Folgerungen.
Grundlage für eine pluralistische Gesellschaft und liberale Demokratie bilden soziales Vertrauen, Zusammenhalt und Akzeptanz anderer Lebensstile.
- Damit sind Interkulturalität, Diversität und Formen der Integration angesprochen.
- Im Wandel der Gesellschaft durch
- Formen der Migration (Binnen- und Außenmigration), Globalisierung im Wirtschafts- und Mediensektor, Internationalisierung im Tourismus, weltweiten Studienprogrammen und Forschungsprojekten ergeben sich Fragestellungen, die im Kontext gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen zu sehen sind (vgl. die IT-Autorenbeiträge? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Interkulturelle Kompetenz, Migration in Österreich, Wirtschaftserziehung, Europa als Lernfeld).
- Zu erwähnen sind auch die Finanzkrise 2008, die Flüchtlingskrise 2015 und in Österreich ein Wandel in der Innenpolitik durch eine neuartige Bundesregierung 2017.
- Zuwanderung und Integration bleiben Dauerthemen in der öffentlichen Meinung.
Eine überwiegende Mehrheit stimmt aktuell einer Anpassung der Ausländer an den Lebensstil der Inländer zu, ebenso den Aussagen, dass eine Belastung des Sozialsystems durch Ausländer und durch Kriminalität vorhanden ist. Demnach gibt es eine Grundskepsis. Zudem wird ein Respekt vor Institutionen, Gesetzen und der deutschen Sprache eingefordert.
Die Akzeptanz der Nähe von Zuwandernden bildet ein polarisierendes Thema. Das Vertrauen zu Menschen anderer Staatsbürgerschaft, eines anderen Kulturkreises oder einer anderen Religion wird in Frage gestellt. Brisant ist der Umgang mit Muslimen verschiedener Herkunft, obwohl diese Gruppe seit 1912 (Einverleibung Bosniens-Herzegowina? in die Monarchie) und der "Gastarbeiter" in den sechziger Jahren Realität ist. Auffassungsunterschiede über das Ausmaß einer Solidarität zu bestimmten Gruppen kennzeichnen die Gesellschaftsordnung.
Festzuhalten sind
- die Heterogenität der Gruppe der Migranten/innen,
- die Unterschiedlichkeiten der Einstellungen und Werte von Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei mit dem entsprechenden Fremdbild,
- die Unterschiedlichkeit von Christentum und Islam sowie
- die Unterschiedlichkeiten der Großelterngeneration und der nachfolgenden Migrantengruppen (vgl. Kriegsflüchtlinge, EU-Binnenwanderungen?).
Offener ist das Land gegenüber einer Diversität (Vielfalt) bei Homosexuellen und nationaler Identität (Geburtsort) geworden. Der Wunsch nach kultureller Anpassung im Kontext der Flüchtlingskrise 2015 ist bei Zuwandernden erkennbar.
Herausforderungen ergeben sich demnach im schulischen und außerschulischen Bildungsbereich in Politischer Bildung und Interkultureller Kompetenz, bei Einheimischen und Zuwandernden.
Es geht konkret um
- Sprachkompetenz,
- kulturell-religiöse Kompetenz,
- Dialogkompetenz,
- Begegnungskultur,
- demokratische Partizipationsmodelle und
- Alltagswissen.
Auf der Basis von empirischen Erhebungen von HAJDINJAK-GLAVANOVITS-KRITZINGER? (2019, 206-241) ergeben sich die folgenden Herausforderungen und Folgerungen.
Die Verbindung mit Europa und der EU - Österreich ist Mitglied des Europarates und der EU - ist als positiv zu bewerten. Differenziert sind die Veränderungen innerhalb der EU mit der Erweiterung um einige Mitgliedsstaaten, des Vertrages von Lissabon oder dem Brexit, der Finanzkrise, Eurokrise und Flüchtlingskrise zu sehen.
- Gestiegen ist die positive Bewertung der EU-Mitgliedschaft? seit 2016,
- die Bewertung der Art der Demokratie in der EU und
- das Bild der Österreicher/innen von der EU.
- Überwiegend skeptisch sieht man die EU-Erweiterung?.
- Bezüglich des Vertrauens in die EU vertraut man der EU mehr, wenn man auch ein größeres Vertrauen in die eigene Regierung setzt.
- Das Gefühl, Europäer/in zu sein, ist in den letzten Jahren gestiegen.
- Ein Europäisch-Sein? wird mit der europäischen Kultur verbunden (weniger über Geburt oder Abstammung). Wichtig wird zukünftig die Betonung einer gemeinsamen europäischen Kultur sein.
- Trotz Krisen ist die Unterstützung der EU in Österreich hoch geblieben. Dies unterstreicht auch die steigende Wahlbeteiligung bei den EU-Wahlen? im Mai 2019.
- Die Akzeptanz des Europarates und sein Wirken ist in Österreich unbestritten, wird aber kaum in der Öffentlichkeit rezipiert.
Reflexion | |
Der Beitrag beschäftigt sich - aus der Sicht des Autors - mit dem politischen System des Landes und den Veränderungen einer politischen Einstellung unter aktuellen Bezügen. Zu bemerken ist, dass für die Politische Bildung empirische Ergebnisse aus Befragungen über einen längeren Zeitraum von Interesse sind.
- Für die Politische Bildung sind die angegebenen zwei Faktoren zum besseren Verständnis einer Landeskunde von Interesse.
- Interdisziplinär haben die Bereiche der Interkulturalität, Migration, Globalisierung, Arbeits- und Berufswelt, Familienbilder/Partnerschaften und Geschlechtergerechtigkeit, Religion und Europäischen Union zunehmende Bedeutung.
- Nicht zu übersehen in der Landeskunde Österreichs ist der vorhandene großflächige alpine Lebensraum mit seinen speziellen Anforderungen. Hier sind spezifische Aspekte von Interesse (vgl. die IT-Autorenbeiträge? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Alpen, Erwachsenenbildung im ländlichen Raum).
Die Themenbereiche Digitalisierung und Mediatisierung bedeuten mehr als mediale Innovationen und technische Herausforderungen. Ihre Relevanz und Wirkung wird künftig das Bild eines Landes stark beeinflussen. Österreich steht hier, wie andere Länder, am Anfang.
Die Bewältigung der Zukunft wird auch von den Wirkungen der Bildungsbereiche abhängen. Dazu wird auf die IT-Autorenbeiträge? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Bildungsreform, Schule, Erziehung, Wirtschaftserziehung, Ethik, Erwachsenenbildung(auch im ländlichen Raum) und Lehramt hingewiesen.
Nicht zu übersehen ist das Zahlenmaterial von Österreich der Statistik Austria mit zunehmender Bevölkerungszahl und wirtschaftlicher Bedeutung, selbstverständlich Problemstellungen des 21. Jahrhunderts (vgl. https://orf.at/wahlstimmen/stories/3134936 [12.9.2019]).
Literaturverzeichnis Österreich | |
Angeführt sind jene Titel, die für den Beitrag verwendet und/oder direkt zitiert werden.
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Siebenhaar H.-P. (2017): Österreich. Die zerrissene Republik, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10113, Bonn
Talos E. (2008): Sozialpartnerschaft. Ein zentraler politischer Gestaltungsfaktor in der Zweiten Republik, Innsbruck-Wien-Bozen?
Verwiebe R.-Seewann L. (2019): Der Wandel des Arbeitsmarktes und Einstellungen zur Arbeit in Österreich, in: Aichholzer J.-Friesl Chr.-Hajdinjak S.-Kritzinger S. (Hrsg.): Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018, Wien, 36-56
Vocelka K. (2013): Multikonfessionelles Österreich. Religionen in Geschichte und Gegenwart, Wien-Graz-Klagenfurt?
Kapitel 5 | |
Einleitung | |
Im Rahmen von Bildungsbemühungen beschäftigt sich das Kapitel mit
- Lebensbedingungen realer Kinder und Heranwachsender in den europäischen Gegenwartsgesellschaften und reflektiert bildungspolitische EU-Konzepte? von Kindheit und Jugend sowie
- Lerninhalten europäischer politischer und Sozialgeschichte sowie dem politischen System der EU.
Mit dem Weißbuch "Neuer Schwung für die Jugend Europas" 2001 hat die europäische Jugendpolitik einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Die Aussage Pierre Bourdieus, je weniger die Gesellschaft über die Ursachen von Schulschwierigkeiten informiert ist, umso mehr schreibt sie den Lehrkräften die Verantwortung für das "Schulelend" zu, veranlasst den Autor auch zum Diskurs über Schule.
Die EU in ihrer Vielfalt mit verschiedensten nationalen Traditionen und Lebens- und Lernbedingungen sowie die Wissenschaftliche Konferenz/ Universität Wien, 8.-9. September 2014/ "Europa - Hoffnung und Feindbild " regt zur Auseinandersetzung mit der Thematik an.
Immer mehr Themenbereiche bedürfen einer EU-Perspektive?,
- man denke etwa an das Loslösen von Kinder- und Jugendkulturen aus dem lokalen Bereich,
- dem internationalen Vergleich von Schulleistungen und
- Aspekten der Medien- und Jugendpädagogik und demographischer Entwicklungen, die national nicht mehr ausreichend erklärbar und steuerbar sind.
- Ähnliches gilt für die gezwungene Migration, verarmte Familien und Gewalt gegen Kinder und Heranwachsende.
Basiskenntnisse einer europäisch-politischen und Sozialgeschichte sowie des politischen Systems der EU im Rahmen einer Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung sollen bekannt sein.
1 Kindheits- und Jugendkonzepte im Wandel in Europa | |
"Lange Zeit betrachteten Erziehungswissenschaftler Kinder in erster Linie als educandi, als zu Erziehende. Sie sollten im Verlauf ihrer Kindheit und Jugend schrittweise lernen, sich in der Welt der Erwachsenen zurechtzufinden und die herrschenden gesellschaftlichen Normen und Werte zu internalisieren. Nach Abschluss dieses Prozesses wurden ihnen die gleichen Rechte gewährt und Pflichten auferlegt, die in der jeweiligen Gesellschaft gültig waren; bis dahin sollten Kinder, so die gängige Auffassung von Pädagogen, in einer Art Schonraum leben, behütet und gelenkt von ihren Erziehern. Erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde diese Auffassung vom Kind erschüttert. Einerseits durch neue Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, die Kindheit in verschiedene Phasen ausdifferenzierte, und die Reformbewegung, die Lernpotentiale von Kindern freisetzen wollte, die gängige Drillschule unterdrückte. Andererseits durch Modernisierungsprozesse, die Kinder weitgehend aus der Lohn- und Haus- und Feldarbeit freisetzten und eine verlängerte Lernkindheit und -jugend bewirkten. Kinder blieben zwar nach wie vor abhängige Wesen, aber sie eroberten sich eine eigenständige Lebensphase: Kindheit war nun nicht mehr nur Auftakt zum Erwachsenenstatus, sondern konnte von immer mehr Kindern auch zu eigenbestimmten Tätigkeiten genutzt werden" (DU BOIS-REYMOND? 2004, 65-66; vgl. HONIG 1999).
Diese verkürzt dargestellte Entwicklung verlief in den meisten europäischen Staaten, wobei mittel- und nordeuropäische Ländern eher eine Lernkindheit mit kindgerechtem Konsum, osteuropäische Länder eine Lernkindheit mit regulierter Kinder- und Jugendorganisation entwickelten.
In der Folge setzten sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesellschaftliche Modernisierungen im Verhältnis Männer und Frauen - damit auch bei Eltern und Kindern/Heranwachsenden - durch. Ausbildung und Berufsarbeit veränderten die Mutterrolle, das innerfamiliäre Leben verlor viel vom autoritären Charakter, Kinder und Heranwachsende profitierten von der Emanzipation der Mütter.
Kinder und Heranwachsende haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte aus Abhängigkeiten gelöst und sich eine eigene Stimme erworben. Die individualisierten Lebensentwürfe ihrer Eltern tragen dazu bei. Immer mehr Kinder und Heranwachsende lernen, mit komplizierten zwischenmenschlichen Beziehungen umzugehen. Neben der traditionellen Vater-Mutter-Kind-Familie? gibt es Patchwork-Familien?, im extremen Fall bildet ein homosexuelles (Ehe-)Paar mit adoptiertem Kind eine Familie.
Auf Grund der Unterschiedlichkeit der Kindheiten in Europa spricht die Jugendforschung von einer "Theorie der selektiven Modernisierung", weil osteuropäische Gesellschaften in bestimmten Bereichen Modernisierungen westeuropäischer Gesellschaften nicht durchlaufen haben.
ZINNECKER (1991) beschreibt - unabhängig vom politischen und wirtschaftlichen System - ähnliche Wertvorstellungen bei Familien- und peer-group-Beziehungen, wobei ihre Kindheits- und Jugendleben in vieler Hinsicht dem gleichen, was westliche Heranwachsende in den fünfziger Jahren erlebten.
Unter kindersoziologischen Gesichtspunkten gehen heute Kindheits- und Jugendforscher von einer Verkürzung der Kindheit und durch die zunehmenden Schul- und Bildungsjahre von einer Verlängerung der Jugendzeit aus (vgl. WALTHER-STAUBER? 1998/1999). Ein Diskurs um die verkürzte Kindheit ist vorhanden, die Polemik von NEIL POSTMAN über "Das Verschwinden der Kindheit" ist bekannt geworden (POSTMAN 1983).
Kinder werden als Folge der Frauenemanzipation in Verbindung mit beruflichen Aktivitäten später geboren, die Bevölkerungspyramide verändert sich, der Generationenvertrag ist zu neu zu überdenken.
Kinder sind jedenfalls in westlichen Marktwirtschaften teurer geworden, Eltern geben mehr Geld für die neuen Erfahrungsräume, Erziehung und Bildung aus.
ZINNECKERs Theorievorschlag (1991) einer Einteilung von Kindheit unterscheidet in der Folge vier Kindheitsmodelle:
| traditonal-moderne Kindheit | > | Pädagogik und Entwicklungspsychologie |
avanciert-moderne Kindheit | > | Sozialisationsforschung |
postmoderne Kindheit | > | Kindersoziologie |
fundamentalistische Kindheit | > | Multikulturalität |
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Von Nord- und Westeuropa ausgehend entwickelt sich in den siebziger und achtziger Jahren ein Partizipationsdiskurs in der Kindheitsforschung, der einen starken Schub durch die UN-Konvention? für die Rechte der Kinder 1989 erhielt.
Erstmals in der Geschichte wurden universale Grundrechte des Kindes codifiziert. Das Kind wird gesellschaftlicher Akteur und Mitgestalter seines Lebensraumes (vgl. HONIG-LANGE-LEU? 1999, 69-80).
Die Kinderrechtsbewegung definiert das Kind als autonomen Mitbürger, wobei die Schule als zeitintensivster Kindheitsort Kindern - auch in der Moderne - so gut wie keine altersgemäße Mitbestimmung über Organisation und Inhalte gewährt.
Lernen erstreckt sich heute tendenziell über den gesamten Lebenslauf. Das macht lebensbegleitendes Lernen notwendig.
Europäische Jugend- und Bildungspolitik denkt über eine Verzahnung von "formal education", "non-formal education/learning" und '"informal learning'" nach, wobei SchülerInnen ihre eigenen Lernprozesse als Lern- und Lebensprojekt in die Hand gegeben werden soll.
2 Statistische Daten Europas | |
Im "Bericht zur sozialen Lage in der Europäischen Union" (2001) wird über Kinder als eigenständige soziale Gruppierung wenig mitgeteilt. Als demographische Teilpopulation existieren sie vielmehr in Einheiten in Einkommens- und Haushaltstatistiken.
Durch die Verbesserung der Lebensbedingungen in den letzten zehn Jahren in 15 Staaten der EU hat sich auch die Situation von Kindern, Jugendlichen und Familien zum Positiven verändert. Zurückgegangen sind die Geburtszahlen in den letzten 40 Jahren, im Schnitt bekommen Europas Frauen 1,5 Kinder.
Statistisch wird die Familienzusammensetzung nicht erfasst (Einzel- bzw. Mehrgeschwisterfamilie, Stieffamilien, Patchworkfamilien). Frankreich und Irland haben die meisten Kinder, Spanien und Italien die wenigsten. Faktoren helfen die Gründe für unterschiedliche Geburtenzahlen in der EU zu erklären, wie etwa die Religionszugehörigkeit, Arbeitslosenquote, Frauenarbeitsquote, Aspekte der Kinder- und Sozialpolitik und Migrationsströme.
Verschieben sollte sich in den kommenden 15 Jahren der Bevölkerungsaufbau zugunsten der alten Bevölkerung, die Kinder- und Jugendzahl wird abnehmen.
Innerhalb der EU-15 Länder ist die Nahtstelle zur Schulpflicht 16 Jahre (Österreich 15 Jahre), es beginnt für bestimmte SchülerInnen der Eintritt in das Berufs- und Arbeitsleben und die SchülerInnen der Sekundarstufe II noch 3-5 Jahre die schulische Lernarbeit.
Abnehmende Heiraten und Geburtenraten haben zu mehr außerehelichen Geburten geführt. Mehr als ein Drittel aller Kinder wurden in Estland, Litauen, Slowenien und Bulgarien außerehelich geboren (UNICEF 2001, 22). Neben einer gewissen Auflösung von Normalbiographien zugunsten verschiedener Lebens- und Familienformen gibt es in diesen Ländern im Gegensatz zu westlichen EU-Ländern? vermehrt Teenager-Schwangerschaften?.
Bei der Erörterung von Armut im angesprochenen UNICEF-Bericht? 2001 wird beim Armutsbegriff zwischen
- absoluter Armut, also der Zahl der Kinder im Haushalt mit nicht leisten können eines Minimums von Waren und Dienstleistungen und
- relativer Armut mit Ausschluss vom gängigen Lebensstil unterschieden.
Jedenfalls ist das Armutsrisiko für Landkinder und ihre Eltern größer als bei Stadtkinderfamilien. Es gibt am Land weniger Bildungsmöglichkeiten, weniger Frauenerwerbsarbeit, mehr Kinderarbeit und schlechtere Hygienebedingungen - in Rumänien hat etwa nur 13 Prozent der Landbevölkerung fließend Wasser.
Große Einkommensunterschiede, die kinderreiche Familien diskriminieren, erzeugen hohe Kinderarmutsraten, wie an den beiden Beispielen Italien und Großbritannien demonstriert werden kann. Das "Österreichische Institut für Familienforschung (ÖIF)" weist in einem Bericht 2001 über Familie und soziale Ausgrenzung in EU-Ländern? darauf hin, dass soziale Ausgrenzung gegensätzlich zum Begriff soziale Integration steht und damit einen weiteren Aspekt von Lebensqualität erfasst (vgl. FERNANDEZ DE LA HOZ 2001).
Die Vielseitigkeit des Kinder- und Jugend-Armutsbegriffes? zeigt sich beispielsweise
- in Form sozialer Verwahrlosung,
- Familienzerfall,
- Kindermisshandlungen,
- sexueller Ausbeutung,
- Arbeitslosigkeit mit Kinderverstoßung und
- Bildung krimineller Gruppen.
3 Rechte und Politik für Kinder und Heranwachsende | |
Hier soll auf die UN-Kinderrechtscharta? 1989 und auf mögliche Folgerungen für die Politik eingegangen werden.
Das Projekt "UN-Kinderrechtskonvention?" sah erstmals die Zusammenkunft Vertreter der gesamten Welt zur Behandlung gemeinsamer Standards für die Behandlung von Kindern als MitbürgerInnen vor. Als Meilenstein für die Kinderforschung kommt es erstmals zur Bereitstellung von regelmäßigen Daten über gesetzliche, materielle, gesundheitliche, familiäre und bildungsrelevante Fakten. Zwar kann ein solcher völkerrechtlich verbindlicher Kinderrechtsvertrag nicht zu kinderfreundlichen Gesetzen zwingen, er setzt aber für die Mitgliedsstaaten Standards, wobei in Örebro drei Brennpunktthemen behandelt und Resolutionen verfasst wurden:
- Kinderarbeit,
- sexueller Missbrauch von Kindern und
- die Situation von Flüchtlings- und Romakindern (The Conference on the Rights of the Child in Europe, Challenge and Responsibility, 30-31 May 2001, Örebro/Schweden - Schwedischer Vorsitz der EU-Kommission/The? Örebro Appeal 2001).
Der Weltkindergipfel in New York 2002 behandelte
- Fördermaßnahmen von Kleinkindern/ Kleinkindererziehung,
- Zugang zur Grundbildung (Pflichtschulbildung),
- Partizipation von Kindern und Jugendlichen und
- Heranwachsende als Ressource für gesellschaftliche Entwicklung (statt Problemgruppe).
In der EU werden Kinderrechte formell in der Charter of Fundamental Rights''' anerkannt, die auf dem Nizzagipfel 2000 verabschiedet wurden.
Artikel 24 legt fest:
- Kinder haben das Recht auf Schutz und Fürsorge, die sie für ihr Wohlergehen benötigen,
- Kinder sollen ihre Meinung frei äußern können und diese soll in ihren Angelegenheiten altersstufengemäß und ihrem Reifegrad entsprechend berücksichtigt werden und
- Kinder sollen als Recht mit ihren Eltern in regelmäßigem und persönlichem Kontakt stehen, außer es schadet ihren Interessen.
Kinder- und Familieninteressen/-politik mit den Problembereichen der Heranwachsenden unterliegen dem Subsidiaritätsprinzip der Mitgliedsländer, daher gibt es kein übergeordnetes Ressort, dass eine EU-Politik? initiieren und durchsetzen kann.
Heranwachsende sind auf Grund ihrer erworbenen beruflichen oder schulischen Qualifikationen - insbesondere fördert die EU den IT-Bereich? - als zukünftige Arbeitnehmer als soziale Gruppe von Interesse.
Die EU ist noch weit davon entfernt, ein Europa auch für ihre jungen Bürger zu sein (vgl. EUROPEAN COMMISSION 2001). Rhetorisch gibt es den Diskurs um Kinder- und Heranwachsende-Rechte? bei Partizipationsmodellen und Citizenship i.e.S., wenn es also um eine Ausweitung des Bürgerschaftsstatus geht. Die bereits angesprochene Verfrühung betrifft in der EU teilweise Regionen mit einer verlängerten Lern- und Konsumkindheit.
Als Beispiel soll eine Übersicht über die verpflichtenden Lebensbereiche, in denen Kinderrechte auf Grund der Kinderrechtskonvention verwirklicht werden müssen, dokumentiert werden, wobei der UNICEF-Report? 1997 als Grundlage gilt:
- körperliche Bedürfnisse: ausreichende und unverschmutzte Nahrung,
- Unterkunft: Sicherheit und genügend Lebensraum für eine Entwicklung/auch bei Behinderung(en),
- Transport: sichere und zugängliche Transportmöglichkeiten(Schule/Nachrichtenverkehr),
- Gesundheit: pränatale Versorgung, medizinische Betreuung und Gesundheitsvorsorge,
- Schutz der Kinder: in der unmittelbaren Lebensumgebung - Schutz vor körperlicher Misshandlung (in Zusammenhang mit Armut, Arbeitslosigkeit, Minderheitendiskriminierung, Rassismus, Mädchen-/Frauendiskriminierung, sexueller Ausbeutung und gefährlichen Materialien),
- emotionale Bedürfnisse: Recht auf Liebe, Zuwendung, Würde und Lebensglück,
- soziale Bedürfnisse: Recht auf Familienleben, auf Teilhabe an Entscheidungen (Partizipation/citizenship), Kontakt mit Gleichaltrigen, kulturelle und nationale Identität - Rekreation, Freiheit und Vereinsbildung,
- entwicklungsbedingte Bedürfnisse: Kontakt mit wichtigen Erwachsenen, eine anregende Umgebung von der Kleinkindzeit angefangen und altersstufengemäße Erziehung und Bildung und
- geistige Bedürfnisse: Gedankenfreiheit, Hilfe und Führung bei moralischen und ethischen Fragen sowie dem Bedürfnis nach Liebe und Frieden.
Der Katalog hat nicht nur politisch-rechtliche Bedeutung, er erfordert auch pädagogische Maßnahmen in allen Institutionen der Kinder- und Jugenderziehung.
Auf diese soll im folgenden Abschnitt der Besprechung europäischer Bildungskonzepte näher eingegangen werden.
4 Europäische Bildungskonzepte | |
Mit der Veröffentlichung des Weißbuches "Neuer Schwung für die Jugend Europas" (EC 2001) wird erstmals in der EU die Intention für eine integrierte Jugendpolitik angesprochen.
4.1 Themen | |
Relevante Themen sind die
- Partizipation Heranwachsender in die betreffenden Fragen und Entscheidungen,
- schulische und außerschulische Bildung,
- Sozial- und Arbeitsmarktpolitik,
- Integrationsbemühungen in die Gesellschaft mit der Bekämpfung von sozialem Ausschluss und
- Mobilitätsmaßnahmen in den Mitgliedsländern.
Von besonderem Interesse sind Konzepte mit der Thematik des Lernens.
- 1972 wurden das Europäische Jugendzentrum in Straßburg und das Europäische Jugendwerk mit der Absicht, die Europaferne der jungen Generation abzubauen, gegründet.
- 1989 entstand das "European Steering Committee for Intergouvernmental Co-operation in the Youth Field (Youth Direction)" mit dem Arbeitsprinzip des co-management zwischen nationalen Regierungsvertretern und Jugendorganisationen.
- Nach 1989 erweiterte die EU ihre Jugendaktivitäten mit der Gründung eines zweiten "Europäischen Jugendzentrums in Budapest" (1995) in dieser Region, womit - wie in Straßburg - eine weitere Begegnungsstätte errichtet werden konnte.
- Ziel ist ebenso auch der Aufbau von "Youth Non-Gouvernmental? Organisations".
- Eine Forschungsagenda auf europäischem Niveau zu verwirklichen, erscheint derzeit noch nicht realisierbar.
4.2 Schwerpunkte der Jugendarbeit | |
Schwerpunkte der Jugendarbeit des Rates sind
- Jugendmobilität,
- Informationspolitik in den Bereichen Arbeit, Bildung und Freizeit,
- Jugendpartizipation,
- Civic education/Antirassismus-Friedenserziehung-interkulturelles? Lernen und
- Jugendforschung zur Lebenslage Heranwachsender in Europa.
Mit der Gründung 1998 einer Arbeitsgruppe der europäischen Jugendminister zur Thematik "non-formal-education" wurde der Bereich der außerschulischen Bildung und dieses Lernens zur Diskussion gestellt.
Länder-Evaluationen? können ebenfalls durchgeführt werden. Insbesondere zeigen die neuen Beitrittsländer hier großes Interesse.
Alle Bemühungen zukünftiger Jugendpolitik zeigen das Interesse der EU an 75 Millionen Jungeuropäern im Alter von 15-25 Jahren, wobei die Altersgrenzen nach unten und oben auf Grund der rasanten Entwicklungstendenzen ausgeweitet werden.
4.3 Bildungsprogramme | |
Zusätzlich laufen in der Schul- und Bildungspolitik der Mitgliedssaaten eine Reihe von Programmen, die als "Socrates" für die Allgemeinbildung, "Leonardo da Vinci" für Berufsbildung und "Jugend für Europa" für außerschulische Bildung angeboten werden. "Tempus" zielt auf Mittel- und Osteuropa mit Bemühungen zur Transformation der Erziehungssysteme nach der Wende 1989.
Erwähnenswert für die studierende Jugend/Erwachsenengeneration ist die Entwicklung eines "European Credit Transfer Systems (ECTS)", mit dem die Anerkennung von Hochschulabschlüssen ermöglicht und stimuliert werden soll.
Das 2002 verabschiedete "eLearning-Programm" soll die Qualität der allgemeinen und beruflichen Bildung sowie den Zugang dazu verbessern (vgl. DICHATSCHEK 2004b, 145).
Das Programm "Jugend" bezieht sich sehr direkt auf Partizipation, soziale Integration und interkulturelle Erziehung. Informelle und außerschulische Lernerfahrungen sollen hier ermöglicht werden, eine Vernetzung und Austauschprogramme - auch für Behinderte - sowie ehrenamtliche Dienste sollen bei der Realisierung solche Bemühungen helfen.
Schwachpunkt all dieser Bemühungen und Angebote ist eine Überbürokratisierung, die mangelhafte Kontinuität und unzureichende Evaluation der Effekte. Zweifelsohne werden große Chancen ermöglicht, ebenso werden viele Möglichkeiten aus den genannten Gründen zu wenig oder kaum genützt.
4.4 Nationale Bildungspolitik | |
Ein Höhepunkt in der Beeinflussung nationaler Bildungspolitik war das EU-Bildungsminister-Treffen? von Lissabon 2000, in dem eine Verschränkung von Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik in Verbindung mit lebensbegleitendem Lernen angestrebt wird.
Hierbei geht es um
- die Qualitätsverbesserung der Allgemein-, Berufs- und Lehrerbildung,
- eine Durchlässigkeit der Bildungssysteme zum besseren Zugang für alle gesellschaftlichen Gruppierungen,
- ein erweitertes Grundcurriculum für alle Lernenden und
- eine Öffnung des Bildungssystems in regionale Räume/Wirtschafts-, des Europaraumes und der restlichen Welt.
Nationale Bildungseinrichtungen haben nunmehr die Aufgabe, neue Lernverbindungen zwischen formal, non-formal und informal learning sowie intrinsischer Lernmotivation bei SchülerInnen und LehrerInnen zu schaffen (vgl. HINTERGRUNDBERICHT DES bm:bwk ZUM ÖSTERREICHISCHEN LÄNDERBERICHT-MEMORANDUM? ÜBER LEBENSLANGES LERNEN DER EUROPÄISCHEN KOMMISSION, Wien 2001).
Es versteht sich von selbst, dass dies eine radikale Erneuerung bestehender nationaler Bildungssysteme - vor allem in Organisation und Verschränkung zwischen Allgemein- und Berufsbildung, in der Sprach- und IT-Kompetenz?, politischen und interkulturellen Bildung - erfordert.
Ebenso ist eine Individualisierung von Lernangeboten und Lernaktivitäten bei Integration von Risikolernenden erforderlich, damit es zu keinen/weniger Ausgrenzungen kommen kann.
Man kann in diesem Zusammenhang von einer europäischen Bildungsoffensive der Selbstverpflichtung sprechen, weniger aus pädagogischen Gründen, vielmehr zum Bestehen im wirtschaftlichen und sozialen Wettbewerb in einer globalisierten Welt.
Schwer zu beurteilen ist, inwieweit europäische Dokumente auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen sind. Jedenfalls wird eine große Zeitspanne dafür zu veranschlagen sein.
Auch weiß man nicht, ob nicht wirtschaftliche Gründe und Interessen progressive Ziele einengen und umgestalten werden, wie etwa am Beispiel der Privatisierung und Ökonomisierung von Teilen des Bildungssystems zu erkennen ist.
Wer in EU-Perspektiven? über Schule sich äußert, sollte das Verhältnis zwischen Schule und Gesellschaft beleuchten und sich nicht in Detaildiskussionen über Schulprobleme verstricken.
Hartmut von HENTIG deutet etwa die strukturelle Krise der Schule mit der Aussage: "Das Missverhältnis von Aufwand und Erfolg, von Absicht und Ergebnis ist so groß und jetzt so offensichtlich, dass die Menschen bereit zu sein scheinen, 'Denkübungen' zu machen" (HENTIG 1993, 10 bzw. 1999; M. van MANEN 1994/USA, zit. nach du BOIS-REYMOND? 2004, 127).
Hier wird expliziter und auffallend schärfer über eine Schulkrise in der Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaft gesprochen, wobei elf Kritikpunkte angebracht werden.
Kritik 1: Auffallend sind Änderungen in der Schulorganisation (Österreich), die zerklüftete Schullandschaft in ihrer Dreigliedrigkeit (Deutschland) und Ähnlichkeiten in den Niederlanden.
Kritik 2: Das pädagogische Verhältnis stimmt nicht mehr. Die alten Leitbilder taugen nicht mehr, es kommt zu Gewalt in der Schule und einem Abbau der LehrerInnen-Autorität?.
Kritik 3: An den Curricula wird bemängelt, dass der Sprachunterricht veraltet sei. Man fordert mehr Raum für interkulturelle Erziehung und Friedenserziehung.
Kritik 4: Bildungssystem und Arbeitsmarkt sind nicht mehr aufeinander abgestimmt. Die Problematik der Basisqualifikationen zeigt sich an diesem Beispiel und anderen Inhalten deutlich (vgl. DICHATSCHEK 2003/2004). Unterschiedlich ist die Beurteilung von Unter- bzw. Überqualifikationen und Maturanten- und Akademikerschwemme. Selbstverständlich darf Bildung keine Ware werden.
Kritik 5: Der Erlebnisgesellschaft in ihrer Vielfalt der Möglichkeiten ist die pädagogische Krise gleichgültig.
Kritik 6: Bildungssysteme sind überbürokratisiert.
Kritik 7: Bildungssysteme zeigen deutlich die Kluft zwischen dem Alltagsleben und schulischem Lernen auf. Die Club of Rome-Studie? "Zukunftschance Lernen" spricht bereits 1980 von dieser Kluft, die sich zunehmend vergrößert (vgl. DATTA 1994, 143-156).
Kritik 8: Wissen befindet sich heute in vielen Händen, Lernprozesse laufen aber nach altem Schema ab. Eine Vernetzung mit gesellschaftlichen Unternehmungen und Projekten fehlt. Auf derartige Konzepte ist Schule mit ihrer traditionellen LehrerInnen-Rolle? noch nicht eingestellt.
Kritik 9: Nationale Bildungssysteme sind nicht auf den EU-Arbeitsmarkt? eingestellt. Lehrer/innen und Dozenten/nnen sind kaum geschult, Lebensperspektiven ihrer Klientel - in Richtung künftiges Arbeits-, Berufs- und Wirtschaftsleben - in pädagogischen Veranstaltungen und entsprechender Bildungsberatung umzusetzen (vgl. DICHATSCHEK 1995, 67-76; DICHATSCHEK 2004b, 145).
Kritik 10: Anzeichen sprechen dafür, dass es zur Zweiteilung von Bildungssystemen in staatlich finanzierte und organisierte und neu strukturierte privat finanzierte Bildungssektoren kommt.
Kritik 11: Bildungssysteme sind kaum/ wenig auf Internationalisierung eingestellt (vgl. ADICK 1995, 157-180).
6 Europa - Hoffnung und Feindbild | |
Unter diesem Titel fand am 8./9. September 2014 im Kleinen Festsaal der Universität Wien eine Wissenschaftliche Konferenz des Sir Peter Ustinov Instituts/Wien statt.
Im Folgenden werden Überlegungen des Autors aus der Sicht der Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung zur Aus- bzw. Fortbildung Lehrender in europäisch-politischer und Sozialgeschichte vorgestellt (vgl. KAELBLE 2007, MAI 2007, GEHLER 2014).
Das politische System der Europäischen Union/EU sollte bekannt sein (vgl. POLLAK-SLOMINSKI? 2006).
Auf IT-Autorenbeiträge? wird verwiesen.
6.1 Begrifflichkeit - Name | |
Wer von Europa redet bzw. schreibt, wird an HERODOT als Vater der Geschichtsschreibung erinnert, der vor rund 2500 Jahren schrieb: "Von Europa weiß offenbar niemand Genaues" (vgl. MAI 2007, 11).
Man kann vieles von Europa meinen.
- Das geographische Europa ist keinesfalls mit seinen Grenzen besonders im Osten klar (Ural, Bosporus).
- Das politische Europa - unabhängig mit seiner "Osterweiterung" der EU auf 25 Mitglieder 2004 - betrifft etwa die Schweiz als mitteleuropäischen Staat nicht. Norwegen hat zweimal einen Beitritt zur EU abgelehnt. Bei der Türkei ist einen Beitritt umstritten, obwohl das Land Mitglied im Europarat seit dessen Gründungsjahr 1949 ist. Die östlichen Staaten wir Russland (ebenso Mitglied im Europarat), Moldawien, die Ukraine und/oder Weißrussland stehen nicht zur Debatte bzw. sind konfliktreich im Gespräch.
- Das sagenumwobene Europa beginnt mit der Namensgebung. Im heutigen Libanon ("Phönizien")lebte eine wunderschöne Prinzessin. Zeus verliebte sich in sie, verwandelte sich in einen Stier und näherte sich der Prinzessin und ihrer Gespielinnen am Strand. Es gelang ihm, dass sich die Prinzessin auf seinen Rücken setzte, er entführte sie, durchquerte das Meer und gelangte nach Kreta. Er gestand dem ängstlichen Mädchen, dass er der Göttervater Zeus sei. Dieser Prinzessin, die "Europa" hieß, verdankt mythologisch der Kontinent (bzw. Eurasien)den Namen.
Sprachwissenschaftler erklären den Namen aus dem semitischen "ereb" (Abend, Dunkelheit), weil die Phönizier Griechenland in Richtung untergehender Sonne sahen. HESIOD nannte im 8. Jahrhundert v. Chr. erstmals in einem Text den Namen "Europa".
Die Griechen teilten im 6. Jahrhundert v. Chr. die Erde in Europa und Asien, HERODOT fügte den nördlichen bekannten Teil Afrikas (Libyen) als dritten Erdteil dazu. Als Grenzfluss galt damals der Don.
Literaturhinweis
Mai 2007, 11-14
6.2 Europäisch-politische Geschichte | |
Im Folgenden wird überblicksmäßig auf wesentliche Aspekte' einer europäisch-politischen Geschichte im Rahmen einer Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung eingegangen. Sie erheben - im Selbstverständnis einer Politischen Bildung - keinen Anspruch auf umfassende historische Informationen (vgl. MAI 2007; GEHLER 2014, 11-108).
Antike - Hellas-Rom? | |
- Die Wiege der politischen Geschichte ist das antike Griechenland vor ungefähr 2500 Jahren. Mit vielen untereinander zerstrittenen Klein- und Stadtstaaten ("Polis") entwickelten sich diese verschieden. Athen und Sparta als führende Städte waren solche Beispiele.
- Sparta setzt auf militärische Stärke, vergrößert sich am Peloponnes und hat ein wohl organisiertes Sklaventum.
- Athen auf der Halbinsel Attika mit reichen und adeligen Landbesitzern sowie Unterdrückung und Ausbeutung der Bauern setzt auf Schlichtung/ Regelung mit Einverständnis beider Seite. SOLON als erster Schlichter bestimmt, dass Besitz und Rechte der reichen Adeligen begrenzt und armen Bauern Schulden erlassen werden. Folgenreich war die "Solonische Verfassung" mit mindestens vierzig Mal im Jahr Volksversammlungen zur Diskussion wichtiger Fragen, Beschluss von Gesetzen und Entscheidung von Krieg und Frieden. Die Ausführung der Gesetzte oblag einem Rat, die Einhaltung einem unabhängigen Volksgericht. Diese Form wurde "Demokratie"(Volksherrschaft) benannt.
- Solon als erster großer Staatsmann der europäischen Geschichte führte mit seinen Reformen und in der Folge mit Kleisthenes und Perikles auch zu einer neuen Lebensform. Für Männer galt nicht Befehl und Gehorsam, vielmehr Rede und Gegenrede ("öffentliches Nachdenken").
- Alle Aspekte beleuchten war die Grundlage für die Philosophie. Mit der Selbständigkeit des Denkens machte man sich frei von religiösen Abhängigkeiten.
- Die Perser bedrohten als Großmacht im Osten das kleine Hellas. Athen und Sparta unterwarfen sich nicht, es schien zu einem Zusammenschluss zu kommen. In der Schlacht von Marathon kämpften die Athener nahezu allein, es gelang die Perser in die Flucht zu schlagen ("Wunder von Marathon"). Zehn Jahre später gelang es unter der Führung Spartas die persische Flotte in der Meerenge von Salamis zu vernichten.
- Wegweisend im Selbstverständnis der Griechen waren die Perserkriege auch als Kampf gegensätzlicher Welten - Freiheit vs. Unterdrückung, Demokratie vs. Tyrannei, Europa vs. Asien. Mit beiden Siegen gelang es, die kulturellen Leistungen zum Fundament Europas werden zu lassen.
- Die Demokratie hatte die Chance einer Weiterentwicklung. Es gab eine direkte Demokratie mit einer Mitbestimmung und Mitverantwortung der Bürger (mit Ausschluss von Frauen). Das Menschenbild beinhaltete Tugenden wie Vernunft, Augenmaß, Selbstbewusstsein, Bescheidenheit, Gemeinsinn und Verantwortungsbewusstsein.
- Zu beachten sind Ideen (Erkenntnisse) im antiken Griechenland, wie die Sonne ist keine Gottheit, vielmehr glühende Gesteinsmasse (Anaxagoras), die Kenntnis von Atomen als kleinste Teile von Materie (Demokrit), Krankheiten haben eine natürliche Ursache (Hippokrates). Die Sophisten machten den Menschen zum Maß aller Dinge. Das westliche Denken wurde von Philosophen wie Sokrates, Platon und Aristoteles geprägt.
- Rom war zur Blütezeit Athens ein unbedeutendes Bauerndorf am Tiber. Mit der Unterwerfung der Nachbarn wurde der Herrschaftsbereich größer.
- Man lehnte sich gegen die Etrusker auf, stürzte den verhassten König und bildete in der Folge die "res publica" (römische Republik). Nicht die Demokratie, vielmehr eine Mischform wurde für Rom gewählt. Man wählte eine Stadtregierung, den Magistrat mit zwei Konsuln an der Spitze für ein Jahr - damit keiner mächtiger als andere sein konnte. Die eigentliche Macht lag beim Senat, einer Versammlung von Männern aus vornehmen Familien auf Lebenszeit ("Patrizier").
- Männer des einfachen Volkes ("Plebejer") hatte in der Folge Rederecht, konnten Gesetze mitbeschließen und den Magistrat mitwählen, Ein ausgeklügeltes Mehrheitswahlrecht bevorzugte die wohlhabenden Römer.
- Mit dem "Zwölf-Tafel-Wahlrecht?" wurde das Plebejertum gleichgestellt, Willkür verhindert und damit Rechtssicherheit geschaffen (Zwang zu Gerichtsverfahren, Notwendigkeit eines Schuldbeweises). Das römische Rechtswesen wurde Vorbild vieler europäischer Rechtsordnungen.
- Die vielen Kriege bevorzugten das Patriziertum mit Kriegsbeute, Kriegsgefangenen als Sklaven. Die Plebejer und Bauern gingen in der Regel leer aus.
- Mit Gaius Julius Cäsar ging aus einem Bürgerkrieg ein großer Sieger hervor (Diktator für zehn Jahre, später auf Lebenszeit). Trotz Republik regierte Cäsar als Alleinherrscher (Diktator) bis zu seiner baldigen Ermordung.
- Aus den jahrelangen Machtkämpfen ging der Adoptivsohn Cäsars Octavian als Sieger hervor, in der Folge mit dem Ehrentitel "Augustus" ("der Erhabene") und mit dem Titel "Cäsar" (daraus entstand der Titel "Kaiser") ausgezeichnet. Mit dem Senat, der Volksversammlung und als Herrscher über das Heer und die Staatskasse konnte gegen seinen Willen nichts entschieden werden. Die "res publica" wurde eine Monarchie, in der der Kaiser alle Macht hatte. Genützt wurde diese Macht aber auch für Kunst und Kultur. Dichter am Hof waren Vergil, Horaz und Ovid, als Philosoph ragte Seneca heraus, die Geschichtsschreibung beherrschten Livius und Tacitus.
Um 120 erreichte Rom/das Römische Reich seine größte Ausdehnung. Römisch waren der Raum um das Mittelmeer, Gallien, Germanien bis zum Rhein, ein großer Teil Britanniens, der Balkan und das Schwarze Meer mit Kleinasien.
Kennzeichnend für die Vielfalt der Völker waren
- das Beibehalten der Sitten und Bräuche,
- das Römische Recht,
- römische Münzen als Zahlungsmittel und der nachdrückliche Wunsch der
- Verehrung der römischen Götter.
- Latein und Griechisch waren die beiden Haupt- bzw. Verkehrssprachen.
- Ein gutes Straßennetz für den Truppentransport und Handel sowie Häfen und die Schifffahrt wurden gebaut.
- Im Städtebau gab es im Zentrum das Forum für öffentliche Versammlungen. Werkstätten, Geschäfte, Gasthäuser und öffentliche Bäder bildeten das Stadtbild.
Römische Provinzen als Besatzungsgebiete erlebten einen beispielhaften Aufschwung.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 1, 1975, 42-97,111-174
Mai 2007, 15-23
Zu den Grundpfeilern Europas gehörte neben den Ideen der Griechen und Römer das Christentum. Seine Wurzeln waren in Palästina bzw. Kleinasien. Juden lehnten die römische Besatzung und Vielgötterei ab (Monotheismus/"Jahwe"). Man hoffte auf den "Messias" ("Erlöser").
In Jesus aus Nazareth sagen viele diesen Erlöser. Mit rund 30 Jahren trat er in die Öffentlichkeit als Prediger. Er verkündete öffentlich, dass alle Menschen Kinder Gottes seien, die unendliche Liebe Gottes im Himmel und die Gleichheit aller Menschen. Seine Sprache war die Sprache des Volkes. Gottes Gebote wurde in Geschichten der einfachen Menschen wie Bauern und Fischer, ungehorsame Söhne und verlorene Schafe gekleidet ("Gleichnisse").
Nach den biblischen Berichten fand Jesus viele Anhänger, vor allem unter den Armen und Schwachen. Im baldigen Reich Gottes sollte Friede, Gerechtigkeit und Liebe unter den Menschen herrschen. Eine solche Lehre war eine Provokation für die jüdischen Priester und römische Obrigkeit. Folgen waren Beschimpfungen, Spott und letztlich die Verurteilung zum Tod am Kreuz durch Pontius Pilatus. Seine Anhänger und Schüler, vor allem die zwölf "Jünger", verkündeten später die Auferstehung Jesu von den Toten und die Himmelfahrt. Für sie war er Gottes Sohn, der ersehnte Messias (das heißt Christus/Erlöser).
Erste christliche Gemeinden entstanden in Palästina, verbreitet wurden sie über Kleinasien nach Westen. Eine entscheidende Rolle spielte der Apostel Paulus. Hoch gebildet und wortgewaltig unternahm er Reisen, gründete christliche Gemeinden und bestärkte seine Anhänger durch Reden und Briefe.
Als unbedeutende Minderheit kümmerte sich die römische Führung nicht um Christen. Zu ersten Verfolgungen kam es wegen der Verweigerung des Bekenntnisses eines göttlichen Kaisers, weil dies als Hochverrat anzusehen sei. Tacitus beschreibt in den "Annalen" die Verfolgung von Christen unter Nero. Zu vermuten ist hier auch der Tod der Apostel Petrus und Paulus.
Erst unter Konstantin d. Gr. änderte sich die Lage der Christen. 313 erklärte er, dass "die Religionsfreiheit nicht verwehrt" werden dürfe. Damit wollte er die Christen für sich gewinnen. Unter seinem Schutz wurde das Christentum zur führenden Religion des Römischen Reiches. Unter seiner Herrschaft flossen christliche Ideen in die römische Gesetzgebung (christliche Ehe, Sonntag als Tag des Herren).
324 wurde Byzanz, nach ihm benannt Konstantinopel, neue Hauptstadt des Reiches (Klammer zwischen Ost und West, Lage am Bosporus, Bau von prächtigen Gebäuden/Anlagen, Verbindung von griechischer und orientalischer Kultur). Zum einigenden Band im Reich sollte das Christentum werden (Kaiser als Schutzherr über die christliche Kirche). Der "Patriarch" von Konstantinopel (oberster Bischof) unterstellte sich dem Kaiser.
Der Bischof von Rom war dazu nicht bereit. Auf den Apostel Petrus sich berufend, berief er sich auf die Führung der Christenheit ("Bischof von Rom", später "Papst"). Rom als Hauptstadt der Christenheit beanspruchte Bedeutung, als Hauptstadt des Reiches war es abgelöst.
Im östlichen Teil des Reiches entstand die "Griechisch-Orthodoxe? Kirche" mit dem Kaiser als Oberhaupt und Vertreter Gottes (dargestellt mit Heiligenschein auf Bildern).
Nach der Spaltung der jungen Christenheit wurde auch das Römische Reich 395 geteilt. Germanische Stämme griffen den westlichen Teil an, 476 hörte das Weströmische Reich auf zu bestehen. Das Oströmische Reich überdauerte noch weitere 1000 Jahre.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd.1, 1975, 174-176, 188-189
Mai 2007, 24-27
Frankenreich | |
Die Entwicklung im größten Teil Europas bestimmten germanische Stämme nach dem Ende des Weströmischen Reiches. Zusammen mit den Errungenschaften römischer Kultur kam es zu einer Verschmelzung des Römertums mit den germanischen Sitten und Bräuchen.
Erfolgreich und skrupellos war der Frankenfürst Chlodwig, der sich gegen alle Stammesfürsten und Verwandten durchsetzte. In der Folge als König eroberte die Gebiete der Alemannen, Burgunder, Westgoten und ganz Gallien. Um 500 entstand das Frankenreich (in der Folge später Frankreich, Deutschland und die BENELUX-Staaten?). Er ließ sich taufen, verlangte das von den Untertanen und wurde der Begründer des christlichen Europas mit Gewalt und Brutalität. Erst 200 Jahre später wird mit dem Mönch und Bischof Bonifatius die endgültige Christianisierung zugeschrieben.
300 Jahre nach Chlodwig wurde Karl aus dem Geschlecht der Karolinger Alleinherrscher des Frankenreiches. Nach langen Kämpfen, besonders mit den Sachsen (Widukind), wurden alle germanischen Stämme im Reich vereint. Mit der Krönung 800 vom Papst in Rom wurde ein "Weströmisches" Reich begründet. Neben den vielen Kriegen ist Karl (später "der Große") ein Förderer von Wissenschaft, Kunst und Literatur gewesen.
Eine neue Herrschaftsform auf germanischer Tradition zur Sicherung und Verwaltung des Reiches wurde geschaffen. Treue Gefolgsleute ("Vasallen") belohnte man mit geliehenen Gütern für ihre Dienste mit Landgütern und dort lebenden Bauern ("Lehen"). In der Folge bildete sich eine Lehensordnung (Pflichten, Rechte - Lehensherr und Vasallen). Langsam wurde es geltendes Recht, das Lehen an den Erstgeborenen weiterzugeben.
Das Lehensprinzip ist Grundlage in weiten Teilen Europas der mittelalterlichen Ordnung ("Feudalordnung"). Diese beruht auf Ständen, an der Spitze mit dem Kaiser, darunter weltliche und geistliche Reichsfürsten. Unter ihnen folgten Ritter, Beamte, reiche Bürger und Handwerker. An der untersten Stufe standen rechtlose leibeigene Bauern.
Kinder der unteren Stände wurden wie Erwachsene behandelt, eine Kindheit gab es nicht (Arbeit am Hof und im Haus, frühe Heirat zur Vergrößerung der Untertanen).
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 2-24
Mai 2007, 28-30
Frankreich - Deutschland | |
In der Folge konnte das Frankenreich nicht zusammengehalten werden. Ludwig der Fromme teilte es unter seine drei Söhne, gegen den ältesten Bruder Lothar verbündete man sich. Sie schworen sich im Straßburger Eid 842 die gegenseitige Treue. Es zeigte sich eine Sprachgrenze bei der Eidesleistung (Westfranken- altfranzösisch, Ostfranken-altgermanisch).
- Nach Auseinandersetzungen der Stammesfürsten fielen Nordgermanen (Normannen, Wikinger) in das Westfrankenreich ein und standen 885 vor Paris. Herzog Odo (Kapetinger) rettete die bedeutendste Stadt des Reiches. 888 wurde er als König gewählt. 978 begründete Hugo die Regentschaft der Kapetinger, in der Folge kam es zu einer Erbmonarchie mit Paris als Königssitz. Bis 1328 regierten die Kapetinger ununterbrochen.
- Die Entstehung des französischen Nationalstaates wird mit dem Treueschwur aller Fürsten an Philipp II. 1214 angenommen, der für die Rückeroberung verlorener Gebiete an die Engländer geleistet wurde.
- Im Ostfrankenreich wurde nach dem Aussterben der Karolinger der Sachsenherzog Otto I. zum König gewählt, dem es gelang, die Macht der Fürsten einzuschränken.
- 950 unterwarf er Böhmen und Mähren.
- 962 ließ er sich in der Nachfolge von Karl dem Großen in Rom vom Papst zum Kaiser krönen. Damit waren deutsche Könige wieder Römische Kaiser und Schutzherren des Christentums.
- 995 gelang ihm nach jahrzehntelangem Kampf in der Schlacht am Lechfeld der entscheidende Sieg gegen die Ungarn(Magyaren).
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 24-25, 28-29, 32-41
Mai 2007, 31-33
Nordeuropa | |
Noch im Karolingerreich begannen die Dänen sich vom Frankenreich abzugrenzen. Um 950 waren alle Dänen in einem Reich vereint, König Harald Blauzahn wurde getauft und setzte gegen den Widerstand der Untertanen die Christianisierung durch.
- Bereits im 9. Jahrhundert unternahmen dänische Wikinger Raubzüge in das Frankenreich, um 1000 griffen sie England an. Knut II. besiegte diese endgültig und wurde König von England. Diese Vorherrschaft im Nordseeraum führte zum Widerstand der Schweden und Norweger, es kam zu Kämpfen und letztlich konnten die Dänen einen Teil Norwegens unterwerfen. Knut II. wurde König eines großen Reiches, eine dänische Glanzzeit - wenn auch kurz - begann. Mit dessen Tod 1035 zerfiel das Reich, übrig blieb ein kleines Land.
- Die Svear in Schweden konnte sich in den germanischen Stämmen durchsetzen und bis 1000 eine einheitliche Herrschaft errichten. Erbitterten Widerstand gab es bei der Christianisierung durch deutsche Missionare. Erst als sich König Olaf III. 1008 taufen ließ, fasste das Christentum langsam Fuß. Schwedische Wikinger ("Waräger")als Kaufleute und Krieger zogen immer über Flüsse und Seen immer weiter in den Süden. Es entstanden Handelswege von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.
- 872 gelang es Harald Schönhaar mit der Unterwerfung der Stammesfürsten den Grundstein für das Königreich Norwegen zu legen. Nach dessen Tod zerfiel das Reich und geriet abwechselnd unter dänische und schwedische Herrschaft.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 25-27
Mai 2007, 34-36
Britische Inseln | |
Im Folgenden wird skizzenhaft die historische Entwicklung aus der Sicht der Politische Bildung dargestellt.
- Große Teile der Britischen Inseln gehörten zum Römischen Reich (Caesar, Hadrian). Zur Zeit der Völkerwanderung zogen die Römer sich zurück.
- Seit dem 5. Jahrhundert siedelten sich Angeln und Sachsen an, die aus dem heutige Schleswig-Holstein? kamen. Die einheimische keltische Bevölkerung wurde in die nördlichen (Schottland) und westlichen Teile (Wales) gedrängt. 500 Jahre konnten die Angelsachsen ihre Herrschaft behaupten.
- Nach den Dänen im 11. Jahrhundert rief man den Angelsachsen Eduard von Wessex aus der Normandie zurück und machte ihn zum englischen König. Auf Kosten der Macht dieses schwachen Königs entwickelten sich die Grafen von Godwin als einflussreiche Adelsfamilie.
- Entgegen der Hoffnungen auf die Krone wurde Wilhelm, Herzog der Normandie ("der Eroberer"), nach der Schlacht bei Hastings neuer König von England. Die angelsächsische Oberschicht wurde entmachtet, normannisch-französische Adelige übernahmen den Platz (französisches Lehenswesen, französische Sprache). Wilhelm blieb auch Herzog der Normandie.
- In der Folge verbrachten englische Könige oft längere Zeiten in Frankreich. Der englische Adel nützte die Abwesenheit. Mit der Niederlage von Johann Ohneland zwang der Adel 1215 den König die "Magna Charta Libertatum" zu unterzeichnen. Erstmals wurde festgeschrieben, dass der König nur mit Zustimmung der Fürsten, Bischöfe und Barone Steuern einheben dürfe. Die Kontrolle durch eine Versammlung hoher Adliger findet statt und ein Gremium hat den König bei wichtigen Entscheidungen zu beraten (Keim einer parlamentarischen Vertretung).
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 27-28
Mai 2007, 37-39
Europäischer Osten | |
Seit dem 4. Jahrhundert siedelten im Osten Europas slawische Stämme an. Zu mächtigsten entwickelte sich im 9. Jahrhundert das Kiewer Reich, in dem die schwedischen Waräger herrschten - benannt "Rus", abgeleitet aus dem Finnischen "Ruotsi" (Land Schweden) und seinen Bewohnern ("ruotsalainen"). In der Folge wurden alle Bewohner des Kiewer Reiches so bezeichnet(das das heutige Russland, Weißrussland und die Ukraine umfasste).
Im 10. Jahrhundert beanspruchte Mieszko, Herzog der "Polanen", den Führungsanspruch. 966 wurde er getauft und brachte das Land in die europäisch-christliche Staatengemeinschaft. Sein Sohn Boleslaw wurde der erste König des ab 1000 benannten Reiches von Polonia. Als Gegner des Kiewer Reiches eroberte er Schlesien, Pommern und Mähren und drang bis in das Gebiet um Kiew vor. In der Folge verlor er wieder die Gebiete, die damaligen Grenzen verliefen ungefähr wie die heutigen. Das nach den Polanen benannte heutige Polen erlitt eine wechselhafte Geschichte zwischen den beiden Nachbarn im Westen und Osten.
Als südlicher Nachbar ließen sich im fruchtbaren Gebiet zwischen Theiß und mittlerer Donau die Magyaren (Ungarn) nieder. Ihre Urheimat lag zwischen dem Ural und dem Kaspischen Meer. Das Nomadenvolk hatte zunächst nicht die Absicht, sich niederzulassen. Mit ihren schnellen Pferden kam es zu Raumzügen, die bis an die Nordsee, nach Frankreich und Italien und vor die Tore von Byzanz führten. Mit der Niederlage am Lechfeld 955 wurden sie endgültig sesshaft. Es begann unter Großfürst Géza eine Vermischung mit slawischen Stämmen. Die Eingliederung in das christliche Europa wurde unter seinem Sohn Vajk, getauft auf den Namen Stephan, vollzogen. Die Verbindung zu westlichen Ländern gelang über die Heiratsdiplomatie, wobei sein Sohn die Tochter des Bayernherzogs heiratete. Mit Hilfe von Papst Silvester II. und des deutschen Kaisers kam es zu einer Aufwertung Ungarns mit der Erhebung Esztergoms zum Erzbistum und der Krönung Stephans 1001 (Stephanskrone als Symbol der Unabhängigkeit Ungarns).
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 28
Mai 2007, 40-42
Mittelalterliche Machtverteilung - Investiturstreit | |
Nunmehr ist das "Heilige Römische Reich" (Deutscher Nation)für lange Zeit das größte und mächtigste Reich in Europa. Gemeinsam mit allen anderen Reichen ist das Christentum als offizielle Religion, womit die religiöse Dimension in Europa beachtenswert ist.
Mit der zunehmenden Kritik am geistlichen Leben und dem Lebensstil von Geistlichen entstand als Gegenbewegung die Reformbewegung des Benediktinerklosters Cluny/Burgund. Gefordert wurde eine Rückkehr zu den Idealen des heiligen Benedikt ("ora et labora") mit einer Änderung des Klosterlebens und auch der Kirche (zu große Nähe zu weltlichen Dingen). Es beginnt eine Auseinandersetzung um die Frage des Verhältnisses zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft (Macht).
- Heinrich III. sah sich wie seine Vorgänger als Beschützer der Christenheit. Er setzt Bischöfe und sogar den Papst ab.
- Als sein minderjähriger Sohn Heinrich IV. ihm folgt, wird die Papstwahl von sieben Kardinälen ohne Einmischung des Kaisers durchgesetzt.
- Der Mönch Hildebrand als Papst Gregor VII. formuliert im "Dictatus Papae" 1075 das Verhältnis von geistlicher und weltlicher Macht (Einsetzung und Absetzung der Bischöfe durch den Papst, Absetzung des Kaisers durch den Papst, Fußkuss der Fürsten, alleinige richterliche Gewalt durch den Papst, Entbindung des Treueeides gegen schlechte Herrscher durch den Papst, kein Irrtum der römischen Kirche).
- Mit der Ablehnung und Empörung der europäischen Fürsten, besonders auch Heinrich IV., wurde das Recht auf die Einsetzung ("Investitur") von Bischöfen nicht verzichtet.
- Mit der Absetzung des Papstes durch Heinrich IV. wurde dieser in Bann gesetzt (Rechtlosigkeit des Kaisers). In der Folge schlugen sich viele Fürsten auf die Seite des Papstes. Als der Druck auf Heinrich so stark wurde, musst sich der Kaiser mit dem Papst versöhnen ("Gang nach Canossa"/Vergebung).
- Als reuiger Sünder wurde der Kaiser wieder in die Kirche aufgenommen.
- Erst mit dem "Wormser Konkordat" 1122 wurde ein Kompromiss gefunden (Stellung des Papstes als Oberhaupt der Christenheit).
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 45-55
Mai 2007, 43-45
Kreuzzüge | |
Für den mittelalterlichen Menschen war der christliche Glaube Grundlage des Lebens. Daher waren die Gebote der Religion zu befolgen. Christen pilgerten in das "Heilige Land", zu den Orten des Wirkens von Jesus. Muslimische Araber ließen dies zu.
Erst als türkische Seldschuken 1071 das Gebiet eroberten, änderte sich dies. Gefordert wurde Eintrittsgeld, es kam zu Gräueltaten. Dies war für Papst Urban II. Anlass, gegen die "Heiden" vorzugehen. 1095 rief er die Christen zum Krieg gegen die Türken (im Zeichen des Kreuzes/"Kreuzzüge") auf.
Mit einer gewaltigen Resonanz folgten dem Aufruf rund 330 000 Menschen, wobei die Motive höchst unterschiedlich waren (reiche Beute, Glauben an Erlösung). Schon im ersten Kreuzzug richteten die Kreuzfahrer ein fürchterliches Blutbad an.
Kreuzfahrer gründeten christliche Gemeinschaften. Sogar ein "Kinder-Kreuzzug?" mit katastrophalen Folgen wurde durchgeführt.
Für das christliche Abendland waren die Kreuzzüge eine (erste) Berührung mit fremden Kulturen .
- Man staunte über imposante Städte, öffentliche Badeanstalten, Gesundheitseinrichtungen, Bibliotheken, Schulen und prächtige Moscheen.
- Zudem lernte man eine andere Handwerkskunst und Essensgewohnheiten kennen.
- Der Handel mit dem Orient nahm zu. Hafenstädte wie Venedig und Genua wurden bedeutend.
- Neue Kenntnisse in den Naturwissenschaften und das Erbe der Araber der Antike kamen nach Europa. Das arabische Zahlensystem wurde langsam eingeführt.
- Christen lernten von den Muslimen und nicht umgekehrt.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 57-64
Mai 2007, 46-48
Rittertum | |
Ritter waren schwer gerüstete Reiter für Schlachten und entwickelten sich in der Folge zu einem eigenen Stand mit eigener (Aus-) Bildung und eigenen Standesregeln (Schutz des Glaubens-Schutz? der Gerechtigkeit-Schutz? der Frauen und Armen; Page-Knappe-Ritter?). Allerdings gab es auch ein Raubrittertum.
Ritterliches Leben hatte als Abwechslung Turniere, Feste und Minnegesang, in der Sprache des Volkes zum Unterschied zur geistlichen Dichtung. In Frankreich entstanden so Romane über König Artus und seine Tafelrunde und bei uns das Nibelungenlied.
Städte im Mittelalter | |
Mit dem Abstieg des Rittertums entstanden im 13. Jahrhundert gleichzeitig ein Bürgertum in Städte. Städtegründungen ergaben sich durch den aufstrebenden Handel, insbesondere an Kreuzungen von Handelswegen, Flüssen und Häfen, in der Nähe von Burgen und Klöstern. Mittelpunkt war der Marktplatz, wo Kaufleute, Handwerker und Bauern ihre Waren gegen Gebühren anboten. Neuen Bürgern wurden Steuern erlassen, Beruf und Wohnung konnte frei gewählt werden. Geheiratet konnte werden, wen man wollte. "Stadtluft macht frei" zog viele Menschen in Städte. Es gab Unterschiede zwischen Arm und Reich. Viele Landarbeiter und Handwerksburschen waren arm und damit nicht frei. Isoliert lebte die jüdische Bevölkerung in Ghettos ("Diaspora"). Seit 1215 mussten sie mit einem gelben Fleck an der Kleidung und einem spitzen Hut erkennbar sein. Es kam zu Ausschreitungen, Verfolgung und Mord (Pogrome).
Mit dem zunehmenden Fernhandel kam es zur Geldwirtschaft, gebaut wurden kleine Fabriken (Manufakturen). Im 14. Jahrhundert entstanden die ersten Banken (Kredite gegen Zinsen - Medici/Italien-Fugger, Welser/Deutschland), die selbst dem Kaiser Geld liehen und damit Einfluss auf die Politik nahmen.
Mit den Städteentwicklungen verbunden war die Baukunst und Entstehung der ersten Lateinschulen und Universitäten (Bologna, Paris, Cambridge, Prag, Wien, Heidelberg, Köln). Es entstanden Dome, Kathedralen und Rathäuser. Glaube und wissenschaftliches Denken wurde gelehrt.
Im Mittelalter gab es Folter, Verbrennungen und als Seuche die Pest. Allein im 14. Jahrhundert starben rund ein Drittel der europäischen Bevölkerung.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 74-76, 89-106
Mai 2007, 49-53
Reformation | |
Mit der Verweltlichung der "Kirche" kam es zur Kritik an Zuständen und der Praxis. Forderungen nach Reformen wurden bereits von "Vorreformatoren" erhoben (Johannes Hus, John Wicliff, Petrus Waldus).
Der Konflikt entstand um den "Ablasshandel", gegen den sich der deutsche Mönch und Theologieprofessor Martin Luther wandte. Mit 95 Thesen, aus der Bibel begründet, wird Kritik an den Ablasspredigern formuliert (1517). Vier Jahre später lud Kaiser Karl V. den "widerspenstigen Mönch" zum Widerruf vor den Reichstag von Worms. Der Kurfürst von Sachsen beschützt und versteckt Luther (Wartburg/Übersetzung der Bibel in eine damalige deutsche Standardsprache). Andere deutsche Fürsten stellten sich auf die Seite Luthers verließen die "Katholische Kirche".
Im Reichstag von Augsburg 1530 versuchte man vergeblich, eine Einigung unter der persönlich Leistung von Kaiser Karl V. herbeizuführen. Eine von Philipp Melanchthon verfasste Zusammenfassung der evangelischen Glaubenslehre - die Confessio Augustana (Augsburger Bekenntnis) - wurde vorgelegt.
Erst im "Augsburger Religionsfrieden" 1555 wurde die Lehre und Evangelische Kirche als gleichberechtigt anerkannt. Jeder Fürst konnte entscheiden, welche Religion in seinem Land gelten sollte.
Die Reformation blieb nicht auf Deutschland beschränkt. Ulrich Zwingli und vor allem Jean Calvin entwickelten eine eigene Lehre, die sich von Luther deutlich unterschied. In der "Prädestination" (Vorherbestimmung) wird von unterschiedlichen Bedingungen für Menschen ausgegangen (ewiges Leben vs. ewige Verdammnis). Nach calvinistischer Lehre wird jemand als Auserwählter Gottes bereits zu Lebzeiten sichtbar. Fleiß und Sparsamkeit ergibt ewiges Leben, ansonsten droht die Hölle. Damit wurde eine wichtige Antriebskraft für den modernen Kapitalismus geschaffen.
In Europa verbreitete sich Calvins Lehre (Süddeutschland, Niederlande, Frankreich/"Hugenotten", Schottland und England/Auswanderer als "Puritaner"). Bis heute haben Puritaner großen Einfluss auf die Entwicklung der USA ("Gods own country").
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 173-207
Rudolph 2002, 77-89
Mai 2007, 54-56
Iberische Halbinsel | |
Araber hatten 711 die Iberische Halbinsel über die Meerenge von Gibraltar weitgehend erobert. Die Pyrenäen bildeten die Nordgrenze. 772 vereitelte Karl Martell die weitere Eroberung nach Norden.
In der Folge lebten in "al Andalus" 300 Jahre lang Muslime, Juden und Christen neben- und miteinander( Blütezeit der Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur). Cordoba als Residenzstadt galt als eine der schönsten Städte der Welt. Berühmt ist Granada mit der Festungsanlage Alhambra.
1064 rief Papst Alexander II. zum Kampf gegen die Muslime ("Mauren") auf , versprach Segen und Sündenablass. Es entwickelte sich eine Art Kreuzzugscharakter, der in einem kleinen Restreich Granada endete.
Lange Kämpfe zwischen den christlichen Fürsten ließen die Königreiche Kastilien und Aragon entstehen. 1469 wurden Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon vermählt, damit wurde die Basis für einen spanischen Nationalstaat gelegt. Ziel des Königspaares war die religiöse Einheit des Reiches. Muslime und Juden verließen das Land, wer nicht Christ werden wollte, landete in Folterkellern. Die "Inquisition" zählte viele Opfer.
1492 wurde letztlich das muslimische Granada erobert, Isabella unterstützte Christoph Columbus bei dem Versuch Indien auf dem Seeweg über den Atlantik zu erreichen. Amerika wurde wiederentdeckt, Spanien wurde ein Weltreich.
Die Grafschaft "Portucalia" war ein Lehen des kastilischen Königs. Seit dem 11. Jahrhundert wollte man unabhängig werden. 1135 verweigerte Graf Alfons Heinrich den Lehenseid und mit dem glanzvollen Sieg über die Araber 1139 erklärte sein Land für unabhängig und wurde König Alfons I. von Portugal. Zur Sicherheit unterstellte er sein Königteich dem Papst, der die Unabhängigkeit bestätigte. Portugal hat seine Territorialität kaum verändert.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 212-213
Mai 2007, 57-59
Das "dritte Rom" | |
Zu Beginn des 13. Jahrhunderts hatten die Mongolen das Kiewer Reich erobert. Unangetastet blieben die politischen Strukturen und die Kirche. Wesentlich waren Tributzahlungen, Soldaten und Sklaven, die Fürsten zu leisten/stellen hatten. Über 200 Jahre dauerte die Mongolenherrschaft ("Goldene Horden").
Vom Teilfürstentum Moskau aus ging die Befreiung des Landes aus. In der Folge konnten angrenzende Fürstentümer übernommen werden, es bildete sich ein Moskauer Großfürstentum. 1380 konnte in der Schlacht auf dem Schnepfenfeld am Don ein Sieg über die Mongolen errungen werden. Moskauer Großfürsten sahen sich als Vorkämpfer gegen die Fremdherrschaft.
Schließlich gelang es Iwan dem Großen die Herrschaft der Mongolen zu beenden. Die staatliche Einheit Russlands wurde hergestellt. Seit Konstantinopel 1453 von muslimischen Türken erobert wurde, betrachtet sich Moskau als Verteidiger des Christentums und Nachfolge des byzantinischen Kaisers. Man fühlt sich als rechtgläubige Christen ("Orthodoxe") und erklärte Moskau zum "dritten Rom". Man kapselte sich vom Westen bewusst ab.
1547 wurde Iwan IV. (der Schreckliche) zum Zar (Kaiser) gekrönt. Russische Geistliche anerkannten die Führungsrolle des Zaren.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 133-138
Mai 2007, 60-61
Schweiz | |
Mitten im "Heiligen Römischen Reich" hatten die Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden mit einigen Städten die Reichsfreiheit erkämpft. 1291 schossen die drei Kantone einen "Ewigen Bund" gegen die Habsburger, die seit 1273 den Kaiser stellten.
Nach einer Legende trafen sich die Vertreter der drei Urkantone auf dem Rütli und schworen die Befreiung des Landes von den Habsburgern. Als "Eidgenossen" schlugen sie 1315 in der Schlacht am Morgarten ein Habsburger Heer. In der Folge schlossen sich andere Kantone an die Eidgenossenschaft.
1499 errangen sie die Unabhängigkeit vom Reich. Völkerrechtlich wurde die Schweiz erst im Westfälischen Frieden 1648 als unabhängiger Staat anerkannt.
Literaturhinweis
Mai 2007, 62-63
Niederlande | |
Auch die die Niederlande wehrten sich gegen die Herrschaft der Habsburger. Kaiser Karl V. (auch König von Spanien) dankte 1556 ab, sein Sohn Philipp II. wurde Nachfolger. Als Regent der Niederlande und damit eines Teils von Spanien bekämpfte er den Calvinismus. Er schürte damit den Wunsch nach Unabhängigkeit der Niederländer, die 1556 einen Aufstand begannen. Dieser wurde blutig niedergeschlagen, die Anführer der Bewegung, die Grafen Egmont und Hoorn wurden hingerichtet.
In dem achtzig Jahre lang dauernden Freiheitskampf, der zunächst vom Wilhelm von Oranien geleitet wurde, trennten sie sich 1581 von Spanien und schlossen sich zur "Republik der Vereinigten Niederlande" zusammen. Mit dem Recht auf Widerstand - gegen Tyrannei und Sklaverei - wurden die Niederlande unabhängig, wie die Schweiz aber erst 1648 als unabhängiger Staat völkerrechtlich anerkannt.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 213-216
Mai 2007, 63-64
Änderung des Weltbildes | |
Im Mittelalter hatten die Menschen ein festgefügtes Weltbild. Die Zustände waren von Gott gegeben, daher ewig und unerschütterlich. Nun treten Gelehrte und Künstler auf, die ein anderes Weltbild vertreten.
Man besinnt sich der Antike, das Zeitalter der Renaissance beginnt.
- Sie wendet sich dem Diesseits zu und rückt den Einzelmensch in den Mittelpunkt.
- Er sollte über sich selbst und sein Leben entscheiden.
- Als Voraussetzung gilt eine antike Vorbildung.
- Entstanden ist diese geistige Bewegung in Florenz und Venedig.
- Da der Mensch im Mittelpunkt des Denkens steht, spricht man vom "Humanismus".
Humanisten beobachten Menschen und die Natur und erforschen sie. Leonardo da Vinci als Inbegriff dieses neuen Menschentyps schuf nicht nur Kunstwerke ("Mona Lisa", "Das letzte Abendmahl"), er war auch Bildhauer, Wissenschaftler, Architekt, Techniker und Erfinder. Bekannt sind seine Pläne für Flugmaschinen, er seziert Leichen und dokumentiert anatomische Zeichnungen.
Große Geister dieser Epoche waren der Maler und Bildhauer Michelangelo, der Humanist und Philosoph Erasmus von Rotterdam und der Astronom und Entdecker der Erde als Planet Nikolaus Kopernikus. Ihre Gedanken und Erkenntnisse wurden dank der Erfindung des Buchdrucks verbreitet. Um 1450 gelang es Johannes Gutenberg (Mainz) Bücher mit beweglichen Lettern aus Metall zu drucken. Damit konnten Schriften in großer Anzahl in gleicher Qualität angefertigt werden.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 152-164
Mai 2007, 65-67
Glaubenskriege | |
Weil der Protestantismus nicht verhindert werden konnte, versuchte die Katholische Kirche ihn zu verhindern. 1554 wurde das Konzil von Trient als Reformkonzil einberufen. 18 Jahre wurde über Erneuerungen beraten, sich gegen "Irrlehren" abgrenzen, Rechte und Pflichten des Papstes, der Bischöfe und Priester festgelegt. Mehr Dienst an Gott, mehr Sorge um Gläubige und Arme, bessere Priesterausbildung - mehr Reformen in der Katholischen Kirche ("Gegenreformation").
Auseinandersetzung gab es in allen europäischen Ländern zwischen beiden Konfessionen.
- In Frankreich gab es als traurigen Höhepunkt die "Bartholomäus-Nacht?" 1572, in der rund 20 000 Hugenotten niedergemetzelt wurden. 17 Jahre später wurde mit Heinrich von Navarra erstmals ein Hugenotte König.
- In Spanien wollte Philipp II. den Protestantismus ausrotten und ließ die stärkste Flotte der Zeit, die "Armada", in Richtung England fahren. Dort war Elisabeth I. als Protestantin am Thron, den ihr die Katholikin Maria Stuart als König von Schottland streitig machte. Weil sie gefangen und hingerichtet wurde, war u.a. auch ein Grund von Philipp II., die Armada los zu lassen. Die Schwerfälligkeit der Schiffe und Stürme bzw. Nebel im Kanal halfen die Armada 1588 zu vernichten. Für England begann ein Aufstieg zur See- und Kolonialmacht, für Spanien der Verlust um die katholische Vorherrschaft.
- In Deutschland verschärften sich die Gegensätze im 17. Jahrhundert, bis schließlich 1618 der "Dreißigjähriger Krieg" begann.
- War am Beginn tatsächlich noch Religion und Glaube wichtig, so kamen machtpolitische Aspekte zum Tragen, als der kaiserlich-katholische Feldherr Wallenstein Norddeutschland eroberte und die Kirchengüter einverleiben wollte. Hier stellten sich die katholischen Fürsten gegen den Kaiser, womit die Frage der Macht wichtiger als die Glaubensfrage war.
- Ebenso ging es um Macht, als der schwedische König Gustav Adolf Norddeutschland von den Katholiken zurückeroberte. Schwedens Führungsrolle an der Ostsee sollte gesichert werden, das katholische Frankreich unterstützte ihn. Deutschland sollte geschwächt und Frankreich europäische Führungsmacht werden. Am Ende des Krieges 1648 gelang dies auch Frankreich.
- Mit dem Westfälischen Frieden 1648 endete der verheerende Dreißigjährige Krieg und bestätigte auch den Augsburger Religionsfrieden von 1555. Ergänzt wurde, dass nunmehr die Untertanen nicht mehr gezwungen werden konnten, die Religion des Landesfürsten anzunehmen. Das Landesfürstentum wurde gestärkt, Gebiete mussten an Frankreich und Schweden abgetreten werden, die Schweiz und die Niederlande wurden unabhängig. Von 17 Millionen Einwohnern am Beginn des Krieges lebten noch rund 10 Millionen am Ende. Deutschland war teilweise versteppt, große Teile verwüstet.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 2, 1975, 213-228
Mai 2007, 68-71
Ludwig XIV. - Absolutismus | |
In der Weltgeschichte hat kaum jemand so unumschränkt, absolut und so lange regiert wie der "Sonnenkönig". 1643 mit fünf Jahren auf den französischen Thron gekommen blieb er 72 Jahre König. Als Kind regierte für ihn Kardinal Mazarin. Als dieser 1661 starb, nahm der Achtzehnjährige die Staatsgeschäfte selbst in die Hand.
Bedingungslose Ergebenheit, ein geschicktes Beratersystem unter Kontrolle, ein prächtiger Hofstaat ohne politischen Einfluss und Macht, am Lande ebenso eine Entmachtung des Adels und Einsetzung ihm ergebener Beamte waren kennzeichnend für den Führungsstil.
Ludwig XIV. erließ selbst die Gesetze, bestimmte über Krieg und Frieden, nahm alle Steuern und Zölle in die Staatskasse und hatte so die absolute Macht im Staat ("Absolutismus").
Schloss Versailles als Zentrum der Macht wurde um rund 25 bis 30 Milliarden € erbaut (für damalige Verhältnisse eine astronomische Summe), 4 000 Personen standen dem König für jeden Handgriff ständig zur Verfügung. Ebenso riesige Summen verschlang eine große Armee.
Sein Finanzminister Colbert entwarf eine einfache Wirtschaftstheorie ("Merkantilismus"):
- viel Exporte und möglichst wenig Importe mittels Manufakturen, Förderung durch billige Kredite und Steuerfreiheit.
- Hunderte von Fach- und Hilfsarbeiter stellten die Güter in großer Menge und guter Qualität beinahe wie am Fließband her.
- Für den Handel wurden Straßen, Kanäle und Häfen vergrößert bzw. neu gebaut.
- Ausfuhrzölle wurden gesenkt, um billiger im Ausland verkaufen zu können.
- Ausländische Waren wurden mit hohen Zöllen belegt.
- Rücksicht auf die wirtschaftlichen Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung gab es nicht.
Als Ludwig XIV. 1715 starb, hinterließ er einen Staat mit äußerem Prunk und massiven inneren Problemen (Zerrüttung der Staatsfinanzen, Vormachtstellung Frankreichs im Schwinden, Verarmung der Bevölkerung). Trotzdem ahmten viele Fürsten und Könige seiner Zeit diesen Lebensstil nach. Insbesondere Bauern litten unter Frondiensten und hohen Abgaben.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 2-13
Mai 2007, 72-75
Parlamentarismus in England - "Glorious Revolution" | |
Seit 1215 dem Jahr der "Magna Charta Libertatum" gab es keine Herrscher einer uneingeschränkten Macht (Absolutismus). Der König konnte nur mit Zustimmung der Fürsten, Bischöfe und Barone Steuern unter Kontrolle einer Versammlung hoher Adeliger einheben. Aus dieser Versammlung wurde in der Folge das zweigeteilte englische Parlament - das Unterhaus (Landritter und Bürger) und das Oberhaus (Hochadel und Bischöfe).
Bis 1626 unter Karl I. gab es keine Konflikte. Er beanspruchte uneingeschränkte Rechte, lediglich Gott sei er Rechenschaft schuldig. 1642 kam es daher zum Bürgerkrieg. Oliver Cromwell ("Streiter Gottes") mit den Truppen des Parlaments siegte in zwei Schlachten, verjagte alles aus dem Parlament, die sich ihm nicht anschließen und mit dem König verhandeln wollten. Im Rumpfparlament wurde der König zum Tode verurteilt und 1649 enthauptet. Erstmals kostete ein Aufstand der Untertanen in der Weltgeschichte einem König das Leben.
In der Folge wurde England eine Republik. Cromwell ließ sich 1653 zum "Lord Protector" auf Lebenszeit ausrufen und regierte wie ein Militärdiktator. Sein unfähiger Sohn folgte ihm im Amt für nur ein Jahr.
1660 folgte Karl II. als neuer König, auch erstrebte eine absolute Herrschaft an, zudem stand er dem Katholizismus nahe. Das Parlament wehrte sich demonstrativ mit einem Gesetz, welches Katholiken von allen öffentlichen Ämtern ausschloss. In der Nachfolge mit dem katholischen Bruder Jakob II. spitzte sich die Lage zu (Schwächung des Parlaments, Stärkung des Katholizismus im Lande). Dem Parlament sehr gelegen war die Ehe Jakobs Tochter Maria mit dem niederländischen Protestanten Wilhelm III. von Oranien. 1668 verjagte ein Heer den König (Flucht nach Frankreich).
In der "Declaration of Rights" verpflichteten sich Wilhelm und Maria zu wichtigen Grundsätzen: Zustimmung bzw. Ablehnung des Parlaments zu Gesetzen, freie Parlamentswahlen, freie Rede und Immunität der Parlamentarier, Zustimmung des Parlaments zu einem in Friedenszeiten stehenden Heer, unabhängige Gerichte und richterliche Urteile für Verurteilungen. Diese kodifizierten Grundrechte 1698 waren revolutionär. Die "Glorious Revolution" war damit besiegelt.
Das englische Parlament erkämpfte sich in einem in Europa vorherrschenden Absolutismus grundlegende Rechte und eine führende Rolle im Staat.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 13-24
Mai 2007, 76-78
Russland - Weg in die Moderne | |
Die Abschottung Russlands endete mit Zar Peter I., der das Land reformieren wollte. Das Land sollte nach Wesen geöffnet werden und vom Westen lernen. 1697/1698 machte er deswegen eine höchst ungewöhnliche Reise.
- Mit 250 Personen bereiste er, mitunter unter dem Decknamen "Pjotr Michailow", Westeuropa.
- Von Interesse waren Staatsformen und Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme.
- Technische Entwicklungen interessierten besonders. Er hörte Vorlesungen über Mechanik und besuchte Gelehrte in ihren Werkstätten.
- Peter I. soll sogar zehn Monate lang auf englischen und niederländischen Werften als Schiffszimmermann gearbeitet haben (vgl. auch Albert LORTZINGs Oper ""Zar und Zimmermann").
- In der Folge kehrte er mit etwa 1000 Fachleuten und einer Fülle von neuem Wissen nach Russland zurück.
Folgen waren
- die Änderung in der Kleidung (Ablegen einheimischer Trachten),
- das Abschneiden der langen Bärte und
- eine neue europäische Hauptstadt für Russland als Hafenstadt an der Ostsee. In einem überfluteten und sumpfigen Gebiet wurde mit zwangsverpflichteten Bauern, Arbeitern und Handwerkern unter entsetzlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen St. Petersburg geschaffen ("Fenster zum Westen"). Schätzungen sprechen von 120 000 Menschen, die um das Leben kamen.
- Um Russlands Position in der Welt zu stärken, wurde ein stehendes Heer nach westlichem Vorbild von 30 000 bis 40 000 einberufenen Männern geschaffen.
- Die Flotte wurde zur stärksten Macht in der Ostsee ausgebaut.
- Die staatliche Verwaltung wurde neu organisiert, das Reich wurde in acht Bezirke eingeteilt.
- Der Geburtsadel wurde durch den Dienstadel ersetzt. Entscheidend war die Leistung für eine Rangordnung der Beamten und Offiziere.
- Die einfachen Leute hatten immer mehr Dienste und Aufgaben zu leisten, in der Folge kam es zu einem Bruch zwischen Zaren und Volk (Despotentum).
Seinen Sohn Alexej ließ Peter I. ermorden, weil dieser den westlichen Kurs des Vaters in einer altrussischen Bewegung nicht mittragen wollte. 1725 starb Peter I.(inzwischen "der Große" genannt) gehasst von den Untertanen. Das politische Ziel, Russland eine wichtigere Rolle in Europa zu verschaffen, hatte er erreicht.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 25-30
Mai 2007, 79-81
Der Aufstieg Preußens | |
Im 17.Jahrhundert gewann das Geschlecht der Hohenzollern an Bedeutung. Mit der 48jährigen Regentschaft des Kurfürsten Friedrich Wilhelm wurde die Verwaltung, Wirtschaft und Armee modernisiert.
Sein Sohn Friedrich wollte König sein. Nach langen Verhandlungen und unter Einsatz großer Mittel gelang es ihm, 1701 sich selbst in Königsberg zum "König von Preußen" zu krönen. Als Schöngeist von geringer politischer Bedeutung nahm man ihn nicht ernst.
Ganz anders war sein Sohn Wilhelm I., bald "Soldatenkönig" genannt. Für ihn war ein starkes Heer und eine sparsame Haushaltführung Grundlage der Etablierung Preußens. Angeworben wurden junge Männer zur Verdoppelung der Zahl der Soldaten auf 80 000 Mann in ganz Europa (Garderegiment mit "langen Kerls" mit mindestens 1,88 m). Gehorsam wurde regelrecht eingeprügelt ("preußischer Drill").
Höchste Werte für den "Soldatenkönig" waren Pflichtbewusstsein, Gehorsam, Disziplin, Ordnung und Fleiß. Mit diesen Tugenden gelang es ihm, das kleine rückständige Land zu einer europäischen Großmacht zu bringen.
Preußen besaß gegen Ende der Regentschaft Wilhelm I. die drittstärkste Armee in Europa, hatte keine Schulden und zehn Millionen Taler in der Kriegskasse. Sein Wunsch, dass sein Sohn Friedrich ebenso sein würde wie er ging nicht in Erfüllung. Der Kronprinz war ein Anhänger der Aufklärung.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 41-46
Mai 2007, 82-83
Das Zeitalter der Vernunft - Aufklärung | |
Die Aufklärung oder das Zeitalter der Vernunft im späten 17. und 18. Jahrhundert wird gekennzeichnet durch die Befreiung des Denkens vom Glauben bzw. Aberglauben. Renaissance und Humanismus begannen, nun setzt sich diese neue geistige Strömung fort, die aus England und Frankreich kam. Kritisch hinterfragt wurden die bis dahin gültigen Ansichten in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Religion. Gültig waren die Dimensionen, die einer rationalen Überprüfung standhielten.
René DESCARTES hat schon 1637 in seiner "Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauches" zu verstehen gegeben, dass nur das wahr sei, was der Mensch mit seiner Vernunft erkennen könne. Nicht die Bevormundung der alten Autoritäten gelten, vielmehr solle man selbständig und vernünftig handeln.
Imanuell KANT (1724-1804) schrieb in seiner berühmten Definition, dass die Aufklärung der Ausgangspunkt des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit sei. Unmündigkeit sei das Unvermögen der Bedienung des eigenen Verstandes. Selbstverschuldet sei die Unmündigkeit, wenn die Ursache nicht am Mangel, sondern der Entschließung und des Mutes liege. Wahlspruch der Aufklärung ist: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! KANTs Schrift "Zum ewigen Frieden" geht von einer Welt-Innenpolitik? aus uns soll zu einem dauerhaften Frieden führen.. Mit einer europäischen Innenpolitik, so kann man heute argumentieren, sind einige Schritte immerhin zurückgelegt.
Aufklärer sprachen von einer natürlichen Gleichheit der Menschen, von Rechten und Würde, die ihnen niemand nehmen darf (auch nicht Herrscher). John LOCKE beschrieb dies 1689.
70 Jahre später ging Jean-Jacques? ROUSSEAU in seiner Schrift "Der Gesellschaftsvertrag" davon aus, dass der Mensch frei geboren, aber überall in Ketten liege. Dies Ketten (heute [vermutlich] als "Abhängigkeiten" bzw. "Normierungen" bzw. spezifischen Sozialisationsbedingungen verschiedenster Art zu bezeichnen) wollten auch LOCKE, KANT, MONTESQUIEU und VOLTAIRE sprengen.
Menschen sollten sich frei in Gemeinschaften zusammenschließen. Rechte und Pflichten sollten von Regierenden und Regierten gemeinsam festgelegt werden. Die Machtteilung sollte vollzogen werden: Gesetzgebung - Verwaltung - Gerichte. Herrscher sollten vom Volk eingesetzt werden (nicht von "Gott"). Aufgabe war die Würde des Menschen zu achten, seine Freiheit zu schützen und sein Glück zu fördern war die Aufgabe (vgl. die Eingangspräambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland). Wird dies als Herrscher missbraucht, kann er vom Volk abgesetzt werden.
Diese politischen Ideen bzw. Dimensionen von Handlungen widersprachen dem Absolutismus. Nur Joseph II. von Österreich, die russische Zarin Katharina d. Gr. und Friedrich II. von Preußen wurden von der Aufklärung beeinflusst.
Das Beispiel Friedrich II. zeigt deutlich persönliche und massive Konfliktbereiche der Aufklärung auf. Der Vater ("Soldatenkönig") wollte ihn zu seinem Ebenbild erziehen. Dem Kronprinzen war alles Militärische und die preußischen Tugenden zuwider. Als begabtes und sensibles Kind liebte er das höfische Leben, schöne Künste, las französische Literatur, beschäftigte sich mit Philosophie und spielte heimlich Flöte. Mit 18 Jahren wollte er vor dem Vater mit seinem Freund Hans Hermann von Katte nach Frankreich fliehen. An der Grenze scheiterte die Flucht, beide wurden vor ein Kriegsgericht gestellt und wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Der Kronprinz wurde begnadigt, musste jedoch die Enthauptung des Freundes in der Festung von Küstrin zusehen. Danach wurde Friedrich in den Kerker geworfen.
Dies und andere negative Erfahrungen wir Stockschläge und Hiebe veränderten die Persönlichkeit. Er fügte sich dem Willen des Vaters, leistete eine Lehrzeit in der Verwaltung, Wirtschaft und Armee und heiratete. Auf Schloss Rheinsberg in Brandenburg begann ein Briefwechsel mit VOLTAIRE. Er schrieb ein Buch, in dem er das Bild eines pflichtbewussten und friedliebenden Herrschers in der Aufklärung entwarf. Der Herrscher sollte erster Diener des Staates sein.
1740 wurde Friedrich König und man erhoffte einen Philosophen auf Preußens Thron. Friedrich II. schaffte die Folter ab, das Eingreifen des Königs in Gerichtsverhandlungen, er sorgte für die gleiche Behandlung aller Stände vor Gericht, verkündete Glaubens- und Religionsfreiheit und war damit für seine Zeit ein toleranter Herrscher. Ein neues Denken konnte sich entfalten. Gotthold Ephraim LESSING konnte ohne ein Hindernis in "Nathan der Weise" für Toleranz, Humanität und Vernunft eintreten. Als oberster preußischer Soldat nutzte er zur Überraschung aller die Gelegenheit, sein Land auf Kosten der Habsburger zu vergrößern (vgl. die Unsicherheit der "Pragmatischen Sanktion" in der Nachfolge oder im Anspruch auf die österreichische Krone bei Maria Theresia). Mit dem Einmarsch in Schlesien begann der Schlesische Krieg. Mit dem Bündnis Maria Theresias mit Russland und Frankreich folgte der "Siebenjährige Krieg". Neben Disziplin und Schlagkraft der preußischen Armee kam Friedrich zugute, dass Zarin Elisabeth starb. Der Nachfolger Peter III. war ein Bewunderer Friedrichs und wechselte die Front. Nach dem Frieden von Hubertusburg (1764) wurde Preußen europäische Großmacht (Friedrich wurde nun "der Große" genannt).
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 64-75
Mai 2007, 84-90
Auswanderungswellen nach Nordamerika - USA | |
Das 17. und 18. Jahrhundert war durch Auswanderungswellen in die sogenannte "Neue Welt" gekennzeichnet. Ursachen waren für zehntausende Menschen ihre Heimat zu verlassen wirtschaftliche Gründe (ein besseres Leben), politische Anschauungen (Meinungsfreiheit) und die Verfolgung wegen ihres Glaubens (Glaubensfreiheit, Nachteile/Diskriminierung im Alltag)).
Man blieb in der Regel politisch seiner Heimat verbunden (vgl. die Einstellung zum Siedlertum). Europäische Herrscher betrachteten Amerika als Teil Europas. Dies zeigte sich vor allem für England und Frankreich. Beide Länder beanspruchten die Vorherrschaft.
Mit dem Frieden von Paris 1763 gehörten die Kolonien an der Ostküste und große Teile Nordamerikas zum britischen Weltreich. In der Folge kontrollierte England schärfer die Kolonien und verlangte einen Beitrag zur Reduzierung der Staatschulden. Heftige Proteste lösten die neuen Zoll- und Steuergesetze für die Kolonien aus. Am 4. Juli 1776 sprachen die Kolonien dem Parlament das Steuerrecht ab und erklärten sich unabhängig. Im folgenden Krieg gelang es England nicht, trotz Überlegenheit die US-Truppen? unter George Washington zu besiegen. Zudem unterstützte Frankreich die Kolonisten mit Soldaten, Geld und Waffen. Im Frieden von Versailles 1783 anerkannte England die Unabhängigkeit der "United States of America" (USA).
Die "Gründungsväter" machten Gedanken und Forderungen der Aufklärer zur Grundlage der US-Verfassung?. Sie schufen erstmals eine freiheitlich-demokratische Herrschaftsordnung als Vorbild für viele Staaten.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 76-79
Mai 2007, 91-92
Französische Revolution 1789 | |
Die gesellschaftliche Kluft zwischen Adel, Klerus und reichem Bürgertum sowie dem einfachen Volk und das ungerechte Steuersystem erzeugte wütende Proteste in Frankreich. Ein Staatsbankrott drohte zudem wegen der hohen Kosten für das Militär und die prunkvolle Hofhaltung von Versailles. 1789 sollten die "Generalstände" der Steuererhöhung zustimmen.
Stichwortartige soll hier der Ablauf der folgenden Französischen Revolution dargestellt werden, wobei von Interesse ist, dass die US-Unabhängigkeitserklärung? bereits 1776 stattfand und in Europa erst mit dem Jahr 1789 - zudem gewalttätig und blutig - Gedanken und Folgerungen der Aufklärung begonnen wurden umzusetzen.
- Der Dritte Stand lehnt die generalstände ab und richtet am 17. Juni 1789 die "Nationalversammlung " ein. Eine Trennung nach Ständen wurde abgelehnt.
- Mit dieser Ablehnung des Absolutismus und der Forderung nach Volkssouveränität begann eine Revolution.
- Mit der Konzentration von Truppen um Paris und der Stürmung der Bastille als Symbol der Willkür, wobei die Wachmannschaft erschlagen wurde, zog die Menge durch Paris. Es wurden nur wenige gewöhnliche Kriminelle befreit, allerdings war der psychologische und politische Effekt bedeutend. Das Symbol des Despotismus wurde bezwungen. Der 14. Juli ist deswegen bis heute auch der Nationalfeiertag.
- Auch am Lande erhob sich die Bevölkerung, plünderte und zerstörte Schlösser und Köster. In einer stürmischen Nachtsitzung beschloss die Nationalversammlung am 4./5. August die Aufhebung der Leibeigenschaft und aller Privilegien für den Adel und Klerus.
- Drei Wochen später wurden die Menschen- und Bürgerrechte verkündet, womit das alte System ("Ancien Régime") angeschafft war (frei und gleich geboren; Freiheit-Eigentum-Sicherheit-Widerstand? gegen Unterdrückung; Ursprung der Herrschaft beim Volk; Freiheit bedeutet dem anderen nicht zu schaden; Gesetze verfolgen Handlungen, die für die Gesellschaft schädlich sind).
- In der Folge wurde eine Verfassung ausgearbeitet, in der Frankreich eine konstitutionelle Monarchie wurde. Die politische (legislative) Macht lag bei der Nationalversammlung. Unabhängige Gerichte sicherten zudem die Gewaltenteilung.
- Undemokratisch im heutigen Sinne war das Wahlrecht. Es richtete sich nach Besitz und Einkommen.
- Ludwig XVI. wollte nach Österreich fliehen, wurde nach Paris zurückgebracht. Die Abschaffung der Monarchie wurde nunmehr gefordert. Europäische Fürsten unterstützen den König, es kam zu den Koalitionskriegen. Bei Unruhen in Paris wurde der König verhaftet, Revolutionsfeinde wurden hingerichtet.
- 1792 wurde die Republik ausgerufen und schließlich wurde der König 1793 öffentlich hingerichtet.
- Bei den Republikanern bildeten sich Gruppierungen, wobei die "Girondisten" und "Jakobiner" die wesentlichen waren. Die radikalen Jakobiner gingen mit Maximilien de Robespierre als Sieger hervor, der in der Folge für die Innenpolitik zuständig war ("Wohlfahrtsausschuss"). Sein "Tugendstaat" ähnelte modernen Diktaturen mit allgegenwärtiger Überwachung. Geschätzt wird, dass während seiner Schreckensherrschaft 35 000 bis 40 000 Bürger durch das Fallbeil (Guillotine) hingerichtet wurden. Der selbst wurde letztlich ein Opfer des Systems und 1794 öffentlich unter dem Jubel der Zuschauer enthauptet.
- In der Folge übernahm das wohlhabende Bürgertum den politischen Einfluss. Ein "Direktorium" von fünf Männern übernahm die Regierungsgeschäfte. Es kam es zu Kriegen gegen die Gegner der Revolution wie Österreich, Preußen, England und die Niederlande.
- Bekannt wurde als junger General Napoleon Bonaparte der in 1799 das Direktorium stürzte, das Parlament mit Waffengewalt auflöste und als "Erster Konsul" die Macht im Staat übernahm. Die Sehnsucht des Volkes nach Ruhe und Ordnung war groß, die Mehrheit akzeptierte eine starke Führung. 1802 wurde er "Konsul auf Lebenszeit", 1804 setzte er sich selbst die Kaiserkrone auf.
- Die Revolution war damit beendet, der Wahlspruch "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" wirkte weiter.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 80-91
Mai 2007, 93-100
Eine Ironie der Geschichte war Napoleon als Herrscher, der mächtiger als der verhasste König war. Als Folge der Macht in Frankreich kam es zu Eroberungszügen quer durch Europa.
- 1806 schlug er das preußische Heer vernichtend und beendete das "Heilige Römische Reich Deutscher Nation".
- 1809 wurde Napoleon überraschend in der Schlacht von Aspern von Erzherzog Karl geschlagen, kurz darauf siegte Napoleon in Wagram und am Berg Isel.
- 1812 stellte er mit mehr als 600 000 Mann beim Russlandfeldzug die bis damals stärkste Armee der Geschichte. Durch das Ausweichen von Kämpfen und den Rückzug der russischen Armee marschierte Napoleon in das fast menschenleere Moskau ein. Wenige Tage später brannte Moskau. Das Waffenstillstandsangebot an den Zaren wurde nicht beantwortet, der Rückzug der Armee wurde zur Katastrophe (Hunger, Erschöpfung, Kälte - wenige Tausende überlebten).
- 1813 erklärten dem besiegten Frankreich Preußen, Österreich, Russland, England und Schweden den Krieg. In der "Völkerschlacht" bei Leipzig erlitt Napoleon die zweite Niederlage.
- 1814 zogen die Verbündeten in Paris ein. Napoleon dankte ab und wurde auf die Insel Elba verbannt.
- 1815 konnte nach Napoleon nach Paris einmarschieren, den König stürzen und die Macht übernehmen. Er stellte eine Armee auf, wurde in der Schlacht bei Waterloo endgültig geschlagen.
- 1821 starb er als Gefangener der englischen Regierung auf der Atlantikinsel St. Helena.
In den zehn Jahren seiner Herrschaft wurde Europa anders.
- Überdauert haben ihn die Neuerungen, etwa das Bürgerliche Gesetzbuch von 1804 ("Code civil") mit einem einheitlichem Recht für alle, Gleichheit vor dem Gesetz, persönliche Freiheit, Beseitigung des Ständesystems Zugang zu öffentlichen Ämtern durch Leistung, Gewerbefreiheit, freue Berufswahl, Recht auf Eigentum, Religionsfreiheit und Einführung der Zivilehe.
- Die Verwaltungsreform war für Frankreich überaus wichtig. Mit 98 Departements, einer zentralen Steuerung von Paris aus, einem staatlichen Schulwesen mit einheitlichen Lehr- und Stundenplänen wurde das Land einheitlich verwaltet.
- In Deutschland wurden geistliche Herrschaftsgebiete säkularisiert.
- Bildungsreformen orientierten sich weitgehend an Frankreich bzw. der Aufklärung. Die Vorstellungen von Wilhelm von Humboldt betrafen Schule und das Hochschulwesen. Selbständig denkende Menschen, mitarbeitend im Staat bzw. der Volksvertretung waren Zielvorstellungen einer zukünftigen Bildung.
In Deutschland regte sich Widerstand, eine nationale Bewegung entstand. Verstand man sich als Kulturnation, so wollte man jetzt Staatsnation werden. Johann Gottlieb FICHTE forderte dies in den "Reden an die deutsche Nation".
In den Befreiungskriegen wurde der Wunsch nach den nationalen Eigenheiten deutlich. So manches gesteigerte bzw. übersteigerte Nationalbewusstsein hatte hier einen seiner Ursprünge.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 92-107, 112-119
Mai 2007, 101-105
In der nach-napoleonischen Zeit hofften die Völker Europas auf mehr politische Rechte, Freiheiten und politische Ruhe. Dies wollten aber die Herrschenden verhindern. 1814 bis 1815 wurde am "Wiener Kongress"' Europa neu geordnet. Man wollte möglichst viel nicht ändern. Unter Österreichs Staatskanzler Fürst Clemens Metternich sollten die Zustände vor 1789 wiederhergestellt werden. Allerdings blieb es in Europa unruhig.
- Ein Unruheherd war die Schnittstelle zu Kleinasien. Hier war für mehrere Jahrhunderte das Osmanische Reich die entscheidende Macht in Kleinasien und am Balkan. Ein besonderer Gegner des Osmanischen Reiches waren die Serben. 1812 führte nach mehreren Aufständen ein von Russland unterstützter Versuch zur Anerkennung der serbischen Autonomie. Aus Angst vor schlechten Verhältnissen zu den europäischen Großmächten unterstützte Russland in der Folge Serbien nicht mehr, die Osmanen besetzten wieder Serbien. Unter Milos Obrenovic erkämpfte man von 1815 bis 1817 endgültig die Freiheit. Er wurde zum "Fürsten von Serbien" gewählt. Blutrache und Machenschaften von Clans (Karadjordje vs. Obrenovic) spielten in der Folge in der Geschichte Serbiens eine wesentliche Rolle.
- Ein weiterer Unruheherd war Griechenland, die ebenfalls nicht hat unter den Osmanen leben wollten. 1821 wurde ihr Aufstand grausam niedergeschlagen. Eine Welle der Unterstützung für das "Mutterland Europas" wurde ausgelöst. Frankreich, Großbritannien und Russland unterstützte Griechenland und vernichtete 1827 in der Seeschlacht bei Navarino die osmanische Flotte. Erst 1830 wurde im "Londoner Protokoll" die Unabhängigkeit Griechenlands bestätigt. In der Folge kam es zu massiven Unruhen in Griechenland (Ermordung nach einem Jahr des ersten Regenten). Die Großmächte mischten sich ein, der 17jährige Prinz Otto von Bayern wurde als Otto I. König der Griechen(1832-1862). Nach einer absolutistischen Regentschaft kam es zu einer Militärrevolte, in der Folge wurde der dänische Prinz Georg als König Georg I. 1864 in einer parlamentarischen Monarchie ausgerufen. Er trieb die Modernisierung des Landes wesentlich voran.
- Im südlichen und katholischen Teil der Niederlande rebellierten ebenfalls die Menschen. Sie wollten sich von der Herrschaft der Habsburger befreien und gründeten 1790 den "Souveränen Kongress der Vereinigten belgischen Staaten". 1792 wurde allerdings das Land von Frankreich besetzt und in der Folge an Frankreich angeschlossen. Auf dem Wiener Kongress wurde beschlossen, den katholischen Süden mit dem protestantischen Norden und dem Großherzogtum Luxemburg zum "Königteich der Vereinigten Niederlande" zusammen zu schließen. Der Protestant Wilhelm I. wurde König. In der Folge rebellierten die Belgier und wagten im Zuge der französischen Revolten um 1830 den "Brüsseler Aufstand", der im gleichen Jahr zur Unabhängigkeit Belgiens als konstitutionelle Monarchie führte. 1831 anerkannten die europäischen Großmächte auf der "Londoner Konferenz" den neuen Staat und seine Neutralität.
- 1842 trat das Großherzogtum Luxemburg als Teil der Niederlande dem "Deutschen Zollverein" bei. Die Niederlande versuchten in der Folge, Luxemburg an Frankreich zu verkaufen ("Luxemburgkrise"). 1867 wurde mit er Unabhängigkeit und Neutralität des Landes die Krise beigelegt.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 120-131
Mai 2007, 106-109
Die Industrielle Revolution | |
Obwohl 1848 in den Aufständen in Paris, Berlin und Wien Veränderungen mit militärischer Gewalt verhindert wurden, veränderte sich das Wirtschaftsleben rasant.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann in England die Umwälzung ökonomischer Verhältnisse und menschlicher Lebensverhältnisse.
- England war als See- und Kolonialmacht reich geworden. Zudem machte die "Glorious Revolution" das Land zu einer Geistesmacht. Für die Industrialisierung war der Aufschwung der Naturwissenshaften wesentlich.
- Mit der Nutzbarmachung kam es zu bahnbrechenden Erfindungen, etwa 1789 der ersten brauchbaren Dampfmaschine/James Watt mit der Nutzung im Bergbau, Textilgewerbe, in Handwerksbetrieben und dem Verkehrswesen.
- Mit den neuen Arbeitskräften begann die "Landflucht", so wuchs Manchester zwischen 1760 und 1830 von 17 000 auf 180 000 Einwohner. Probleme der Lebensumstellung ("Lebensrhythmus"), des sozialen Elends und der Arbeitslosigkeit waren die Folge. Massenquartiere, Krankheiten und Seuchen sowie Verschmutzung von Luft und Wasser traten auf.
- Die theoretische Grundlage für die neue Wirtschaftsform schuf Adam SMITH (1723-1790). In seinem Hauptwerk "Der Reichtum der Nationen" lehrte er, dass die menschliche Arbeitskraft Quelle der Wirtschaft und des Reichtums der Gesellschaft sei. Produktionsvorgänge müssten in viele kleine Einheiten zerlegt werden. Angebot und Nachfrage entscheiden über Kosten und Mengenproduktion. der Staat darf in dieses Spiel ökonomischer Kräfte nicht eingreifen. Smith unterstelle mit dem Hinweis auf freie Mitgestaltung und viel Eigennutz zur Hebung des Wohlstandes eine Harmonie zwischen Privatinteressen und Gemeinwohl. Dieser "Wirtschaftsliberalismus" entsprach den Interessen der Fabrikanten und dem Handel, die sozial Schwachen hatten keine Vorteile.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten,. Bd. 3, 1977, 156-167
Mai 2007, 110-113
Die Soziale Frage | |
Schockiert durch die Zustände in den Industriestädten, wird die "Soziale Frage" nach Verbesserungen der humanen und ökonomischen Ressourcen gestellt.
- Friedrich Engels besuchte in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts englische Industriestädte und berichtet 1845 in seinem Buch "Die Lage der arbeitenden Klasse in England" von geringsten Löhnen, Frauen- und Kinderarbeit, überlangen Arbeitszeiten, Wohnungsnot, Verlust sozialert Bindungen, fehlender Absicherung bei Krankheit, Unfall und Alter sowie massenhafter Arbeitslosigkeit. Seine Schlussfolgerung war die Theorie von zwei Klassen, der "besitzenden Klasse"("Bourgeosie") und der "arbeitenden Klasse" ("Proletariat"). Früher oder später käme es, so die Prophezeiung, zu Klassenkämpfen("Krieg des Palästen, Friede den Hütten!").
- In der Folge kam es Gründungen revolutionärer Geheimbünde, so auch dem "Bund der Gerechten", dem auch neben Engels Karl Marx angehörte. Daraus wurde 1847 der "Bund der Kommunisten". Mit dem politischen Programm, bezeichnet als "Manifest der Kommunistischen Partei" 1848, wurde ein in der Folge bedeutendes Dokument veröffentlicht. Anhänger sahen darin eine Heilslehre, Gegner eine Teufelsbotschaft.
- Mit der Veröffentlichung des Buches von Karl MARX "Das Kapital" bekam der Diskurs eine ökonomische Dimension.
- Mit den Veröffentlichungen brachen 1848/49 in Europa Revolutionen aus. Diese waren noch nicht proletarisch-sozialistisch, vielmehr bürgerlich. Dies änderte sich in den nächsten 100 Jahren, wenngleich nicht immer in der von MARX erwarteten Weise. Die Bedeutung der Schriften war allerdings gegeben.
Neben der radikalen Gruppierungen bemühten sich auch gemäßigte Kräfte um Lösungen der sozialen Frage. Kirchen und das christliche Bürgertum dachten konservativ und monarchistisch-staatstreu, handelten jedoch aus christlicher Verantwortung.
- Johann Heinrich Wichern sammelte verarmte junge Leute in Hamburg um sich, im "Rauhen Haus" bekamen sie Erziehung, Ausbildung und Hilfestellungen. Die Evangelische Kirche schuf aus dieser Anregung die "Innere Mission", in der Folge als "Diakonie" benannt.
- Friedrich von Bodelschwingh führte in Bethel bei Bielefeld ein stark wachsendes Hilfswerk der Inneren Mission als Pflegestätte für psychisch Kranke.
- In ähnlicher Art und Weise bemühte sich Adolf Kolping um Handwerksgesellen. Die Kolpinghäuser halfen als Heime und Schlafstellen, boten Freitische und sinnvolle Freizeitgestaltung an.
- Letztlich formulierte aus sozialer Verantwortung Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika "Rerum Novarum" (1891) die Stellungnahme der Katholischen Kirche. Folgerungen waren caritative Einrichtungen und christliche Arbeitervereine.
In England und Deutschland durften sich jahrzehntelang Arbeiter nicht zusammenschließen. Erst mit der Gründung von Arbeitervereinen duldete man diese.
Nach englischem Vorbild entstanden Gewerkschaften. Sie kämpften für Erleichterungen bei der Arbeitszeit, am Arbeitsplatz und bei sozialen Einrichtungen in Betrieben sowie für gerechte Löhne. Lohnabkommen wurden in der Folge abgeschlossen. Das Sozialversicherungswesen wurde verbessert und abgesichert.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 168-173
Mai 2007, 114-117
Europäischer Imperialismus | |
Unter Imperialismus versteht man die Bemühungen europäischer Staaten, außereuropäische Kolonien zu gewinnen und diese ökonomisch und machtpolitisch auszubeuten (Rohstoffe, Absatzmärkte, Stützpunkte).
- In Südamerika gelang es unter Jose de San Martin im Süden und Simon Bolivar im Norden mit Unterstützung der USA ("Monroe-Doktrin?") in Aufständen die Spanier zu verdrängen. In der Folge bildeten sich viele unabhängige Einzelstaaten entgegen der Vorstellung Bolivars, ähnlich der USA eine Republik bilden zu können.
- England gelang es, europäische Konkurrenten aus Indien zu verdrängen, Frankreich wurde von 1756 bis 1763 in einem Krieg verdrängt. Bis ins 19. Jahrhundert regierten die indischen Fürsten, die die eigentliche Macht hatten die Briten. 1857 gelang es diesen, einen Aufstand indischer Soldaten niederzuschlagen. Danach wurde offiziell die Regierung übernommen, Königin Viktoria "Kaiser von Indien". Indien wurde wie alle Kolonien als Rohstoff- und Absatzmarkt gesehen, britische Interessen dominierten.
- Als führende Kolonialmacht der Welt gehörten Australien, Neuseeland und Teile der Inselwelt des Pazifik zu Großbritannien. Den Rest dieser Inseln teilten sich Frankreich, Portugal und die Niederlande.
- Afrika wurde ebenfalls aufgeteilt. Der Westen war eher französisch (mit Anteilen von Portugal), der Osten und Süden britisch dominiert (Cecil Rhodes). Jahrhundertelang war Afrika Opfer des Menschenhandels (Sklaverei). In weiten Teilen des Kontinents wurden damit Stammeskulturen und Lebensgrundlagen von Menschen zerstört. Mit der Eröffnung des Suez-Kanals? begann ein neues Kapitel des verstärkten Kolonialismus. Auch das Deutsche Reich bemühte sich um Rohstoffe, Macht und Geld (Deutsch Ost- und Süd-Westafrika?). Mit Rassentheorien und Lehren über eine angebliche Minderwertigkeit der Bevölkerung wollte man die europäische Kultur und Zivilisation einführen.
- Heutige ökonomische und soziale Probleme in ehemaligen Kolonien sind teilweise eine Folge europäischer Kolonialpolitik.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 217-224
Mai 2007, 118-121
Italien | |
Der Wunsch nach nationaler Einheit war auch im 19. Jahrhundert in Italien vorhanden. Eine Rückbesinnung auf die einstige Größe führte zur Bewegung des "Risorgimento" (Wiederbelebung und Erneuerung). Ein Geheimbund ("Corbonaria") mit Aufständen wurde mit österreichischer Hilfe bekämpft.
Guiseppe Mazzini (1805-1872) als geistiger Führer gründete 1831 "Giovane Italia" (Junges Italien), das sich in der Folge zu einer Volksbewegung entwickelte. Unterstützt von Freiheitskämpfer Guiseppe Garibaldi (1807-1882) wollte man mit der Parole "Italien schafft es allein!" ein freies, unabhängiges und republikanisches Italien errichten. Hilfestellung nach mehreren Niederlagen gegen französische und österreichische Truppen kam ausgerechnet von Graf Cavour. Als Ministerpräsident des Königreichs Sardinien-Piemont? unterstützte er im Krimkrieg (1853-1856) Frankreich. Für diese Unterstützung erhielt Cavour nun die Hilfe Frankreichs gegen Österreich (1859 - Schlacht bei Solferino/Gründung des Roten Kreuzes, Henri Dunant).
Garibaldi landete 1860 mit 1000 Freiwilligen heimlich in Sizilien, konnte 20 000 königliche Truppen trickreich ausschalten und hatte Mitte des Jahres die Insel unter seiner Kontrolle. Mit nunmehr 10 000 Mann wurde der Sprung zum Festland gewagt. Das Königreich Neapel wurde erobert. Garibaldi mit seinen Truppen konnte nicht aufgehalten werden.
Alle Teilstaaten bis auf das zu Österreich gehörende Venetien und der Vatikan (als Kirchenstaat) schlossen sich zusammen, 1861 fanden Parlamentswahlen statt und im März wurde das Königreich Italien ausgerufen.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 177-180
Mai 2007, 122-123
Gründung des Deutschen Reiches | |
Mit dem preußischen Ministerpräsident Otto von Bismarck (1815-1898) wurde das Ziel eines starken deutschen Nationalstaates unter preußischer Führung angestrebt ("Eisen und Blut"). 1866 trat Preußen aus dem "Deutschen Bund" und provozierte einen Krieg gegen Österreich (Schlacht bei Königgrätz).
In der Folge wurde im Frieden von Prag der "Deutsche Bund" aufgelöst und Österreich aus Deutschland hinausgedrängt. Im "Norddeutschen Bund" schlossen sich die Staaten nördlich des Mains zusammen. Die nationale Welle wurde ausgenützt, die süddeutschen Staaten sollten im Zuge eines Krieges gegen Frankreich mitkämpfen. Wie bei den Befreiungskriegen gegen Napoleon kam es zu einer nationalen Begeisterung, in der Schlacht bei Sedan 1870 wurden die Franzosen geschlagen. Damit war in der nationalen Hochstimmung eine Einigkeit vorgegeben.
1871 wurde dann im Spiegelsaal von Versailles der preußische König Wilhelm zum Deutschen Kaiser Wilhelm I. ausgerufen. Die Franzosen empfanden dies als Demütigung. Das war die Geburtsstunde des ersten deutschen Nationalstaates. Drei Monate später folgte eine Verfassung.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 185-194
Mai 2007, 124-126
Österreich - Ungarn | |
Mut der Niederlage von Königgrätz 1866 kam es zur Neuordnung Deutschlands ohne Beteiligung des Habsburgerreichs. Venetien musste in der Folge abgetreten werden. Um mit den Großmächten mithalten zu können, mussten die Gebiete im Osten gehalten werden.
Es war daher vorrangig, mit den Unabhängigkeitsbestrebungen Ungarns zu einer Verständigung zu kommen. 1867 kam es nach langen Verhandlungen zum Ausgleich,
- zu einem Kompromiss eines staatsrechtlichen Gebildes einer Doppelmonarchie mit einem österreichischen Kaiser, zugleich ungarischen König, dem das Außen-, Kriegs- und Finanzministerium unterstanden (k.u.k./kaiserlich und königlichen Behörden).
- Jeder Reichsteil hatte seine eigene Verfassung, ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung (mit Ausnahme der drei Bereiche). Gemeinsame Ausschüsse kontrollierten die drei gemeinsamen Bereiche.
Mit der Aufwertung Ungarns kam es zur Unzufriedenheit bei den Tschechen, Slowaken, Polen, Serben, Kroaten, Slowenen und Rumänen, die sich als Nationen zweiter Klasse sahen. Man verlangte mehr Autonomie.
- Anstatt sich um einen Ausgleich im Inneren zu bemühen, annektierte man Bosnien-Herzegowina? 1912 vom Osmanischen Reich (vgl. die Anerkennung des Islam seitdem in Österreich). Ziel war die Festigung der Stellung am Balkan.
- Dabei kam es zum Interessenskonflikt mit Serbien, das mit Hilfe Russlands eine Loslösung der südslawischen Gebiete vom der Monarchie anstrebte, um ein Großserbisches Reich errichten zu können ("Panslawismus"). Die Monarchie suchte einen starken Verbündeten im neugegründeten Deutschen Reich (Zweibund Deutschland-Österreich? 1879).
- In der Folge sollte der Konflikt bzw. Nationalismus einer der Ursachen zum Ersten Weltkrieg sein.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 208, 211
Mai 2007, 127
Spannungsfeld Balkan | |
Über die bisher angesprochenen Krisenherde hinaus haben am Balkan andere Völker noch um ihre Unabhängigkeit gerungen (Bulgarien, Rumänien und Albanien).
- Bulgarien waren zeitweise Teil des Byzantinischen und des Osmanischen Reiches. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts strebe man die Loslösung von der Griechisch-Orthodoxen? Kirche und den Türken.
- Mit der Gründung einer autokephalen Orthodox-Bulgarischen? Kirche wurde 1870 der erste Schritt vollzogen.
- Mit dem Krimkrieg setzte sich Russland für ein befreites Bulgarien ein. Ein Großbulgarisches Reich könnte, so die Überlegung, im russischen Machtbereich den russischen Traum von einem freien Zugang zum Mittelmeer ermöglichen.
- Der russische Traum wurde auf dem "Berliner Kongress" 1878 abgelehnt. Bulgarien wurde im Norden ein autonomes Fürstentum, im Süden blieb es osmanische Provinz.
- Sieben Jahre später waren beide Teile vereint. Mit dem gewonnenen Krieg gegen Serbien kam es zum Konflikt mit Russland, das ein Groß-Bulgarien? ablehnte.
- Europäische Mächte sorgten sich um die Unabhängigkeit des Landes - Prinz Ferdinand aus dem Hause Sachsen-Coburg? wurde als Ferdinand I. Fürst von Bulgarien - und setzten diese durch. 1908 wurde der Fürst zum Zaren gekrönt.
- Um 1600 nahm ein rumänischer Staat langsam Gestalt an. Die Fürstentümer Walachei und Moldau sollten vereinigt werden. Michael der Tapfere wurde jedoch ermordet. 250 Jahre waren die beiden Fürstentümer unter fremder Herrschaft von Osmanen, Ungarn, Österreich-Ungarn? und Russland. Nach dem Krimkrieg wurden die Fürstentümer als "Rumänien" vereinigt. Fürst Alexandru Cuza wurde 1866 gestürzt, Karl von Hohenzollern-Sigmaringen? wurde als Carl I. König von Rumänien bis 1914. Formal stand das Land unter osmanischer Oberhoheit, am Berliner Kongress 1878 wurde die Unabhängigkeit Rumäniens anerkannt.
- Albanien wurde 500 Jahre lang von Bulgaren, Normannen, Byzantinern, Venezianern und Serben beherrscht. 1385 kamen die Türken. Mit dem albanischen Freiheitshelden Gjergi Kastrioti, genannt Skanderbeg (um 1405-1468), erkämpfte man für 25 Jahre die Freiheit. Nach dessen Tod wurde das Land wieder osmanisch, in der Folge übernahmen viele Menschen den Islam. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine Nationalbewegung. 1912 wurde vom Albanischen Nationalkongress die Unabhängigkeit ausgerufen. Mit der Ausrufung 1913 als Herrscher bzw. Fürst von Albanien von Wilhelm von Wied wurde die Unabhängigkeit von den Großmächten anerkannt.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 210
Mai 2007, 2007, 128-131
Erster Weltkrieg | |
Mit den Schüssen von Sarajewo am 28. Juli 1914 und der Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares kam bis zum 4. August die Bündnismaschinerie ins Rollen. Deutschland und Österreich-Ungarn? standen Serbien, Russland, Frankreich und England gegenüber.
- Deutsche Truppen überrollten ihre Gegner an der West- und Ostfront. Kurz vor Paris stoppten französische und englische Truppen den deutschen Angriff. Nach der Marneschlacht kam es zu einem Stellungskrieg (6.-9. September 1914).
- Mit Schützengräben konnten die Kriegspläne nicht verwirklicht werden.
- Materialien dieses neuartigen Krieges waren Maschinengewehre, Panzerwagen, Flugzeuge, Unterseeboote und Giftgas. In der Schlacht von Verdun 1916 wurde mit Hunderttausenden von Toten der Höhepunkt erreicht.
- 1916 wollte die deutsche Oberste Heeresleitung Frankreich mit einer Materialschlacht Frankreich ausbluten.
- Zum Weltkrieg wurde der bis dahin europäische Krieg mit dem deutschen Befehl eines U-Boot-Krieges?, in dem auch neurale Schiffe - etwa auch der USA - versenkt wurden.
- Am 6. April 1917 erklärten die USA Deutschland den Krieg.
- Deutschland mit seiner Militärführung träumte hier noch von einem "Siegfrieden". Friedensinitiativen des Deutschen Reichstages und des US-Präsidenten? Woodrow Wilson wurden abgelehnt.
- 1918 diktierte man Russland noch den Frieden von Brest-Litowsk?.
- Ein halbes Jahr später gestand man sich, dass der Krieg verloren war. Mit einer Verdrehung der Tatsachen schob man den Parteien, besonders den Sozialdemokraten, die Niederlage in die Schuhe.
- Mit der "Novemberrevolution" wagten Matrosen den Aufstand, am 9. November 1918 rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann die "Deutsche Republik" aus. Kaiser Wilhelm II. ging in die Niederlande in das Exil, die Landesfürsten dankten ab.
- Am 11. November unterzeichneten Vertreter der deutschen Regierung den Waffenstillstand.
- Österreich-Ungarn? war wenig auf einen Krieg vorbereitet. Die Aufmarschgeschwindigkeit war durch die Infrastruktur gehemmt, die Logistik unterentwickelt. Das Niveau der Truppe hatte ernsthafte Schwächen (Deutsch als Befehlssprache, vorwiegend deutschsprachige Berufsoffiziere).
- 25. Juli 1914 - Teilmobilmachung
- 1914 - Teile Galiziens gingen verloren, hohe Verluste; Belgrad konnte nicht gehalten werden, Massenhinrichtungen in Serbien durch die k.u.k. Armee,
- 1915 - russische Karpatenfront befand sich in Auflösung, Rückeroberungen; Kriegseintritt Italiens(Geheimvertrag von London), italienische Großmachtbestrebungen an der östlichen Adria, 1. - 4. Isonzoschlachten mit Verlusten,
- 1916 - Feldzug gegen Montenegro, Frühjahrsoffensive gegen Italien mit Stellungskämpfen; Brussilow - Offensive endet mit Desaster, hohe Verluste; 5.-9. Isonzoschlachten; Tod Kaiser Franz Josephs I. mit Nachfolge durch Karl I.
- 1917 - Einführung des Stahlhelms (Erkennen der Splittergefahr) und von Sturm-Batallionen?; Rückeroberung Ostgaliziens und der Bukowina mit Stellungskrieg; 10.-11.Isonzoschlachten, 12. Isonzoschlacht brachte Vormarsch bis zur Piave mit anschließender Aufgabe,
- 1918 - Übermacht der Alliierten, Friaul und Trentino in italienischer Hand; Österreich-Ungarn? befindet sich in Auflösung.
Die Siegermächte saßen in den Vororten von Paris zu den folgenden Friedenskonferenzen. Für Deutschland war dies in Versailles (wo vor 48 Jahren das Deutsche Kaiserreich ausgerufen wurde), Österreich in St. Germain und für Ungarn in Trianon.
Die Folgen waren gravierend. Der Erste Weltkrieg kostete mehr als 10 Millionen Menschenleben. 30 Millionen wurden verwundet. Die Welt veränderte sich grundlegend. Drei große Monarchien brachen zusammen (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn? und Russland). Neue Staaten entstanden wie die Tschechoslowakei und Jugoslawien. Das Osmanische Reich zerbrach, die Türkei wurde 1923 selbständiger Staat.
Europa verlor seine beherrschende Rolle. Die USA traten als Weltmacht und eigentliche Sieger erstmals auf. 1917 wurde ein Epochenjahr mit dem US-Kriegseintritt? und der "Oktoberrevolution".
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 3, 1977, 230-248
Mai 2007, 135-141
Zu den glühendsten Verfechtern des Marxismus in Russland gehörte Wladimir Iljitsch Uljanow, in der Folge genannt LENIN (1870-1924). Anders als im übrigen Europa verbreitet sich der Marxismus unter Intellektuellen. Lenin kam zum Schluss, dass sich der Marxismus in Russland kaum anwenden ließe. Man müsse ihn daher an russische Verhältnisse anpassen, was Lenin selbst tat ("Marxismus-Leninismus?", kurz "Leninismus").
Von wenig entwickelten Ländern wie Russland könne die Lehre auf andere Länder und die ganze Welt übertragen werden. Es benötige dafür eine straff organisierte "Kaderpartei" (Partei) von Berufsrevolutionären. Die Partei entscheide allein über den Zeitpunkt der Revolution und behalte die Führung in der Übergangsphase von der sozialistischen zur kommunistischen Gesellschaft, was im Interesse des Volkes zum Schutz vor "reaktionären Kräften" sei.
Der Leninismus war auf die Situation der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands zugeschnitten, die von Lenin umworben wurde. Sie agierte im Untergrund bzw. vom Ausland aus. Da man sich nicht über die Lehre einig war, kam es zur Spaltung der Partei in radikale "Bolschiwiki" und gemäßigte "Menschewiki". Unter Lenins Führung wurden die Bolschiwiki in der Folge die entscheidende Kraft.
Im Februar 1917 hatten in St. Petersburg Arbeiter und Soldaten die Republik ausgerufen. Die provisorische Regierung wollte nur eine politische Revolution, sozial änderte sich nichts. Zudem wurde der Krieg gegen Deutschland fortgesetzt.
Aus dem Schweizer Exil kam Lenin nach Russland zurück, setzte sich an die Spitze gegen die Regierenden und forderte in seinen "Aprilthesen" die Beendigung des Krieges, den Sturz der Regierung und die Enteignung der Großgrundbesitzer sowie die Aufteilung des Landes unter die Bauern. Alle Macht sollten die "Arbeiter- und Soldatenräte" haben ("Sowjets").
Lenins Partei wurde verboten, Truppen wurden gegen Demonstranten eingesetzt. In der Nacht vom 24. zum 25. Oktober russischer Zeitrechnung (westlicher Zeitrechnung der 7. November) besetzten die Bolschiwiki wichtige Einrichtungen der Hauptstadt, die Regierung wurde verhaftet und die "Sozialistische Sowjetrepublik" ausgerufen. Mit "Dekreten" wurde Industrie, Banken und Kirchenbesitztümer verstaatlicht, privater Handel verboten und die Verteilung von Gütern organisiert. Volksgerichtshöfe wurden eingerichtet, Frauen sollten gleichberechtigt werden. Ehescheidungen wurden erleichtert, uneheliche Kinder wurden ehelichen gleichgestellt, Schulen und Universitäten wurde der arbeitenden Bevölkerung geöffnet. Wissenschaft, Kunst und Bildung hatten ihren Beitrag für einen "neuen Menschen" zu leisten.
Bei angesetzten Wahlen erhielten die Bolschiwiki nur 24 Prozent. Lenin ließ am 18. Jänner 1918 die Nationalversammlung mit Gewalt auflösen. Kennzeichen der Bolschiwiki war so zu tun, als ob man die Interessen der Bevölkerung kenne. In einem fast dreijährigen Bürgerkrieg siegte die von Lenins Mitstreiter Leo Trotzki geführte "Rote Armee".
Als 1924 Lenin starb, ging in einem erbitterten Nachfolgekampf Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili (genannt Josef Stalin) als Sieger hervor. Gegner wurden ausgeschaltet, Trotzki im Exil in Mexiko noch 1940 ermordet. Bis 1929 hatte Stalin die unumschränkte Macht erreicht. In der Folge kam es zu einer "Revolution von oben". "Kolchosen" und "Sowchosen" wurden errichtet, Verbannungen nach Sibirien in Arbeitslager wurden vorgenommen. Zwei bis drei Millionen Menschen fielen der Zwangskollektivierung zum Opfer.
Die Industrialisierung wurden rücksichtlos durchgeführt. Vorrang hatte die Schwerindustrie. Industrieregionen wurden über das ganze Land errichtet, in "Fünf-Jahres-Plänen?" wurden Produktionsziele festgelegt ("Planwirtschaft"). Die Bedürfnisse der Arbeitenden spielten keine Rolle.
Die menschenverachtende Politik regte zu Widerstand im Lande an. Reagiert wurde mit Säuberungsaktionen, Weggefährten Lenins wurden ermordet. Die Revolution fraß ihre Kinder, wie zuvor 1789 in Frankreich (Folter, Schauprozesse). Alexander Solschenizyn beschrieb im "Archipel Gulag" das Leben und Sterben. Man schätzt den Tod von 12 Millionen Menschen in diesen Lagern.
Beinahe zeitgleich mit dem Nationalsozialismus zeigt diese Dimension von totalitärem Staat, dass Kontrolle der Macht notwendig ist und welche Folgen ein Fehlen beinhaltet.
Literaturhinweis
Spiegel der Zeiten, Bd. 4, 1996, 21-25, 71-77
Mai 2007, 142-147
Nachfolgestaaten | |
Während des Ersten Weltkrieges erklärte sich Finnland 1917 unabhängig und wurde von der Sowjetregierung anerkannt. 1918 begann ein blutiger Bürgerkrieg, da die finnischen Kommunisten den Anschluss an Sowjetrussland forderten. Vier Monate später konnten das "weiße Lager" (von Deutschland unterstützt)gegen das "rote Lager" (von den Sowjets unterstützt) siegen, Finnland wurde Republik.
Estland, Lettland und Litauen wurden während des Ersten Weltkrieges von zwei Seiten bedroht. Zunächst die deutsche Besetzung, in der Folge der Versuch einer Sowjetisierung. 1918 erklärten die drei Staaten sich unabhängig und wurden Republiken.
Bei der Friedensverhandlungen 1919 wurden neue Staaten begründet, auch aus Gründen der Schwächung der ehemaligen Großmächte. Zunächst entstand die Tschechoslowakei als Vielvölkerstaat mit 7 Millionen Tschechen, 3 Millionen Deutschen, 2,5 Millionen Slowaken und 1,3 Millionen Ungarn, Ukrainern und Polen. Die Slowaken wehrten sich gegen die tschechische Dominanz, nachdem sie die ungarische Bevormundung überstanden hatten. Die Deutschen lehnten den Staat rundweg ab. Der Wunsch nach einem friedlichen Zusammenleben - ähnlich der Schweiz - ging nicht in Erfüllung.
Das neue Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen bildete ebenfalls einen Vielvölkerstaat auch mit Bosniern, Mazedoniern, Albanern, Ungarn und Deutschen. 1929 umbenannt in Jugoslawien trennte die westlich geprägte Region mit der Katholischen Kirche mit Slowenen und Kroaten sich von den byzantinisch-orthodoxen Kirchen bzw. des muslimischen Gemeinden im Südosten. Zudem erhoben die Serben mit knapp 50 Prozent der Bevölkerung einen Führungsanspruch. Spannungen gab es mit den selbstbewussten Kroaten.
Polen entstand als alter Staat neu, nachdem die Großmächte am Ende des 18. Jahrhunderts das Land aufgeteilt hatten. Deutschland und Österreich traten große Gebiete ab, 1920 kam es zum Krieg mit Sowjetrussland (damals im revolutionären Umbruch). Der russische Angriff auf Warschau konnte gestoppt werden. Marschall Jozef Pilsudski sah die Russen als Feinde der Unabhängigkeit ("Wunder an der Weichsel"). Im Frieden von Riga verschob sich die polnische Grenze 250 km nach Osten (damit gehörten 6 Millionen Ukrainer und 1,5 Millionen Weißrussen zu Polen, mit 1,1 Millionen Deutschen betrugen die Minderheiten in Polen rund 30 Prozent).
Rumänien als Alliierter erhielt im Westen von der Donaumonarchie und im Osten von Sowjetrussland große Gebiete und verdoppelte fast die Fläche. Hier lebten nunmehr 3 Millionen Rumänen, 1,5 Millionen Ungarn und 750 000 Deutsche. Die Regierung verweigerte den Minderheiten eine politische Mitsprache.
Österreich-Ungarn? verlor riesige Gebiete.
- Der Kleinstaat Österreich hatte nur mehr 6,5 Millionen Einwohner (gegenüber rund 50 Millionen in der Monarchie).
- Gebietsverluste und hohe Reparationen machten das Land wirtschaftlich kaum überlebensfähig.
- Eine Belastung waren die zahllosen Beamten und Offiziere.
- Die Abschaffung des Adels galt für viele als Verlust ihrer Würde.
- Die kleinere Hälfte der Monarchie Ungarn verlor rund zwei Drittel ihres Staatsgebietes und der Bevölkerung.
Literaturhinweis
Mai 2007, 148-150
Faschismus/Italien | |
Die Startbedingungen der neuen demokratischen Regierungssysteme waren nach Ersten Weltkrieg schlecht,
- der Übergang von der Monarchie zum Parlamentarismus gelang nicht immer,
- der Krieg hatte große Schäden angereichtet,
- die Wirtschaft lag darnieder und
- die Menschen litten große Not (Hunger, Flüchtlinge).
Der "Faschismus" als Alternative zum Sozialismus und zur parlamentarischen Demokratie war eine Form der totalitären Herrschaft und damit eine Diktatur. Am Beispiel Italien und Benito Mussolini/ "Duce" (1883-1945) zeigt sich dies.
- Mussolini konnte ungehindert die "Schwarzhemden" zusammenstellen und sie als Hüter der öffentlichen Ordnung einsetzen.
- Es herrschte die Angst, dass die Ideen der russischen Revolution in Europa überall sich durchsetzen könnten.
- In Italien erwartete man, dass der "Duce"(Führer)das Eigentum vor Sozialisten und Kommunisten schützt.
- 1922 kam es zum "Marsch auf Rom", um die Regierung abzusetzen und die Macht zu übernehmen (vgl. Mussolini nahm am Marsch auf Rom gar nicht teil und reiste im Schlafwagen von Mailand nach Rom, um sich erst kurz vor dem Ziel bei den Teilnehmern einzureihen).
- Auf Druck der Faschisten ernannte König Viktor Emanuell III. Mussolini zum Ministerpräsidenten.
Die legendäre Antwort Mussolinis, man brauche keine geistigen Grundlagen des Faschismus, vielmehr sei Handeln wichtiger als alle Philosophie, weist vielmehr auf die Ablehnung der Gedanken anderer. Man war antimarxistisch, antikommunistisch, antiliberal und antikapitalistisch. Wesentlich war, dass man ein Teil einer einzigen großen harmonischen Volksgemeinschaft sei ("Glaube, gehorche, kämpfe!"). Ähnlichkeiten mit Adolf Hitler waren deutlich zu erkennen.
Die Demokratien der ersten Nachkriegsjahre wurden teilweise vom Faschismus (autoritäre Systeme) und vom Kommunismus (sowjetisches Vorbild) angegriffen und bedroht. Der Erfolg lag in den Lebensbedingungen der jeweiligen Länder. Die zwanziger Jahre waren eine Zeit große wirtschaftlicher und sozialer Krisen, weshalb der Nährboden für totalitäre Systeme gegeben war.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 4, 1976, 66-69
Mai 2007, 151-153
Nationalsozialismus/Deutschland | |
Nach den "goldenen zwanziger Jahren" mit pulsierendem freiem Leben in den Großstädten, Jazz, neuen Kommunikationsmitteln (Telefon), aufstrebender Filmindustrie und Fabriken (Fließband) kam der "Schwarze Freitag" (25.Oktober 1929)''' mit dramatischen Kursstürzen an der New Yorker Börse ("Weltwirtschaftskrise"). US-Banken? verlangten von den europäischen Schuldnern die sofortige Rückzahlung der Kredite mit Zinsen.
Deutschland traf diese Entwicklung besonders hart.
- Eine Verknappung des Geldes trat auf.
- Die Industrie stockte, Firmenzusammenbrüche traten über Nacht auf.
- Die Folgen waren eine Massenarbeitslosigkeit, Verarmung und Perspektivenlosigkeit.
In dieser Situation erwiesen sich die Repräsentanten der "Weimarer Republik" schwach. Der Reichstag war nicht mehr in der Lage, nach der gescheiterten Finanzierung einer Arbeitslosenversicherung eine Regierung zu bilden, womit der Reichspräsident zur bestimmenden Macht der Politik wurde. Der seit 1925 gewählte Reichspräsident war Paul von Hindenburg, Weltkriegsgeneral, im autoritären Denken verhaftet und von der Situation überfordert. Mit "Notverordnungen" wurde die demokratische Gewaltenverteilung aufgehoben (vgl. das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit seinen parlamentarischen Bestimmungen).
Ab 1930 wurde diese Ausnahmeregelung zum Normalfall. Damit war die Weimarer Republik schon vor der Machtergreifung Hitlers gescheitert. Dieser spielte seit der Weltwirtschaftskrise eine politische Rolle. 1933 wurde er dann als Führer der stärksten Partei (NSDAP) zum Reichskanzler von Hindenburg berufen.
Adolf Hitler als Person gilt in seinem Aufstieg als fast unbegreiflich. Kein Schulabschluss, keine ordentliche Berufsausbildung, ein Leben in Wien im Männerheim als Gelegenheitsarbeiter, als 25jähriger Freiwilliger im Ersten Weltkrieg - beim Militär fühlte er sich aufgehoben. Befehl und Gehorsam imponierten. Als guter Redner wurde er schon nach einem Monat "Werbeobmann" der "Deutschen Arbeiterpartei". Er setzte den neuen Namen "Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei" (NSDAP) durch. Das Hakenkreuz wurde zum Emblem. 1921 wurde er mit fast unbeschränkten Machtbefugnissen deren Vorsitzender. Die "Sturmabteilung" (SA) wurde nach italienischem Vorbild eine halbmilitärische Formation mit braunen Uniformen.
Hitler rief - ähnlich dem Marsch auf Rom - am 9. November 1923 zum "Marsch auf die Feldherrenhalle" in München auf. Ziel war der Sturz der Regierung. Die Polizei hielt den Zug auf und verhaftete die Aufständischen. Hitler wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, neun Monate musste er verbüßen. Hier schrieb er seine Bekenntnisschrift "Mein Kampf" mit seinen Vorstellungen und Zielen. Hinzu kam eine fanatische Rassenlehre und Antisemitismus, der Juden als "minderwertige Rasse" ansah. Für das "deutsche Herrenvolk" forderte er "Lebensraum im Osten". Die "arische Herrenrasse" sollte unter deutscher Führung die Welt beherrschen. Am 30. Jänner 1933 ernannte Reichspräsident Paul von Hindenburg den Führer der NSDAP Adolf Hitler zum Reichskanzler (Tag der Machtergreifung).
- Die Parteitruppen SA und SS ("Schutzstaffel") beherrschten die Straßen. Politische Gegner wurden verfolgt.
- Am 27. Februar 1933 brannte der Reichstag, einen Tag später wurde eine Notverordnung "Zum Schutz von Volk und Staat" erlassen (Aussetzung der wichtigsten Grundrechte bis auf Weiteres; blieb bis 1945 in Kraft).
- Am 5.März 1933 fand die Reichstagswahl statt, die NSDAP überflutete mit Propagandamaterial das Land. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) wurde verboten, SA-Trupps? störten andere Wahlveranstaltungen. Die Pressefreiheit wurde eingeschränkt. Mit 43,9 Prozent erhielt die NSDAP nicht die erhoffte Mehrheit. Mit der "Deutschnationalen Volkspartei" wurde eine Koalition gebildet.
- Mit dem "Ermächtigungsgesetz" sollte der Regierung erlaubt werden, Gesetze ohne Mitwirkung des Reichstages zu beschließen. Am 23. März 1933 wurde unter dem Druck von SA mit Zweidrittel-Mehrheit? unter Ausschaltung der KPD - ohne Zustimmung der SPD - der Reichstag durch sich selbst ausgeschaltet.
- Die Selbständigkeit der Länder wurde aufgehoben, "Reichstatthalter" wurden dafür eingesetzt, Gewerkschaften und SPD verboten, Funktionäre in "Schutzhaft" genommen und in "Konzentrationslager" gesperrt.
- Bürgerliche Parteien lösten sich durch Zwang auf, die Gründung neuer Parteien wurde am 14. Juli 1933 durch Gesetz verboten.
- Mit dem Tod von Paul von Hindenburg am 2. August 1934 übernahm Adolf Hitler das Amt des Reichspräsidenten, den Oberbefehl über die Reichswehr und den Titel "Führer des Deutschen Reiches und Volkes".
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 4, 1976, 13, 43-47, 78-100
Mai 2007, 153-159
Der Zweite Weltkrieg | |
Hitlers Ziele waren in "Mein Kampf" klar definiert.
Man wollte einen
- Weltanschaulichkeitskrieg gegen Russland,
- einen Rassenkrieg gegen das Judentum und
- eine Eroberungskrieg gegen die Völker im Osten.
Am 3. Februar 1933 machte Hitler vor den Spitzen der Reichswehr klar, Ziele der deutschen Politik seien die Ausrottung des Marxismus, die Beseitigung der Demokratie, der Aufbau der Reichswehr und die Eroberung des Lebensraumes im Osten mit einer Germanisierung.
Alle Deutschen hätten das Recht, in einem gemeinsamen Deutschen Reich zu leben.
- Als erster Schritt erfolgte 1935 die Volksabstimmung des Saarlandes für einen Beitritt zum Deutschen Reich.
- Rund ein Jahr später rückten deutsche Truppen in das seit 1919 entmilitarisierte Rheinland ein (Bruch des Versailler Vertrages).
- Der "Anschluss" Österreichs 1938 war ebenfalls ein Völkerrechtsbruch.
- Ein halbes Jahr später kam er zum Anschluss des Sudetenlandes. In allen Fällen sahen die europäischen Mächte zu und versuchten Hitler zu beschwichtigen ("Appeasement-Politik?").
Mit dem Überfall auf Polen begann er Zweite Weltkrieg.
- Die deutsche Armee erprobte den "Blitzkrieg" (schnelle Panzerverbände, Kampfflugzeuge, Fußtruppen als Besatzung). Dies funktionierte in Dänemark, Norwegen, Belgien, den Niederlanden und in Frankreich. Nach fünf Wochen zogen deutsche Truppen in Paris ein. Hitler ließ im gleichen Eisenbahnwaggon im Wald von Compiegne den Waffenstillstand 1940 unterzeichnen. Die "Schmach von Versailles" war nach Hitlers Verständnis damit getilgt.
- Ein Rückschlag kam beiden Luftangriffen auf englische Städte. Der Widerstandswille der Engländer konnte trotz monatelanger Bombardierungen nicht gebrochen werden.
- Nach deren Einstellung griff er Russland am 22. Juni 1941 an ("Unternehmen Barbarossa"), obwohl er 1939 einen Nichtangriffspakt mit Stalin abschloss. Scheinbar half die Blitzkrieg-Taktik?, im Oktober stand man vor Moskau. Mit dem Wintereinbruch stockte der Vormarsch (Kälte/hohe Verluste, schlechte Versorgung). Mit der Gegenoffensive der Roten Armee war die Blitzkrieg-Taktik? gescheitert.
- Bei Stalingrad wurden 300 000 Mann im Winter 1942/43 eingekesselt. Durch ein Verbot der Kapitulation wurde die 6. Armee völlig aufgerieben. Stalingrad gilt als Wendepunkt des Krieges.
- Mit Deutschland verband sich Italien und Japan, das mit dem Angriff auf Pearl Harbor 1941 die USA in den Krieg zog.
- In Italien wurde 1943 im Auftrag des Königs Mussolini verhaftet, das Land wechselte die Fronten. Ein Attentat on Oberst Graf Stauffenberg auf Hitler scheiterte 1944.
- Deutschland wurde selbst zum Kriegsschauplatz(Bombenhagel auf Städte, von allen Seiten drangen die Alliierten vor. Im Frühjahr 1945 war Deutschland besetzt.
- Am 30. April 1945 beging Hitler Selbstmord, am 8.Mai kapitulierte die deutsche Führung bedingungslos. Im Pazifik endete der Krieg nach Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki(6. und 9. August 1945).
Der Zweite Weltkrieg kostete 55 Millionen Menschen das Leben und demonstrierte Grausamkeit, Morde und Tod. Erstmals wurden mit dem Abwurf von zwei Atombomben eine neue Kriegstechnik ausgeführt. Der Führungsanspruch der USA als Weltmacht ergab sich daraus.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 4, 1976, 109-139
Mai 2007, 164-169
Winston Churchill (1874-1965) hielt 1946 eine bemerkenswerte Rede in Zürich, in der er von einer Vereinigung europäischer Länder sprach, die Wohlstand, Ruhm und Glück erleben lässt. Ein erster Schritt für eine europäische Staatenfamilie sein ein "Europarat". Frankreich, Deutschland, Großbritannien, die USA und die Sowjetunion müssen sich wieder versöhnen. Dann wären alle Probleme gelöst.
Er erhielt viel Beifall, in der Realität standen sich die USA und die Sowjetunion bald gegenüber. Die Angst vor einem kommunistischen Westeuropa ließ die USA erkennen, dass man Europa wirtschaftlich und militärisch stärken müsse. Damit begann eine Auseinandersetzung zwischen den Systemen einer parlamentarischen Demokratie mit Marktwirtschaft und einem kommunistischen Einparteienstaat mit Planwirtschaft. Zwei Blöcke entstanden, ohne Kriegseinsatz. Man sprach daher von einem "Kalten Krieg".
Am 5. Juni 1947 veröffentlichte US-Außenminister? George Marshall ein Programm zum Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft ("Marshall-Plan?"/ ERP-Hilfe?). Alle europäischen Staaten einschließlich der Sowjetunion zeigten Interesse. Für die Wirtschaftshilfe wurden Informationen der Staaten benötigt, dies lehnte Stalin ab. Er zwang die osteuropäischen Staaten, die Verhandlungen über das Hilfsprogramm abzubrechen.
Am 12. Juni 1947 nahmen daher die west- und mitteleuropäischen Staaten einschließlich Italien und der Türkei in Paris an einer Konferenz über den Marshall-Plan? teil (das besiegte und besetzte Deutschland war kein Teilnehmer). Die USA stellten 13 Mrd. Dollar zur Verfügung, die Handelsbeziehungen müssten liberalisiert werden und die Zollschranken abgebaut werden. Zur Kontrolle und eventuellen Sanktionen müsse man der OEEC ("Organization of European Economic") beitreten. Mit der Unterzeichnung des Vertrages am 16. April 1948 war ein erster Schritt zu einer westeuropäischen Vereinigung getan.
Entgegen der Praxis mit Österreich als besetztem Land bekam Deutschland mit Besatzung der vier Siegermächte nur in den drei westlich besetzten Zonen Wirtschaftshilfe und damit Geld zum Wiederaufbau. Dies war der erste Schritt zu einer Spaltung Deutschlands und damit Europas.
- Mit der "Währungsreform" 1948 und der Einführung der "Deutschen Mark" in den drei Westzonen und 1949 der Gründung der "Bundesrepublik Deutschland" war die staatliche Neuordnung vollzogen.
- Fast gleichzeitig wurde die sowjetische Besatzungszone als "Deutsche Demokratische Republik" am 7. Oktober 1949 als "sozialistischer Bruderstaat" begründet.
- Die Spaltung Deutschlands war vollzogen.
Als Gegenstück zum westlichen Wirtschaftsbündnis hatte Stalin 1949 den "Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe" (COMECON) geschaffen. Ihm gehörten die sogenannten "Ostblockstaaten" an. Die Mitglieder waren allerdings nicht gleichberechtigt, man war von der Sowjetunion abhängig.
Churchills Vision von Zürich war unrealistisch geworden.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 4, 1976, 160-165
Mai 2007, 170-173
Nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte es sich, dass Großbritannien kein Interesse an Europa hatte. Commonwealth-Interessen? waren stärker als ein "Projekt Europa". In dieser Zweit entstand eine ungewöhnliche Idee eines ungewöhnlichen Mannes.
Jean Monnet (1888-1979) kam in jungen Jahren durch das gut gehende Cognac-Unternehmen? seiner Familie in der Welt herum. Über das Unternehmen hinaus arbeitete er als Bankier in New York, war für den Völkerbund tätig, organisierte 1932 das Eisenbahnwesen in China und war 1938 als Wirtschaftsberater in Rumänien und Polen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Leiter des Planungsamtes für die Modernisierung der französischen Wirtschaft.
Mit Blick auf Deutschland entstand die Idee, eine Kohle- und Stahlproduktion als Schlüsselindustrie für die Rüstung von einer übernationalen Behörde kontrollieren zu lassen. Frankreichs Außenminister Robert Schumann arbeitete diese Idee als "Schumann-Plan?"" aus und Konrad Adenauer als Bundeskanzler der BRD erkannte die große Chance und stimmte zu. 1950 wurde der Plan vorgestellt und stand den anderen europäischen Staaten zum Beitritt offen. Dieser 9. Mai gilt seither als Meilenstein auf dem Weg nach Europa.
Im Juni 1950 begannen Verhandlungen mit Frankreich, Deutschland, Italien und den BENELUX-Staaten?. Am 18. April 1951 unterzeichneten sie den Vertrag über die "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl"' (EGKS), auch "Montanunion" genannt. Ziel war die Ausweitung der Wirtschaft, Steigerung der Beschäftigung und Hebung der Lebenshaltung in den Mitgliedsstaaten. Als Leitungsgremium fungierte die "Hohe Behörde". Kontrolliert wurde diese von einem "Beratenden Ausschuss" mit Abgeordneten der nationalen Parlamente. Ein Gerichtshof wurde installiert, der angerufen werden konnte.
Dass ehemalige Feinde wenige Jahre nach Kriegsende eine Gemeinschaft bilden würden, war ohne Beispiel bisher.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 4, 1976, 212-213
Mai 2007, 174-177
Europäische Militärbündnisse | |
1950 begann der Koreakrieg. Die westlich-europäischen Staaten befürchteten eine expansive Politik der Sowjetunion. Das nächste Ziel könnte Westdeutschland sein.
Die USA verstärkten ihre Militärpräsenz in Europa, die Bundesrepublik Deutschland sollte einen entsprechenden wirtschaftlichen und militärischen Beitrag zur Verteidigung leisten. Gesucht wurde eine Lösung, die von allen akzeptiert werden konnte. Jean MONNET legte einen Plan vor, den der französische Ministerpräsident Rene PLEVEN am 24. Oktober 1950 als "Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) vorstellte. Die Streitkräfte der Mitgliedsländer sollte unter einen gemeinsamen Oberbefehl gestellt werden, d.h. auch eine deutsche Armee unterstünde einer europäischen Kontrolle.
Die Französische Nationalversammlung lehnte mehrheitlich ab,
- eine deutsche Aufrüstung wurde abgelehnt.
- Zudem lehnte man ab, die eigene Armee unter einen anderen Oberbefehl zu stellen.
- Frankreich war am Weg zu einer Atommacht, die eigenen Atomwaffen wollte man nicht europäisieren.
Eine Ersatzlösung musste schnellstens gefunden werden. 1954 kam es zu einer Neunmächte-Konferenz? in London (USA, CAN, UK, F, BENELUX-Staaten?, BRD und I). Das Besatzungsstatut der BRD wurde aufgehoben ("Deutschland-Vertrag?"), die BRD als gleichberechtigtes Mitglied in die NATO ("Nordatlantisches Verteidigungsbündnis") aufgenommen.
Rund zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die BRD als souveräner Staat in die NATO aufgenommen. Eine eigene deutsche Armee durfte aufgebaut werden. Ein Auseinanderbrechen des westlichen Bündnisses wurde (diesmal) nicht riskiert.
Bereits 1952 hatte Stalin die beiden deutschen Staaten als ein neutrales Deutschland unter alliierter Kontrolle zusammenfassen wollen.
Neun Tage nach dem Beitritt der BRD zur NATO reagierte die Sowjetunion am 14. Mai 1955 mit der Gründung des "Warschauer Paktes". Die "Ostbock-Staaten?" und 1956 in der Folge die DDR traten dem Pakt bei.
Damit standen zwei Militärblöcke einander gegenüber - mit Atomwaffen ("Gleichgewicht des Schreckens"). Von Winston CHURCHILL stammte in der Folge der Ausdruck "Eiserner Vorhang". Zum Beispiel einer solchen Grenzbefestigung wurde die "Berliner Mauer", die im August 1961 die DDR-Führung? bauen ließ. Sie wies auf die tiefe Spaltung Europas in dieser Epoche hin.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 4, 1976, 148-172
Mai 2007, 178-180
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft | |
Für Europa in der Nachkriegszeit war es typisch, dass man sich von dem Weg einer engen Zusammenarbeit bzw. Zusammenschlüsse nicht abbringen ließ.
Treibende Kraft war Jean Monnet. Als er nach Differenzen mit seiner Regierung als Präsident der Montanunion zurücktrat, gründete er ein "Aktionskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa" mit den Spitzen europäischer Parteien und Gewerkschaften. Vorgeschlagen wurde, auch andere Wirtschaftsbereiche zu europäisieren. Angetan war man von der friedlichen Nutzung der Atomenergie, in der MONNET eine Möglichkeit sah, den steigenden Energiebedarf Europas preiswert zu decken und unabhängiger von Ölimporten zu werden.
Gesucht wurde ein europäisch gesinnter Spitzenpolitiker mit Visionen, gefunden wurde der belgische Außenminister Paul-Henri? Spaak (1899-1972). Am 2. April 1955 regte er in einem Brief an seine fünf Kollegen der Montanunion-Mitglieder? eine Konferenz an, um das "Projekt Europa" fortzusetzen und brachte MONNETs Pläne in das Spiel. Frankreich und Deutschland (Ludwig Erhard) reagierten zurückhaltend. Frankreich hatte Angst um seine staatlich geförderte Wirtschaft, Deutschland wollte seien Wirtschat möglichst frei gestaltet wissen. Man hatte die Befürchtung, dass sich eine europäische Behörde einmischt und die Wirtschaft bürokratisiert.
Trotz Bedenken nahmen Vertreter der sechs Regierungen zwei Monate später in der Konferenz von Messina teil, mit überraschendem positivem Erfolg.
Man hielt es für notwendig,
- den Ausbau von gemeinsamen Institutionen fortzusetzen,
- die schrittweise Fusion nationaler Wirtschaften anzustreben,
- einen gemeinsamen Markt einzurichten und
- die schrittweise Koordination der nationalen Sozialpolitik fortzusetzen.
Dass diese Kommission dieses Vorhaben schaffte, war ein Meilenstein in der europäischen Geschichte.
Am 25. März 1957 wurden dann in Rom die Verträge über die Gründung der "Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft" (EWG) und der "Europäischen Atomgemeinschaft" (EURATOM) unterzeichnet. Der EWG-Vertrag? wurde das stabile Fundament für ein zu errichtendes europäisches Haus mit dem Kernstück
- einer Zollunion,
- einem möglichst ungehinderten Verkehr von Waren, Kapital und Arbeit sowie
- einer gemeinsamen Zollgrenze nach außen.
- In einem Zeitraum von 12 bis 15 Jahren sollte schrittweise dies aufgebaut werden.
- Standortnachteile sollten vermieden und ausgeglichen werden, wozu es eine Koordination und gemeinsame Wettbewerbsregeln bedarf.
Ähnlich der Hohen Behörde in der Montanunion gab es in der EGW die Kommission als eine Art einer europäischen Regierung und den Ministerrat mit der Interessensvertretung der Mitgliedsländer.
Die Erfolge der EWG zeigten sich in der Folge. Von 1958 bis 1962 stieg das Bruttosozialprodukt der EWG um 21,5 Prozent (im Vergleich im UK um 11 und in den USA um 18 Prozent). Die Industrieproduktion stieg um 37 Prozent (im Vergleich im UK um 14 und in den USA um 28 Prozent). Die EWG mit 170 Millionen Einwohnern wurde wichtiger Handelspartner der Welt.
Mit der schrittweisen Fortführung eines gemeinsamen Europas im Sinne Jean MONNETs würden sich neue Perspektiven ergeben. Menschen würden den Begriff "Europa" positiver besetzen und letztlich würden sich neue Politikfelder auftun. Zu diesem Zeitpunkt war entscheidender der Prozess einer Einigung, nicht das Ziel.
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 4, 1976, 212-214
Mai 2007, 181-184
Großbritannien ("United Kingdom"/UK) lehnte mehrfach eine Teilnahme am "Projekt Europa" ab, obwohl Winston CHURCHILL 1946 als erster Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg ein gemeinsames Europa gefordert hat. An erster Stelle standen für das UK die Staaten des "Empire", erst dann folgten "special relationships", also besondere Beziehungen zu den USA.
In den fünfziger und sechziger Jahren zerfiel das "British Empire", die Beziehungen zu den USA wurden brüchig. Trotzdem kam ein Beitritt zur EWG nicht in Frage. Da UK wollte keine nationalen Kompetenzen abgeben. Man schlug dagegen eine große Freihandelszone mit einer Liberalisierung der Handelsbeziehungen aller OEEC-Staaten? vor. Die EWG lehnte ab, gegründet wurde die "Europäische Freihandelszone"/EFTA mit UK, DK, N, AT, S und der CH.
Ab 1960 gab es in West-Europa? zwei Wirtschaftsbündnisse, im Alltagshandel so gut wie keine Konkurrenz. Mitglieder der EFTA betrieben einen stärkeren Handel mit der EGW als innerhalb ihres Bündnisses. Die EWG war erfolgreicher, ein europäischer Integrationsprozess verlief schleppend.
Frankreichs Präsident Charles de GAULLE (1890-1970) beharrte auf Nationalstaaten als Akteure der internationalen Politik. Frankreichs Stellung blieb in seinem Weltbild auf der Stärke, die als Weltmacht als notwendig anzusehen war. Für ihn kam nur ein "Europa der Vaterländer" in Frage, also ein Staatenbund mit Zusammenarbeit und eigener Souveränität.
Die kleineren Staaten der EWG begrüßen insbesondere 1961 den Antrag des UK auf Mitgliedschaft in der EWG. Das Veto Frankreichs folgte.
Ähnliches wurde dem neuen US-Präsidenten? John F. KENNEDY 1962 mit seinem "Großen Entwurf" unterstellt. Darin wurde vorgeschlagen, die USA und Europa (einschließlich dem UK) sollten eine "atlantische Partnerschaft" eingehen. Die Mitglieder sollen in politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht gleichberechtigt mit Ausnahme der Atomwaffen sein (vgl. die Aussage, die USA würden für atomaren Schutz sorgen). De GAULLE lehnte ab, ebenso die Aufnahme des UK und stellte fest, Frankreich würde eigene Atomwaffen mit eigener nationaler Verfügung und Verteidigung herstellen.
In der konsequenten Ablehnung der europäischen und atlantischen Gemeinschaften setzte de GAULLE auf die Zusammenarbeit mit der BRD. Beiden Staaten lag letztlich eine deutsch-französische Aussöhnung am Herzen.
Am 22. Jänner 1963 wurde der "Französisch-Deutsche? Freundschaftsvertrag" unterzeichnet.
Er sieht vor
- gegenseitige Konsultationen in der Außen-, Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik sowie
- eine enge Zusammenarbeit in kulturellen Beziehungen und im Jugendaustausch.
Erst in der Nachfolge von Georges POMPIDOU änderte sich die Haltung Frankreichs nach einem neuerlichen Veto gegenüber dem UK. 1969 in Den Haag beschlossen die EWG-Mitglieder? Verhandlungen mit den Regierungen des UK, Irlands, Dänemarks und Norwegens. Bei einer Volksabstimmung in Norwegen wurde die EWG-Mitgliedschaft? abgelehnt. 1973 wurde die EWG um drei Mitglieder erweitert.
1981 folgte Griechenland als Mitglied, 1986 Spanien und Portugal.
Mit der Verdoppelung der Mitglieder wuchsen auch die Problembereiche (Förderung der unterentwickelten Wirtschaftsräume, Subventionen für Agrarbereiche, Einstimmigkeit der Regierungschefs/Blockadepolitik durch Margaret Thatcher).
Literaturhinweise
Spiegel der Zeiten, Bd. 4, 1976, 215-219
Mai 2007, 185-189
Die Wende | |
Bis 1992 sollte nach der damaligen Planungsphase ein einheitlicher Binnenmarkt mit voller Freizügigkeit für Personen, Dienstleistungen, Güter und Kapitalverkehr geschaffen werden.
Die weltpolitische Lage veränderte sich allerdings sehr.
- 1985 kam Michael Gorbatschow in Russland an die Macht. Er war von notwendigen Reformen überzeugt. Eine Umgestaltung und Erneuerung ("Perestroika") und eine Offenheit und Transparenz("Glasnost") seien notwendig. Das Land sollte durch eine Revolution von oben modernisiert und liberalisiert werden, ohne den Führungsanspruch der KPdSU? und staatlicher Kontrollstellen der Wirtschaft aufzugeben. Schneller als je zu denken war fiel der Machtanspruch der Kommunistischen Partei (KP)
- In Polen kam es zur Gründung der unabhängigen Gewerkschaft "Solidarnocs", die eine mit christlichen und sozialistischen Ideen humane Gesellschaft aufbauen wollte. Im Untergrund wurde sie so stark, dass sie im Frühjahr 1989 von der Regierung am "Runden Tisch" Gesprächspartner wurde. Im Sommer kam es zu freien Wahlen, aus denen eine Mehrparteienregierung in einem kommunistischen Land entstand. Das polnische Beispiel ermunterte Oppositionsgruppen in Ungarn und der Tschechoslowakei Reformen zu verlangen.
- In der DDR wehrte sich die Führung gegen jede Reform. SED-Parteichef? Erich Honecker erkannte die Auflösungserscheinungen im sozialistischen Lager nicht. Im Herbst 1989 kam es zu großen Demonstrationszügen in den Städten für Freiheit und Demokratie. Als Honecker abgesetzt wurde, gab am 9. November 1989 die neue Führung die Öffnung der Grenzübergänge nach West-Berlin? bekannt (Feiern an den Übergängen und auf der "Mauer").
- In Russland kam es am 19. August 1991 zu einem Putsch der Reformgegner aus Armee und Partei. Gorbatschow wurde verhaftet, man zog 3500 Panzer um Moskau zusammen. Demokratische Kräfte unter Präsident Boris Jelzin konnten den Umsturzversuch verhindern, Jelzin wurde der neue starke Mann in Russland. Die KPdSU? wurde verboten, die "Russische Republik" ausgerufen. Die "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" wurde aufgelöst, die übrigen Republiken erklärten sich souverän. Am 31. Dezember 1991 hörte die UdSSR? auf zu bestehen, ihre Stelle als Nachfolgestaat in der Weltpolitik übernahm Russland als größter Teilstaat.
- Die "Deutsche Frage" ´stellte sich nach dem Fall des "Eisernen Vorhanges" neu ("Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört"/Willy BRANDT). Frankreich und das UK befürchteten eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Helmut KOHL versuchte Bedenken auszuräumen. Eine Wiedervereinigung gehe nicht auf Kosten der europäischen Integrationsprozesses, vielmehr müsse dieser gestärkt werden. Mit Francois MITTERAND wurde er eine treibende Kraft für eine "Europäisierung".
Europäische Union/EU | |
Im Dezember 1991 beschlossen die zwölf Staats- bzw. Regierungschefs in Maastricht die Europäische Gemeinschaft zu einer "Europäischen Union" (EU) weiterzuentwickeln.
- Schrittweise sollte die EU auch eine politische Union werden.
- Der Binnenmarkt sollte zu einer Wirtschafts- und Währungsunion mit einer Europäischen Zentralbank und gemeinsamen Währung werden.
- Ziel sei eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (mit einer irgendwann gebildeten gemeinsamen Armee).
- Die Innen- und Rechtspolitik sollte verbunden werden.
- Dänemark lehnte in einer Volksabstimmung diese Ziele ab, nach Verhandlungen und Zugeständnissen stimmte man in einer weiteren Volksabstimmung knapp zu.
- Am 1. November 1993 traten die Maastrichter Verträge in Kraft.
Unterschiedliche Vorstellungen verhindern dem Europäischen Parlament und der Kommission mehr Kompetenzen zu geben. Die Einzelstaaten wollen selbst die politischen Richtlinien bestimmen.
Am 1. Jänner 1995 traten Finnland, Österreich und Schweden der EU bei. Von 15 EU-Staaten? führten elf am 1. Jänner 1999 die neue Währung - den EURO (€) - zunächst als Rechnungseinheit ein. Drei Jahre später konnten die Konsumenten das Geld in der Hand halten. Geklagt wurde bei der Preisumstellung über den "Teuro".
Für Ostdeutschland war dies besonders bedeutend, mussten sie doch zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Jahren eine Währungsumstellung vornehmen.
Ein Fundament für Europa sollte neben der Währung eine gemeinsame Verfassung werden. Ein Konvent arbeitete daran, wobei 2003 der Entwurf überarbeitet werden musste.
Am 1. Mai 2004 nahm die EU mit Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Slowenien, Litauen, Lettland, Estland, Malta und dem griechischen Teil Zyperns zehn neue Mitglieder auf. Am 1. Jänner 2007 kamen Bulgarien und Rumänien hinzu. Damit war die "Osterweiterung" abgeschlossen und die Spaltung Europas beendet. Die EU umfasste einen Wirtschaftsraum von 480 Millionen Menschen (vgl. die USA mit 280 Millionen).
Inwieweit das Ziel erreicht werden kann, in Europa Demokratie und Marktwirtschaft auszudehnen, hängt von den jeweiligen politischen Zuständen ab.
Im Juni 2004 konnten die Bürgerinnen und Bürger der EU ein Parlament wählen. Allerdings war die Wahlbeteiligung mit 43 Prozent gering, wobei in den zehn neuen Ländern sie auffallend unter den alten Ländern lag. EU-kritische Parteien erhielten auffallend mehr Stimmen als die Regierungsparteien. Offensichtlich gibt es noch große Vorbehalte gegenüber der EU.
Nach der Parlamentswahl konnte ein Kompromiss über den Entwurf des Konvents erreicht werden.
- Erstmals gelten gemeinsame Grundrechte für alle Bewohner in der EU.
- Das EU-Parlament? erhält mehr Kompetenz, darf aber nicht die Kommission bilden. Diese wird von den Regierungen berufen.
- Umstritten war das Abstimmungsverfahren. Kompliziert war die Kompromissformel der "doppelten Mehrheit". Ein Beschluss wird gefasst, wenn 55 Prozent der Mitgliedsländer oder mehr, mindestens aber 15 Länder zustimmen. Diese müssen mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Mindestens vier Länder sind nötig, um einen Beschluss zu blockieren.
- Neu eingeführt wurde das Amt eines "Außenministers" zur Formulierung einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (gleichzeitig auch als Vizepräsident der Kommission bestellt).
- Diese Verfassung war von den nationalen Parlamenten zu ratifizieren.
- Ängste bestanden vor einer übermächtigen europäischen Bürokratie und einem Europa mit zu vielen Mitgliedsländern und nationalen Eigenheiten und Identitäten (vgl. dazu den IT-Autorenbeitrag? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Interkulturelle Kompetenz).
Literaturhinweis
Mai 2007, 190-199
6.3 Europäische Sozialgeschichte | |
Im Folgenden wird auf die sozialgeschichtliche Entwicklung Europas im Zeitraum von 1945 bis heute eingegangen. Von Interesse für den Autor sind die Bereiche Bildung, Arbeit, Migration, Soziale Bewegungen/Zivilgesellschaft und Wertewandel/Säkularisierung (vgl. KAELBLE 2007).
Als großer Bereich neben der Städteplanung und sozialen Absicherung war Bildung an Schulen und Hochschulen in Europa ein großer Bereich staatlicher Intervention in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. KAELBLE 2007, 385).
Für die Politische Bildung ist Bildung in Form der Aus-, Fort- und Weiterbildung von besonderem Interesse''' im europäischen Kontext.
Soziale Prozesse, kulturelle Einstellungen und wirtschaftliche Entwicklungen spielen für die Umsetzung insbesondere der Ausbildung in Europa eine wesentliche Rolle. Solche Veränderungen von Bildung wirken erst nach Jahrzehnten, man denke nur an die Bildungsbemühungen bei benachteiligten Gruppen und bei Basisqualifikationen.
Aus diesem Verständnis heraus sind die Impulse der Europäischen Union und der OECD zu würdigen. Hier kann die zukünftige Entwicklung Europas abgelesen werden (vgl. MÜLLER-GANGL? 2003, 23-62; OECD 1994 für Westeuropa).
Die Ausweitung des Bildungsangebots vollzog sich im genannten Zeitraum ungemein rasch und fand auf allen Ebenen statt (vgl. KAELBLE 2007, 386-394). Zu nennen sind insbesondere die
- Alphabetisierung mit der Beseitigung des Analphabetismus in Süd- und Südosteuropa, besonders unter der älteren Generation und in ärmeren Regionen. Zum Rückgang trugen der Druck der Öffentlichkeit etwa auch der UNESCO, der Einfluss der nationalen Intellektuellen, der Regierungen und der Wirtschaft (vermehrter Maschinen- und Automationseinsatz) bei. Nicht zuletzt kam es zum Phänomen der Einwanderung von Analphabeten in Europa, wodurch unter den Kindern die Analphabetenrate zurückging.
- Kindergärten werden gerne bei Bildungsbemühungen übersehen. Nunmehr werden sie zunehmend ein fester Bestandteil. Frankreich gilt in Europa als Pionierland (vgl. in den siebziger Jahren den Anteil mit 80 Prozent, in Westdeutschland mit 50 Prozent). Mit Ende des 20. Jahrhunderts setzen sich die Bildungsbemühungen in den meisten europäischen Ländern in Form der Kindergärten oder Vorschulen durch. Die Türkei gilt als besondere Ausnahme mit dem Besuch einer winzigen Minderheit (vgl. UNESCO 1995, 356-357). Gründe für den Kindergartenbesuch sind die Veränderung von Erziehungsvorstellungen, die Erwerbstätigkeit von Müttern, die Begegnung mit Gleichaltrigen und der Außenwelt sowie die Professionalisierung der Kindergartenpädagogik. Alternativen zu den Kindergärten fehlen zunehmend (etwa das Netzwerk Erziehender neben den Eltern).
- Sekundarschulen erhalten vermehrt Bedeutung, allerdings sind sie in Europa unterschiedlich. Die Reifeprüfung blieb ein Vorrecht einer Minderheit bis in die fünfziger Jahre. In den sechziger Jahren wurde die Sekundarschule zur Normalschule. Um 2000 besuchte die Mehrheit Lernender diese Schulform. Anders als im übrigen Europa zeigen sich die Zahlen in der Türkei, wo erst in den achtziger Jahren eine Mehrheit der Buben und in den neunziger Jahren eine Minderheit der Mädchen die Sekundarschule besuchten (vgl. UNESCO 1995, 3-67). Von Interesse ist der unterschiedliche Besuch von Mädchen in den siebziger Jahren, der höher liegt als bei Buben in Bulgarien, Ungarn, Finnland, Schweden, Großbritannien, Frankreich und Portugal. Mit der Reifeprüfung veränderten sich die Biographien und zukünftige Bildungsansprüche. Gründe für die Zunahme von Lernenden in Sekundarschulen sind der Wunsch nach Bildung, die Nachfrage nach Qualifikationen durch den Arbeitsmarkt und eine Änderung der Bildungspolitik. Durch den Konjunkturaufschwung in den fünfziger und sechziger Jahren stiegen die Realeinkommen wie nie zuvor, der Besuch dieser Schulform wurden nicht als wesentliche finanzielle Belastung gesehen. Sinkende Geburtsraten verstärkten die Nachfrage, eine bessere Schulausbildung der Mädchen ergab sich konsequenterweise. Die vermehrte Bedeutung von Angestelltenberufen der Industrie, die zunehmende Bedeutung des Dienstleistungssektors und des Öffentlichen Dienstes sowie die Bedeutung von Landwirtschaft verlangten nach Qualifikationen. Ein Volksschulabschluss wurde zunehmend als zu gering angesehen (vgl. die Bedeutung der Aufbau-Volksschule? in Österreich mit Fächern aus der Sekundarstufe I und damit der Möglichkeit des Besuchs der Sekundarstufe II in den siebziger Jahren).
- Hochschulen ermöglichten durch die Bildungsexpansion ab den sechziger Jahren eine Zunahme der Studentenzahlen. Damit erhielt ein "Studium" ein anderes Gewicht und wurde ein wichtiger Teil eines Lebensabschnittes (vgl. den Anstieg der Studierenden im europäischen Durchschnitt in den fünfziger Jahren von 4 Prozent auf 14 Prozent in den siebziger Jahren, auf 30 Prozent in den neunziger Jahren und über 45 Prozent 1995; vgl. KAELBLE 2007, 391-392). Gründe waren der Wirtschaftsboom der sechziger Jahre, die Nachfrage nach Qualifikationen, eine vermehrte staatliche Verwaltung, das Ansteigen des Bildungssektors, der "Sputnik-Schock?" und die Debatten um Chancengleichheit. Wenig diskutiert in der Öffentlichkeit veränderten sich europäische Bildungsqualifikationen von einer um 1950 noch vorhandenen Volksschulgesellschaft zu einer Gesellschaft von Universitäts- und Fachhochschulabsolventinnen und Absolventen, "[...]die in den jungen Jahrgängen mindestens ebenso häufig waren wie ein halbes Jahrhundert zuvor die Industriearbeiter" (KAELBLE 2007, 394). Mit diesem Wandel an Bildungschancen öffnen sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Chancen für Gruppen, die um 1950 auf erhebliche Zugangsbarrieren stießen.
- Frauen erhielten nunmehr mit der Öffnung des Bildungssystems gleiche Bildungsmöglichkeiten ("Verwirklichung des gleichen Rechts auf Bildung"). Im europäischen Durchschnitt waren 1995 52 Prozent aller Studierenden Frauen (vgl. KAELBLE 2007, 395-396). Trotzdem drangen bzw. drängen Frauen in bestimmten technischen und naturwissenschaftlichen Studienrichtungen nur langsam vor (vgl. zur unveränderten Situation heute KRAIS 2014, 274-275). Nur zögernd wirkt sich die Gleichheit der Zugangschancen zum Studium auf die Zugangschancen zu akademischen Berufen aus. Gründe für die Öffnung sind die öffentliche Debatte um ein Frauenstudium, eine veränderte Lebensplanung der Frauen (Berufstätigkeit/lebenslange Beschäftigung) und akademische Karrieren. Das Frauenbild hat sich entscheidend geändert.
- Soziale Unterschichten erhielten in den Gruppen der Arbeiter, kleinen Landwirten und unteren Angestellten wesentlich verbesserte Chancen. Am Ende des 20. Jahrhunderts dürften nach groben Schätzungen in Europa ungefähr 10-13 Prozent dieser Gruppierung Studierende sein. Gründe sind die bessere wirtschaftliche Situation dieses Milieus, das Sinken der Milieubindung und die Änderung von Berufswahlvorstellungen, das bessere Angebot der Schulwahl in räumlicher Nähe und die öffentliche Debatte über das Studium und die Bildungspolitik (vgl. die immer noch spezifischen Bildungsbenachteiligungen von Arbeiterkindern und das neue Phänomen der Bildungsarmut - KRAIS 2014, 273).
- Zuwandernde hatten am Ende des 20. Jahrhunderts schlechtere Bildungschancen als der Durchschnitt der Lernenden der einheimischen Bevölkerung. Bruchstückhaft lässt sich ein Abbau von Ungleichheiten hier erkennen. Die Analphabetenrate ist in der zweiten Generation gesunken, der Sekundarschulbesuch nahm zu und die Veränderung des Migrationsmilieus dürfte neben der Änderung der Schul- und Hochschulpolitik wesentlich gewesen sein (vgl. KAELBLE 2007, 398-399; KRAIS 2014, 273). Von Interesse ist etwa die Unterschiedlichkeit in europäischen Ländern. In Frankreich zeigt sich etwa, dass türkische Zuwanderer ihre Bildungschancen und ihren Hochschulzugang doppelt so hoch waren als in den deutschsprachigen Ländern, weil die Ausbildung im früherem Alter einsetzt, die Schulwahl (Übertritte) später getroffen wird und die individuelle Unterstützung besser war (allerdings die Abbrecherquoten höher). Deutschsprachige Schulsysteme boten dagegen eine bessere Berufsausbildung einen leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt und weniger Arbeitslosigkeit (vgl. CRUL-VERMEULEN? 2003, 965-968). Die Bildungspolitik in Europa veränderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark (vgl. KAELBLE 2007, 400-402).
- Bildungsreformen in Großbritannien (UK) mit dem ""Education Act" (1944) und in Schweden mit der Einführung der "comprehensive School" (1950) und in der Folge in ganz Skandinavien waren kennzeichnend. Im östlichen Europa wurde die Schule zumeist verstaatlicht und grundlegend umgebaut. Marxismus-Leninismus? und Russisch als Fremdsprache waren verpflichtend.
- Eine zweite Epoche in den sechziger und siebziger Jahren wurde durch das Bildungswachstum und Chancengleichheit bestimmt. Kennzeichnend waren in einer Zeit des Wirtschaftsbooms die Verlängerung der Schulzeit, der Ausbau der Sekundarschulen und Hochschulen, die Errichtung von Ganztagsschulen in weiten Teilen Europas und vermehrte Lehrer- und Hochschullehrerstellen. Erziehungswissenschaft und Bildungssoziologie wurden als Studienfach wesentlich. Gefordert waren die Durchlässigkeit zwischen den Schulformen, die Reifeprüfung zugänglicher gestalten, Stipendienprogramme und eine flächendeckende Versorgung von Schulen. Konflikte entstanden um eine Modernisierung von Bildungssystemen und Partizipationsmöglichkeiten in Hochschulen.
- In den siebziger und achtziger Jahren geriet die Bildungspolitik durch das Absinken des Wirtschaftswachstum in eine Krise. Gefordert waren nun Effizienz- und Finanzkontrolle.
- In den neunziger Jahren kam es zu drei neuen Entwicklungen.
- Die Wirtschaftsentwicklung wurde stärker beachtet. Die Qualität der Ausbildung und kostengünstige Organisation nach Modellen von Unternehmen waren nunmehr Themen(vgl. die beginnenden Bemühungen um "Schulentwicklung"). Chancengleichheit wurde kaum diskutiert.
- Im östlichen Europa kam es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu einem aufgestauten Bildungsbedarf.
Europäische Debatten wiesen auf Ähnlichkeiten trotz Unterschiedlichkeiten und Besonderheiten in nationalen Staaten. Internationale Netzwerke erhielten Bedeutung. Die OECD, UNESCO und in der Folge die EU führten internationale Debatten.
Themen waren im Zeichen des Rückstandes des Westens ("Sputnik-Schock?")
- die Einführung von Naturwissenschaften im Unterricht (Paradigmenwechsel von Geistes- zu Naturwissenschaften),
- eine stärkere Bildungsplanung,
- die Ungleichheit der Bildungschancen und Bildungsbenachteiligungen (Unterschichten, Frauen),
- die Qualität von Bildung, Unterricht und der Lehrenden,
- die Integration von Zuwandernden, Behinderten und sozial Benachteiligten und
- lebensbegleitendes Lernen, in der Folge mit der Finanzierung der Aus- und Fortbildung
Vermehrt bekam die Europäische Union mit ihren Bildungsprogrammen Bedeutung.
- Auslandsstudien in Form von Erasmus/Sokrates-Programmen wurden verstärkt beworben.
- Europäische Forschungsprogramme zur Forschungsförderung mit Kontakten zu Forschungseinrichtungen wurden eingerichtet.
- Wechselseitige Anerkennung von Studien und eine Vereinheitlichung der Studienabschlüsse (BA und MA/"Bologna"-Prozess) wurden angestrebt.
- Gefördert und erleichtert wurden Mobilitätsmaßnahmen von Auslandsaufenthalten Lernender und Lehrender. Damit kam es zu einer Wertschätzung der Auslandsaus- und Fortbildung bzw. ausländischer Studien bzw. Abschlüssen.
Ohne Zweifel war/ist Europa kein homogener Bildungsmarkt. Man geht davon aus, dass europäische Verschiedenheit (oft) mehr Innovationen zulässt als ein vereinheitlichtes Europa (vgl. KAELBLE 2007, 409).
Europäische Besonderheiten sind im Vergleich zu außereuropäischen Gesellschaften (beispielhaft USA und Japan)
- die staatliche Organisation. Folgerungen ergeben sich jeweils aus der national-staatlichen Haushaltspolitik.
- die europäischen Massenuniversitäten mit ihrer unpersönlichen Ausbildung, nachlassenden Qualität und zumeist Unterfinanzierung.
- die widersprüchliche Europäisierung von Bildung. Einerseits europäisierten sich zunehmend die Studierenden und ausländische europäische Studierende nahmen stark zu und andererseits fehlte ein europäischer Arbeitsmarkt für Lehrende.
- die Rolle Europas als kulturelle globale Drehscheibe am Ende des 20. Jahrhunderts. Europa war auch der größte Zeitungs- und Buchexporteur der Welt, das wichtigste Zentrum von Übersetzungen in andere Sprachen und der größte Tourismusmarkt sowie Magnet des globalen Kulturtourismus.
Literaturhinweise
Crul M.-Vermeulen H. (2003): The second Generation in Europe, in: International Migration review 37/2003, 965-968
Kaelble H. (2002): Zu einer europäischen Sozialgeschichte der Bildung, in: Caruso M.-Tenorth H.-E. (Hrsg.): Internationalisierung - Internationalisation. Semantik und Bildungssystem in vergleichender Perspektive, Frankfurt/M., 249-268
Kaelble H. (2007): Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 618, Bonn
Krais B. (2014): Bildungssoziologie, in: Die DDS, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, Heft 3/2014, 264-290
Müller W.-Gangl M. (Hrsg.) (2003): Transitions from Education to Work in Europe: the Integration of Youth into EU Labour Markets, Oxford
OECD (1994): Education 1960-1990. The OECD Perspective, Paris
UNESCO: Statistisches Jahrbuch 1995
Arbeit | |
Arbeit gehört nicht zu den bevorzugten Themen der Sozialgeschichte (vgl. KAELBLE 2007, 57). Dies verwundert, hat sich doch Arbeit in Europa seit 1945 grundlegend verändert. Gewandelt haben sich Inhalte, Hierarchien, Professionalisierung, Prestige, Entlohnung, Arbeitsbedingungen, Technologie und die Wege zur Arbeit. Berufspädagogik hat eine grundlegende Bedeutung erhalten.
Schulisch sind Vorberufliche Bildung/Berufsorientierung?, Wirtschaftserziehung, Erkundungen, Praktika und als Schulform das berufsbildende Schulwesen von Interesse.
Für die Politische Bildung ist "Ökonomisches Lernen" von Bedeutung (vgl. SANDER 2014, 312-320). "Vorberufliche Bildung" weist auf Dimensionen einer Politischen Bildung hin(vgl. IT-Autorenbeitrag? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Vorberufliche Bildung in Österreich).
Im Folgenden soll auf den Wandel der Arbeit näher eingegangen werden, wobei von Interesse die fünfziger und sechziger Jahre, der Wandel der Arbeitsplätze und Lebensläufe, Frauenarbeit und Trennlinien zwischen Arbeit und Nichtarbeit sind. Europäische Besonderheiten beschließen diesen Abschnitt.
Arbeit um 1950 war überwiegend in Europa agrarisch geprägt. Das "Internationale Arbeitsamt" (ILO)/Genf schätzt von den damalig 181 Millionen erwerbstätigen Europäern66 Millionen in der Landwirtschaft, 61 Millionen in der Industrie und 54 Millionen im Dienstleistungssektor (ohne Sowjetunion) (vgl. ILO 1986, Bd. 5, 9, 123). B, UK, BRD, A, CH und S waren Industrieländer geworden. Schulbücher mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert vermittelte ein falsches Bild, wenn es um die Geschichte Europas im Ganzen geht (vgl. KAELBLE 2007, 58).
Eine Durchsetzung der Industrialisierung Europas stand damals noch bevor. Harte körperliche Handarbeit, mitunter kombiniert mit Maschineneinsatz, war an vielen Arbeitsplätzen erforderlich (Baugewerbe, Landwirtschaft, Stahlindustrie, Fuhrgewerbe, Haushalt). Folgen waren Krankheiten und eine verkürzte Lebenserwartung. Skulpturen und Gemälde stellen Arbeit teils kritisch und heroisierend dar. Handwerk, Landwirtschaft, Einzelhandel und Fuhrgewerbe waren überwiegend Familienbetriebe. Familienarbeit war eine Lebensperspektive außerhalb der Industrie und der Großunternehmen und der Öffentlichen Verwaltung. Überwiegend war sie Arbeit ohne Lohn, mitunter ohne Berufsausbildung und außerhalb des Arbeitsmarktes. In der Regel gab es keine staatliche Sozialversicherung zur Absicherung. Frauenarbeit war eher die Ausnahmesituation, als Erwerbsarbeit vor oder statt der Ehe. In Kriegs- und der Nachkriegszeit galt sie als Ersatz für die Männerarbeit, die als Arbeit für das gesamte Erwerbsleben galt. Männer verloren den Zugang zu ihrem Beruf bzw. den Arbeitsplatz, Witwen mussten sich in das Berufsleben umorientieren.
Arbeit um 1960 war vom Wirtschaftsaufschwung geprägt. Kennzeichen waren die Produktivität, gute Entlohnung, Industriebeschäftigung, genügend Arbeitsplätz und beginnende Frauenarbeit (vgl. KAELBLE 2007, 60-75).
- Die Produktivität stieg rasch an, ebenso die Wirtschaftswachstumsraten in Industrie und Landwirtschaft. Gut ausgebildete Arbeitskräfte kennzeichneten die Prosperität. Die Löhne und Gehälter stiegen.
- Höhepunkt der Industriegesellschaft war von 1950 bis in die siebziger Jahre im gesamten Europa. Man geht von 204 Millionen Erwerbstätigen in Europa aus (ohne Sowjetunion und die Türkei), 83 Millionen in der Industrie und nur 41 Millionen in der Landwirtschaft (vgl. ILO 1986, Bd. 4, 160, 174). Dominierende Industriezweige waren Kohle und Stahl, Maschinenbau, chemische und Elektroindustrie sowie als neuer Industriezweig mit Massenproduktion die Automobilindustrie mit ihrer Zulieferindustrie. Industrielle Ansiedelungen kamen in Süditalien, Spanien, Finnland und Irland. Nach demselben Modell wurde in Osteuropa die Wirtschaft umorganisiert. Selbst nach der "Wende" 1989 wurde dieses Modell zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit eingesetzt. Die Umstellung hatte naturgemäß auch ihre negativen Folgewirkungen. Man fand nicht eine entsprechende Arbeit wie ehemalige Bauern, Handwerker und kleine Einzelhändler. Gefährdet waren Flüchtlinge aus ehemaligen europäischen Kolonien und Kriegsvertriebene.
- Arbeitsplätze veränderten sich, vor allem in der Industrie. Handarbeit verlor ihre Bedeutung, autonome Gruppen in den Unternehmen entstanden, die Familienarbeit ging zurück, rigide Arbeitsteilungen entstanden, ausgeprägte Hierarchien wurden bestimmend, monotone Fließbandarbeit wurde wichtiger, der Unterschied zwischen un- -und angelernten Arbeitskräften-Facharbeitern-Angestellten-der? Leitungsebene wurde spürbar und Gewerkschaften bestimmten mit.
- Dienstleistungen entstanden zunehmend.
- Der professionalisierte Beruf ergab in der Regel eine Lebensstellung, womit das Versicherungswesen wesentlich wurde. Ungelernte wurden in saisonale Nebenarbeit gedrängt, Frauenarbeit in vorübergehende Tätigkeiten vor der Heirat.
Die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg, es kam in der Folge zu einer außergewöhnlich niedrigen Arbeitslosigkeit im westlichen Europa. Lediglich in Italien, Jugoslawien und Irland blieb der Sockel der Arbeitslosigkeit hoch.
Frauenarbeit stieg um 3 Prozent im Zeitraum der fünfziger und sechziger Jahre, trotzdem veränderte sich in der Zeit des Wirtschaftswachstums einiges entscheidend.
- Die Bildungsprozesse von Frauen weiteten sich aus, Frauen traten daher später in das Berufsleben und der Anteil arbeitender Frauen im jungen Alter sank. Der Ausbau des Sozialstaates begann langsam zu greifen (vgl. KAELBLE 2007, 65). Das Ruhestandsalter sank langsam (vgl. ILO 1986, Bd. 4, 28).
- Die Wirkungen in Europa waren höchst unterschiedlich. Gemeinsam war der Trend in Europa, dass Frauen nunmehr auch während der Ehe arbeiteten. Nunmehr blieb die Mehrheit im Beruf. Erwerbsarbeit wurde zur Normalität.
- In der Folge kam es zu einem Rückgang in der Familienwirtschaft. Der Wechsel in die Lohnarbeit bedeutete nicht selten einen sozialen Abstieg, weil Qualifikationen fehlten. Allerdings konnte die Familienwirtschaft arbeitslose Arbeitskräfte wiederum auffangen.
- Unterschiedlichkeiten der Frauenarbeit in Europa hingen vorrangig von familiären Leitbildern ab. Die soziale Absicherung und die Bildungs- und Beschäftigungspolitik spielten eine Rolle. Zu unterscheiden sind
- der östliche Raum Europas mit Planwirtschaft und Arbeitskräftebedarf,
- das nördliche Europa (Skandinavien, UK) mit der Abhängigkeit von der Vollbeschäftigung und dem Bildungsstand,
- die südeuropäischen Länder mit der Beschäftigung in der Regel vor der Heirat und niedrigerem Niveau als in allen europäische ändern, wobei wohlhabende Länder wie die NL, LUX, A und die CH ähnlich niedrigen Anteil hatten, sowie
- wirtschaftlich starke Länder wie F, die alte BRD und B mit einer Frauenarbeit nach der Heirat und sozialen Absicherung.
- Gegen Ende des 20. Jahrhunderts nahmen die Unterschiede in Europa ab(vgl. KAELBLE 2007, 75-76).
Trennlinien''' zwischen Arbeit und Nichtarbeit veränderten sich entscheidend. Erwerbsarbeit blieb in Europa weiterhin der zentrale Punkt im Leben. Der Beruf entschied über persönliche Entfaltung, gesellschaftliche Kontakte, den Wohlstand und soziale Sicherung. Es änderte sich nunmehr die Arbeitszeit(vgl. um 1955 fiel die Arbeitszeit von 46 Stunden auf rund 42 Stunden um 1970). In ganz Europa sank die Wochenarbeitszeit erst in den sechziger Jahren. Freizeit wurde zunehmend in vielen Berufen zur Regenerierung d er Arbeitskraft genutzt werden, da die Arbeitsintensität und das Tempo der Arbeit stiegen. Wege zur Arbeit verlängerten sich zudem. Konsumzwänge traten auf, Bildungsansprüche stiegen (vgl. zur Mädchenbildung KRAIS 2014, 274-275). Neben der zunehmenden Fortbildung der Arbeitskräfte wurden die Ausbildungen der Kinder länger. Es bedurfte der Unterstützung der Eltern. Urlaubs- bzw. Ferienreisen nahmen zu.
Als Zukunftsmodell nach 1945 entstand in der Debatte um Arbeit die Dienstleistungsgesellschaft. Dies bedeutete ein Ende der kräfteraubenden Handarbeit und eine Alternative zur monotonen Fließband-Arbeit?. Der Dienstleistungssektor wurde als Zuflucht gesehen, als Bereich für Bildung, soziale Hilfe, Freizeitgestaltung und Religion. Man glaubte an die Humanität der Gesellschaft (vgl. FOURASTIE 1954; HÄUSSERMANN-SIEBEL? 1995). In der Folge wurde dieses Modell mit dem Aufkommen der Büroarbeit, Digitalisierung und letztlich der Veränderung der Gesellschaft erweitert. Daniel BELL (1990, 28-47)entwickelte globale Fortschrittsmodelle von Arbeit.
Europäische Besonderheiten der Arbeit sind zunächst
- die die europäische Industriearbeit. Nur in Europa wurde die Industrie für eine bestimmte Zeit - fünfziger bis sechziger Jahre - größter Beschäftigungssektor.
- Nur in Europa gibt es die Entwicklung nach der Fourastieschen Modellvorstellung von der Agrar-, über die Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Nicht alle europäischen Länder folgten dem Entwicklungsmodell (NL, N, DK, IR, GR, Portugal). Gleichwohl blieb die Industrieintensität erhalten. Erklärbar ist dies durch den Export in außereuropäische Länder, historisch durch die großen Auswanderungswellen und dadurch den Verlust von Dienstleistungsberufen, das späte Heiratsalter mit einer Bildung einer Arbeitskraftreserve und der Bevorzugung europäischer Konsumenten für standardisierte und massenhaft produzierte Güter.
- Die geringe Berufstätigkeit von Frauen in Europa fällt im Vergleich zu anderen Industrienationen auf, auch etwa zum Schwellenland China(vgl. KAELBLE 2007, 82-83). Erklärbar ist dies durch den langen Ausbildungsweg junger Frauen, den späteren Eintritt in das Berufsleben und die vergleichsweise starke soziale Absicherung. Ohne Zweifel gilt in Europa auch das Modell der reinen Hausfrau und Mutter.
- Die Absenkung der wöchentlichen Arbeitszeit ging in Europa erheblich weiter. Der Unterschied zu den USA ist deutlich.
- Letztlich dauerte der Erwerbsteil weniger lang als in anderen Industrieländern.
Literaturhinweise
Bell D. (1990): Die dritte technologische Revolution und ihre möglichen sozialökonomischen Konsequenzen,, in: Merkur 44/1990, 28-47
Fourastie J. (1954): Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts, Köln
Häußermann H.-Siebel W. (1995): Dienstleistungsgesellschaften, Frankfurt/M.
ILO/International Labour Organisation (1986): Economically Active Population. Estimates 1950-1980, Bd. 1-5, Genf
Kaelble H. (2007): Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, Lizenzausgabe für die Bundesanstalt für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 618, Bonn
Krais B. (2014): Bildungssoziologie, in: DDS, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Bildungspolitik und pädagogische Praxis, Heft 3/2014, 264-290
Sander W. (Hrsg.) (2014): Handbuch politische Bildung, Schwalbach/Ts.
Migration | |
Europa wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch internationale Migration(Zuwanderung) und in der Folge Minderheiten stark verändert (vgl. BADE 2000; BADE-OLTMER? 2004). Damit veränderte sich Europa vom Auswanderungs- zum Einwanderungskontinent. Zweitweise wurde mehr zugewandert als in das Einwanderungsland USA. Massiv veränderte sich die Sozialstruktur von Zugewanderten, das Verständnis von Migration und Minoritäten (Minderheiten) sowie von Einwanderungspolitik (vgl. KAELBLE 2007, 239; vgl. IT-Autorenbeitrag? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Migration in Österreich, Teil 1,2).
- Es sollte nicht vergessen werden, dass Migration aus nicht industrialisierten Teilen Europas bereits in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts einsetzte (vgl. die Rückwanderung von Italienern nach 1915 von Deutschland in die Heimat, ähnlich die der Polen in den zwanziger Jahren nach Grenzkonflikten entweder nach Polen oder Frankreich; man denke auch an die ausländischen Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie im NS-Regime?, die fast alle nach 1945[11 Millionen] zurückkehrten).
- Die Behauptung fast aller europäischen Länder, keine Einwanderungsländer zu sein, stimmte beim UK, F, B und der CH nicht, in denen der Anteil von Ausländern ein Normalfall der europäischen Entwicklung war. Das Recht von EU-Bürgern? auf Arbeit und Niederlassung in jedem EU-Land? beendete eine Politik gegen Einwanderung. Verboten war das politische Bürgerrecht mit dem vollen Wahlrecht, damit eine volle Einwanderung.
Im Folgenden wird auf die Nachkriegszeit, Arbeitsmigration, die Herkunft und Sozialstruktur und die Zuwanderungspolitik eingegangen. Besonderheiten Europas beenden den Beitrag.
Im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit waren Europäer mit Zwang, Unmenschlichkeit und Leiden auf Flucht und Vertreibung. Diese Zwangsmigration hatte vier Formen.
- "Displaced persons" (zwangsweise rekrutierte Arbeitskräfte) kehrten in ihre Heimatländer zurück bzw. wanderten weiter. Deutschland hatte rund 11 Millionen ausländische Zwangsarbeiter aus Polen, der Sowjetunion, Frankreich, Belgien und den Niederlanden (vgl. BADE 2000, 299). Diese beeinflussten die Politik nach dem Zweiten Weltkrieg.
- Millionen Kriegsgefangene, KZ-Insassen?, Deportierte, Zwangsumgesiedelte, Evakuierte und Flüchtlinge wanderten zu ihren Familien zurück (rund 5 Millionen allein in Deutschland; vgl. KAELBLE 2007, 242), in ihre Heimat oder wanderten in Übersee aus. Jüdische Überlebende blieben vorerst in Camps in Deutschland und wanderten zumeist in die USA aus.
- Neue Grenzziehungen am Ende des Zweiten Weltkrieges verursachten Flucht, dazu zählten Volksdeutsche, polnische Umsiedler, ungarische Flüchtlinge aus den Grenzgebieten Ungarns, italienische Flüchtlinge aus Jugoslawien, finnische Flüchtlinge aus dem zur Sowjetunion gehörigen Südosten Finnlands und Flüchtlinge aus Osteuropa, die vor dem Kommunismus flüchteten. Soziale Barrieren entstanden, eine Integration erschien kaum lösbar.
- Eine kleine Zahl betraf die Remigration von Exilanten und die Abwanderung von Technikern und Naturwissenschaftlern in Länder der Alliierten. Nut wenige Künstler, Wissenschaftler und Politiker kehren aus Teilen Europas, den USA, der Türkei und China zurück. Ausnahmen waren etwa Bruno Kreisky, Willy Brandt, Bert Brecht und Ernst Fraenkel.
Die normale Arbeitsmigration betraf die wohlhabenden Teile Europas. Allein Frankreich arbeiteten fast 1 800 000 Ausländer um 1950, in Belgien fast 400 000, in der Schweiz 300 000 und in Luxemburg fast 30 000 Ausländer (vgl. KAELBLE 2007, 243 bzw. 246). Dazu gehörte eine erneute Auswanderungswelle in die aufstrebenden USA, Kanada, Brasilien und Argentinien. Gründe waren eine ungewisse Zukunft, Soldatenheiraten, Flucht von Kriegsverbrechern und anderen Belasteten. Ähnliche Entwicklungen gab es im UK, S und I.
In der Folge in den fünfziger und sechziger Jahren fand eine wirtschaftliche Integration statt. Die Gesellschaft wurde verändert. Kennzeichen war der Wiederaufbau, Initiativen in Wissenschaft und Politik (vgl. den Europagedanken) und eine neue Mischung der Konfessionen auf lokaler Ebene. In das industrialisierte Europa folgte eine massive Arbeitsmigrationswelle, allein um 1970 in Westeuropa rund 10 Millionen Ausländer. Hoch war der Anteil in der Schweiz, aber auch in Belgien, Frankreich und Schweden. Zuwandernde im UK, F und der BRD als Bewohner früherer Kolonien und Abstammender aus Osteuropa konnten sich leicht einbürgern lassen. Von dieser Entwicklung waren Südeuropa und Finnland nicht betroffen. Unter den sogenannten "Gastarbeitern" waren um 1970 hauptsächlich Immigranten aus Europa aus den Mittelmeerstaaten (I, JU, GR und SP). Nur ein Fünftel kam es dem muslimischen Teil des Mittelmeers (Türkei, Algerien, Marokko und Tunesien) (vgl. KAELBLE 2007, 248). Die Zuwanderung war relativ kostengünstig (billige Sammelquartiere, keine Familien und kein Schulunterricht, Ausländer waren überwiegend Einzahlen und weniger Nutzer von Sozialversicherungen).
Kennzeichnend war für einen Teil Westeuropas eine geteilte Politik
- der mobilen Arbeitskräfte als Ausländer und
- die offene Einwanderungspolitik gegenüber Millionen für spezielle Gruppen wie Zuwanderer aus der DDR, französische Zuwanderer aus Algerien, im UK für Zuwanderer aus dem sich verändernden Commonwealth, in Belgien und den Niederlanden für Zuwanderer aus dem Kongo bzw. Indonesien.
- Dieser Widerspruch in der Politik fiel kaum jemandem auf (vgl. KAELBLE 2007, 250).
In der Folge kam es zu einem massiven Wandel in der europäischen Migrationsgeschichte.
- Trotz Anwerbungsstop 1973/1974 nahm die Zahl von Zuwandernden zu. Stark war dies in der BRD, den NL und in AT zu verzeichnen, gering im UK, der CH und S. Familienangehörige ließen die Zahl steigen. In der Folge wurden nun soziale Leistungen beansprucht, Kinder nutzten die Schulen, der Alltag ähnelte den Einheimischen. Ausländische Arbeitskräfte waren nun in der Industrie und in den Dienstleistungssekten beschäftigt. Ein ausländisches Bürgertum mit Einzelhändlern, Handwerkern und Geschäftsbesitzern sowie gut ausgebildeten Unternehmern, Ärzten, Ingenieuren und Kunstschaffenden bildete sich.
- Unabhängig davon bildete sich eine Gesellschaft ("communities") von Türken in der BRD und A, Indern im UK und Algeriern in F, die sich auf diese Weise in ihrer sozialen Schichtung langsam weniger unterschieden.
- Verschlossen blieben wegen der ausländischen Staatsbürgerschaft Berufe in der öffentlichen Verwaltung, Justiz, beim Militär, in Universitäten und Schulen.
- Zunehmend entwickelten Zuwandernde Perspektiven einer langen oder endgültigen Zuwanderung in Europa. Damit entstanden Bereiche wie interkulturelle Kompetenz und neue Dimensionen einer Politischen Bildung (vgl. den IT-Autorenbeitrag? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: "Interkulturelle Kompetenz", "Verhinderung von Gewalt und Fremdenfeindlichkeit" sowie "Vorberufliche Bildung in Österreich").
- Die Herkunftsgebiete veränderten sich ebenfalls. Außereuropäische Zuwandernde bekamen ein starkes Gewicht. Gründe waren der zunehmende Arbeitskräftebedarf, d er Bevölkerungsdruck aus Afrika und dem Nahen Osten, die Wirtschaftskluft zwischen Afrika und Europa, Verbilligungen vor allem beim Fliegen und Flucht vor Diktaturen und Genoziden. Damit entstanden eine Vielfalt von Religionen und kulturelle Vielfalt (vgl. SALZBRUNN 2014).
- Unbemerkt blieb die neue Form von Migration, die wohlhabende Länder Europas betraf - Manager, Forscher, Studierende und Praktikanten sowie vermehrt Teilnehmende an EU-Bildungsprogrammen? (Bildungsmigration).
- Eine Europäisierung der Zuwanderungspolitik innerhalb der EU begann mit Koordinierungsbemühungen. Der Arbeitsmarkt der EU wurde für EU-Bürger? liberalisiert. Wechselseitige Anerkennungen von Bildungsabschlüssen wurden forciert. Das Schengen-Abkommen? und die Verträge von Maastricht und Amsterdam wurden wesentlich (vgl. BAADE 2000).
- Zunehmend wurde Migration als Thema politisiert.
- Vorschläge für eine Integration Zuwandernder in Europa wurden gemacht. Die Wirtschaft konnte nicht mehr auf ausländische Erwerbstätige verzichten. Sprachliche, gesellschaftliche und politische Anpassung wurden gefordert.
- Eine Akzeptanz der Grundwerte der jeweiligen europäischen Gesellschaft, bei der die Sprache und Kultur der Zuwandernden erhalten werden soll.
- Die Vorschläge waren entsprechend vielfältig und reichten von der Verbesserung der materiellen Lage und Ausbildung, einem zweisprachigen Schulunterricht bis zum kommunalen Wahlrecht und dem Angebot der raschen Einbürgerung. Konfliktthemen waren das Tragen des Kopftuches, das Kruzifix-Urteil? und die Zuwanderungspolitik. Ausländerhass wurde ein Wahlkampfthema, neue Parteien entstanden (UK: National Front, F: Front National).
- Mit der Öffnung der Grenzen in Osteuropa und in China stieg der Zuzug von illegalen Erwerbstätigen.
- Neuentwicklungen ergaben sich mit der Zunahme politischer Flüchtlinge und Asylbewerber sowie der Wirtschaftsmigration.
- Ebenso ergab sich eine Auswanderung von Hochqualifizierten aus Osteuropa nach Westen, mitunter ein herber Verlust für osteuropäische Staaten.
- Auch die außereuropäische Zuwanderung in die südlichen europäischen Staaten, Irland und Finnland war eine Neuentwicklung. Bemerkenswert war die riskante von Menschenhändlern ausgenutzte Zuwanderung über das Meer.
- Internationale Familienbeziehungen ergaben eine transnationale Zuwanderung. Gründe waren die Bindung an internationale Städte, Kenntnis zweier Sprachen und Besitz von zwei Staatsbürgerschaften. Damit ergaben sich internationale Milieus (Wirtschaft-Wissenschaft-Kultur?).
Besonderheiten Europas waren in dieser höchst unterschiedlichen Entwicklung
- der dramatische Umbruch von Auswanderung in einem Kontinent zu einer Zuwanderung wie in klassischen Einwanderungsländern. Dieser Umbruch war einzigartig und veränderte das europäische Selbstverständnis. Damit ergab sich eine grundlegende Änderung der Einstellung Europas zum Anderen (vgl. KAELBLE 2007, 262).
- Zu beachten sind in Europa das Vorhandensein von territorialen Minderheiten in bestimmten Regionen und Zuwanderungsminderheiten zumeist in Städten wie etwa Muslime am Balkan (Albanien-Bosnien-Mazedonien-Bulgarien?), im Baskenland, Schottland, Korsika, Friesland und Sorbengebiet sowie russischen Minderheiten der ehemaligen europäischen Sowjetrepubliken. Europäische Minderheitenkonflikte sind zumeist (auch) Nationalitätenkonflikte, die mit der nationalstaatlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert aufkamen (vgl. in Nordamerika die Konfliktzonen nur in Form der Indianerreservate).
- Sieht man sich die Einwanderung in Europa an, so ist eine Zuwanderung von Muslime zu verzeichnen. In den USA als klassisches Einwanderungsland kam es zu einer Verstärkung der Vielfalt christlicher Kirchen.
- Schließlich öffneten sich die Grenzen innerhalb der EU. Der Binnenmarkt und Gemeinsamkeiten in der EU beseitigten Schranken der Wanderung innerhalb der EU, allerdings weigert sich Europa als jeweiliges Einwanderungsland außerhalb der EU zu verstehen. Aus dieser Sichtweise ergibt ich eine Politik der begrenzten Einbürgerung.
Literaturhinweise
Bade K.J. (2000): Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München
Bade K.J.-Oltmer J. (2004): Normalfall Migration, Bonn
Kaelble H. (2007): Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 618, Bonn
Kleinschmidt H. (2002): Menschen in Bewegung. Inhalte und Ziele der historischen Migrationsforschung, Göttingen
Salzbrunn M. (2014): Vielfalt/Diversität, Bielefeld
Soziale Bewegungen/Zivilgesellschaft | |
Als wesentlicher gesellschaftlicher Akteur nehmen soziale Bewegungen und die Zivilgesellschaft auf den Staat - mit Regierung und öffentlicher Verwaltung - Einfluss. Sie sind europäisiert und internationalisiert (vgl. KAELBLE 2007, 299-301).
Für soziale Bewegungen ist kennzeichnend, dass sie in der Regel keine festen und dauerhaften Organisationen sind, vielmehr Netzwerke von vielfältigen Gruppen. Parteien, Gewerkschaften und Kirchen sind durchaus Teilnehmende, aber selbst gut organisiert. Soziale Bewegungen haben als Zielvorstellung gesellschaftliche Reformen, sind auf die Abwehr einer bestimmten Politik orientiert und besitzen eine gemeinsame Identität. Persönliches Engagement, vorübergehende Mitgliedschaft und bestimmte Rituale und Symbole zeichnen sie aus (Versammlungen, Komitees, Demonstrationen). Gehandelt wird lokal, national und mitunter transnational. Durch ihre politischen Ziele halten sie zumeist länger.
Neben Politik und Wirtschaft in ihrer Bedeutung meint man als dritten Faktor mit Zivilgesellschaft einen Bereich, der nicht auf das Ethos der Macht oder eines wirtschaftlichen Gewinnes ausgerichtet ist, vielmehr zumeist auf Hilfe für den Anderen, Solidarität, Vertrauen, Gewaltlosigkeit und Allgemeininteresse (Gesamtwohl). Autonomie ist ein wesentliches Kennzeichen. Eine Vielfalt von Organisationen, Bewegungen und Projekten mit Öffentlichkeitsarbeit zeichnet eine Zivilgesellschaft aus. Sie sichert eine Demokratie, kann aber auch in Diktaturen mit Intoleranz, Gewalt und Bürgerkrieg eingesetzt werden. Kontrovers ist, ob sie ein Sektor oder eine Handlungsmaxime darstellt. Im europäischen Kontext besteht Zivilgesellschaft in allen wichtigen Sprachen und mit Modifikationen auf der europäischen transnationalen Ebene (vgl. THERBORN 2000; KAELBLE 2003, 267-284; KNODT-FINKE? 2005, 31-54).
Im Folgenden wird auf die Nachkriegszeit, die fünfziger und sechziger Jahre, die siebziger und achtziger Jahre mit der Studenten- und Regionalbewegungen sowie Frauen-, Umwelt- und Friedensbewegungen mit Dissidentenbewegungen eingegangen. Von Interesse ist die transnationale europäische Zivilgesellschaft und die neunziger Jahre. Europäische Besonderheiten beschließen den Beitrag.
Für beide Bereiche war die Nachkriegszeit ambivalent.
- Einerseits waren Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen bedroht (Isolierung des Einzelnen, Zuflucht in Familien). Man beschränkte sich auf Wohnungs- und Nahrungssuche, Illegalität am Schwarzmarkt, Durchstehen von Krankheiten und ein möglichst positives Lebensgefühl. Solidarisches Handeln fand kaum statt. Eine Nachkriegsapathie lähmte.
- Anderseits begann in der Nachkriegszeit ein Zulauf zu Gewerkschaften (moralisches Prestige nach Diktatur und in/nach Besatzungszeit, besserer Lebensstandard, politische Teilhabe), der transnationalen Europabewegung (Distanz zu Diktaturen-Verlust? an Bedeutung durch Gründung der EWG) und Kirchen (Zunahme von Mitgliedern, Erwartung von Hilfe in Notsituationen).
Die fünfziger und sechziger Jahre waren eine Glanzzeit der Gewerkschaften. Ihr Einfluss und die Mitgliederbasis in Europa erreichte den Höhepunkt, so in Skandinavien, im UK, der BRD, in den NL und B. In F und I war es genau umgekehrt. Die Gewerkschaften waren dort zersplittert und in politische Richtungsgewerkschaften organisiert. Rege Pressearbeit, Demonstrationen am 1. Mai und Streiks mit positiven Tarifabschlüssen kennzeichneten ihre Arbeit. Andere Konfliktbereiche wurden ausgespart. In der BRD bauten Gewerkschaften sogar Wohnbaugesellschaften und Konsumgenossenschaften auf.
1973 wurde auf europäischer Ebene der "Europäische Gewerkschaftsbund" (EGB) mit einem Koordinationsbüro aufgebaut. Gründe für die Glanzzeit der Gewerkschaften waren der politische Einfluss auf Regierungen, etwa im UK, Skandinavien und F und ihre Anerkennung als Sozialpartner im Verbund mit der Wirtschaft (betriebliche Mitbestimmung, Tarifabschlüsse). Die Gewerkschaften besaßen eine feste Basis in der Industriearbeiterschaft. Attraktiv war ihre Distanz zu den Rechtsdiktaturen und den Besatzungsregimen nach dem Zweiten Weltkrieg sowie einer Kapitalismusskepsis und den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise.
Hindernisse für die Entwicklung einer europäischen Zivilgesellschaft waren die Erfahrungen von zwei Weltkriegen, die Spaltung Europas durch den "Kalten Krieg" und die Gegensätze zwischen den katholischen, protestantischen und laizistischen Milieus mit ihrem eigenen zivilgesellschaftlichen Engagement (vgl. KAELBLE 2007, 304).
Trotzdem entstanden schwache Beispiele europäischer Zivilgesellschaften in unterschiedlicher Richtung. Einmal verbreiterte sich die damalige Form von Zivilgesellschaft, etwa bei Amnesty International, europäischen Sportverbänden (beispielhaft die UEFA), Rotary und Lions Clubs und dem Internationalen Roten Kreuz. Adressaten waren vorwiegend die nationalen Regierungen. Anderseits entstanden in einer beginnenden europäischen Integration die Montanunion und EWG, der europäische Landwirte- und Industrieverband als Dachverbände (allerdings begrenzt auf die EWG).
Von Interesse sind neue soziale Bewegungen von den später sechziger Jahren bis zu den achtziger Jahren. Neben den Gewerkschaften traten die Studentenbewegung und Regionalbewegungen, in der Folge Umwelt-, Frauen-, Friedens- und Dissidentenbewegungen (in Osteuropa) in Erscheinung. Protestmethoden waren u.a. provozierende Events zur Aufmerksamkeit im Fernsehen.
Ursachen dafür waren
- die Veränderung von Werten und Normen, Liberalisierungstendenzen von sozialen Beziehungen, wachsende Soziabilität, veränderte Erziehungsziele, veränderte Einstellung zu Gewalt und Toleranz zu Minderheiten.
- Zusätzlich kamen die massive Modernisierung Europas mit einer Urbanisierung, Bildungsexpansion und Massenkonsumgesellschaft sowie
- der Veränderung internationaler Beziehungen wie dem Ende des Kolonialismus, veränderter Ost-West-Beziehungen? und einer langen Friedenszeit in Europa.
Die Studentenbewegung war eine internationale Bewegung, über nationale Grenzen verflochten und entwickelte sich besonders stark in Frankreich, Italien und in der alten BRD aus. Ebenso war sie in der damaligen Diktatur in Griechenland und im Ostblock in Polen, der CSSR und in Jugoslawien aktiv (vgl. die weltweite Verbreitung in den USA, Lateinamerika, in der Türkei, Afrika, Indien, Pakistan und Japan; vgl. KAELBLE 2007, 307).
Höhepunkte in Europa waren 1968 in Frankreich der "Pariser Mai" und in West-Berlin? die riesigen Demonstrationen. Anlass waren der Vietnam-Krieg? (USA), die post-stalinistischen Repressionen und der "Prager Frühling". Gefordert wurden Liberalisierungsformen in Politik und Erziehung, freiere Soziabilität und ein freierer Umgang zwischen den Geschlechtern. In der BRD war ein Ziel die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit?. Kontrovers wird die Bewertung und ihre Wirkung gesehen.
- Erfolgreich werden der Werte- und Erziehungswandel sowie Reform im Hochschulwesen und die Auflösung von politischen Tabus wie das Schweigen zur NS-Zeit? gesehen. Als Erfolge werden auch die Machtwechsel in der BRD (1969) und F (1981), die Distanzierung der KPI von der Sowjetunion und der Aufstieg von Akteuren der Studentenbewegung in Regierungen bzw. Parlamente Europas vermerkt (etwa Gerhard Schröder, Joschka Fischer, Lionel Jospin, Guy Verhofstadt).
- Als Misserfolg wird die innere Spaltung und die Anwendung von Gewalt angeführt (vgl. GILCHER-HOLTEY? 2001).
- Zu vermerken sind der Paradigmenwechsel der Erziehungswissenschaft zu einer sozialwissenschaftlichen Studienrichtung bzw. in der Folge zu Bildungswissenschaften und die Etablierung der Politikwissenschaft.
Regionalbewegungen waren in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zu vermerken. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten sie einen Rückgang. In der Folge entstanden im westlichen Europa und nach dem Zusammenbruch der Franco-Diktatur? sowie in Südtirol europäische Regionalbewegungen (Elsass, Bretagne, Korsika; Wales, Schottland; flämischer und wallonischer Teil Belgiens; Katalonien, Baskenland, Galizien; Südtirol). Vielschichtige Regionalismen entstanden im (süd-)östlichen Europa wie in Jugoslawien und der Sowjetunion, polnischen und ukrainischen Galizien, tschechischen Mähren, polnischen und tschechischen Schlesien, rumänischen Siebenbürgen. In den übrigen europäischen Ländern waren Regionalbewegungen seltener, weil föderalistische Verfassungen(mit Minderheiten- bzw. Volksgruppenrechten) vorhanden waren. Mit der europäischen Integration gründete man 1975 eine "Ständige Konferenz der Gemeinden und Regionen".
In den siebziger Jahren entstanden Umweltbewegungen und bedeuteten einen Einschnitt (vgl. KAELBLE 2007, 310-312). In der Öffentlichkeit erzeugten der "Bericht des Clubs of Rome" (1972) und der "Blueprint for survival" (1972) Aufmerksamkeit. Getragen wurde die Umweltbewegung - insbesondere in der alten BRD, im UK, in Skandinavien, und I - von allen Altersgruppen und vielen ideologischen Richtungen. Massenmobilisierung, Events, Kleingruppenarbeit mit zielgerichteten Konflikten mit der Staatsgewalt wurden ebenso wie Manifeste, Reports, Memoranden und Eingaben eingesetzt. In Parlamenten wurden Initiativen eingebracht. Mit den höchst unterschiedlichen Aktivitäten in den Nationalstaaten entstanden in der Folge internationale und einflussreiche Organisationen wie Greenpeace und "Robin Hood".
Gründe waren die gesteigerte Industrialisierung, Transport-Revolution?, die Verbreitung von Umweltschäden, Verunreinigung der Gewässer, Nahrungsmittelverschlechterungen und die besondere Rolle von Wissenschaftlern. Einen Kontext gab es mit dem Ende der Wachstums- und Planungseuphorie. Zudem spielte eine Veränderung des Verständnisses von Demokratie eine Rolle (Kontrollfunktion durch Medien und Experten). Es entstand in der Folge eine Veränderung der Einstellung der Bevölkerung und Politik (neue Parteien). Ein neuer Wirtschaftszweig für Umweltprodukte entstand.
Neue Frauenbewegungen entstanden in den siebziger Jahren, allerdings unterschiedlich zur klassischen Frauenbewegung (vgl. KAELBLE 2007, 312-314). Ziel war die Gleichberechtigung von Frauen in der Politik, Gesellschaft, einer anderen Rolle in der Familie und Öffentlichkeit und Autonomie bei Scheidung, Abtreibung und Sexualität. Man verlangte eine andere Mentalität. Mitunter waren Frauenbewegungen bewusst exzentrisch (vgl. BOCK 2000, 321). Man wirkte in die Gesellschaft hinein, durch Selbsterfahrungsseminare, Sommeruniversitäten, Filme, Literatur, Frauenpresse und Selbsthilfe. Die neue Frauenbewegung umfasste alle Altersgruppen. Wichtige Schauplätze waren das UK, F und die BRD, ebenso I. Forderungen wurden auch auf internationalen Plattformen präsentiert, etwa auf den Weltfrauenkongressen in Mexiko (1975), Kopenhagen (1980), Nairobi (1985) und Peking (1995).
Europäisch forcierte die EU-Kommission? die Gleichstellung (ohne eine gesamteuropäische Frauenorganisation). Man beschränkte sich allerdings auf die Gleichstellung am Arbeitsmarkt. Von Interesse waren/sind die Anzahl weiblicher Abgeordneter in den nationalen Parlamenten (vgl. dazu Frauen in nationalen Parlamenten/Interparlamentarische Union/Stichtag 1. Oktober 2014, 189 Länder > http://www.ipu.org/wmn-e/classif.htm [27.10.2014]). Neue Frauenbewegungen waren erfolgreicher als ihre Vorläuferin. Es verbesserten sich die Bildungschancen und Zugangsmöglichkeiten zu Wissenschaft, Politik, Kultur, öffentlicher Verwaltung und Justiz. Verändert hat sich allmählich die Mütter- und Väterrolle.
Die Friedensbewegung entstand in den achtziger Jahren und betraf vor allem den "Doppelbeschluss der NATO". mit einer massiven Aufrüstung und Aufstellung von Atomwaffen in Europa als Antwort auf das Atomwaffenprogramm der Sowjetunion. Die Basis waren alle Altersgruppen, Experten aus der Politikwissenschaft, den Sozialwissen- und Naturwissenschaften. Mit eigenen Symbolen arbeitete man mit Kundgebungen und Demonstrationen. Als ein internationales Thema war die Friedensbewegung auch international vernetzt. Mit dem Zusammenbrauch der Sowjetunion fiel auch der NATO-Beschlussbeschluss? und andere Bedrohungen entstanden (vgl. KAELBLE 2007, 314).
Dissidentenbewegungen in Osteuropa betrafen ähnliche Themen wie Frieden, Umwelt und Menschrechte. Sie entstanden in den siebziger Jahren und agierten im Untergrund oder begrenzt in der lokalen Gegen-Öffentlichkeit? (vgl. KAELBLE 2007, 315-317). Mit Manifesten, Büchern, Artikeln,, Untergrundtexten und Privattreffen - mit Zugang zu westlichen Medien - wurden Proteste organisiert. Sie waren keine Massenbewegungen, eher Netzwerke von Freundeskreisen.
Bekannt war die "Charta 77" in der Tschechoslowakei mit 1 500 Personen. Nur in Polen gelang die Verbindung zum Arbeitermilieu. Bekannt waren als Initiatoren Milan Kundera, György Konrad und Bronislaw Gemerek als Repräsentanten des Widerstandes in der CSSR, P und H. In der DDR entstanden erst vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion Dissidentenbewegungen (vgl. HILDERMEIER-KOCKA-CONRAD? 2000, bes. 13-40). Ursachen dieser Bewegungen waren die Unvereinbarkeit von kommunistischer Diktatur und individueller Freiheit, die politische Realität und das Abkommen von Helsinki sowie Bereiche des Umweltschutzes, der Friedenssicherung und der Wirtschaft. Auf Grund der engen Netzwerke gelang es der Bewegung auch nicht, nach 1989 in den Regierungen Fuß zu fassen. Trotzdem konnten sie der politischen Freiheit eine unüberhörbare Stimme verleihen. Mit Vaclav Havel kam ein Vertreter in der Tschechoslowakei in Spitzenfunktionen.
Europäische Besonderheiten entstanden in den Parallelitäten der nationalen Entwicklungen, der zunehmenden Transnationalität und der Entstehung einer gemeinsamen Zivilgesellschaft.
- Transnationale Tendenzen gab es in der Studentenbewegung, den Regional- und Frauenbewegung sowie den anderen angeführten Bewegungen.
- Die Entstehung der europäischen Zivilgesellschaft folgte der Entwicklung einer Transnationalisierung, in der Folge eine Globalisierung. Die Europäische Union beeinflusste diese Politik.
Literaturhinweise
Bock G. (2000): Frauen in der europäischen Geschichte, München
Gilcher-Holtey? I. (2001): Die 68er Bewegung. Deutschland-Westeuropa-USA?, München
Hildermeier M.-Kocka J.-Conrad C. (Hrsg.) (2000): Europäische Zivilgesellschaft und Ost und West, Frankfurt/M.
Kaelble H. (2003): Eine europäische Zivilgesellschaft, in: Jahrbuch des Wissenschaftszentrums Berlin 2003, 267-284
Kaelble H. (2007): Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, Lizenzausgabe für die Bundesanstalt für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 618, Bonn
Knodt M.-Finke B. (Hrsg.) (2005): Europäische Zivilgesellschaft. Konzepte, Akteure, Strategien, Wiesbaden
Therborn G. (2000): Die Gesellschaften Europas 1945-2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt/M.
Wertewandel - Säkularisierung | |
Historische Wurzeln europäischer Werte wurden durch den Diskurs über eine europäische Verfassung, die Beitrittsverhandlungen der Türkei und den Irakkrieg sowie die muslimische Minderheit in Europa aktualisiert. Zudem sind die Auswirkungen der sechziger Jahre und neue Werte der jungen Generation von Interesse.
In der Folge standen andere Tendenzen als heute im Vordergrund, etwa die Lockerung der Familien- und Milieubindungen, der Bruch mit älteren Wertewelten und die Säkularisierung. Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind der Wertewandel und neue Religiosität grundlegende Themen der europäischen Zeitgeschichte in der Politischen Bildung mit (vgl. KAELBLE 2007, 119).
Fragestellungen ergeben sich zu Wertvorstellungen zu Familienbindung, Leistungswerten in Beruf und Politik, zur Abkehr von Primärtugenden und/der Hinwendung zu Sekundärtugenden sowie einem Säkularisierungsprozess.
Der Beitrag diskutiert Konzepte des Wertewandels und der Religiosität, Epochen des Wertewandels, Gemeinsamkeiten bzw. Parallelitäten und europäische Besonderheiten (vgl. KAELBLE 2007, 121-145).
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden sich in den Sozialwissenschaften verschiedene Konzepte des Wertewandels heraus.
- Ronald INGLEHART (1995) sieht einen Übergang von materiellen (Lebensstandard, Wirtschaftswachstum, Preisstabilität, Sicherheit, Autorität von Institutionen) zu postmateriellen Werten (Selbstverwirklichung, ziviler sozialer Umgang, Menschenrechte, soziale Bewegungen, politische Partizipation, Kultur und Ästhetik). Mit dem Generationenwechsel nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog sich ein Wertewandel in Europa (und auch weltweit).
- Henri MENDRAS (1997) spricht von einem Individualisierungsprozess in Europa in nationalen und regionale Varianten. Individualisierung bedeutet eine Ablösung von Bindungen an soziale Milieus, etwa das Bürgertum, die industrielle Arbeiterklasse, das bäuerliche Milieu, konfessionelle und ethnische Milieus sowie einem einzigen Familienmodell und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung. Individualisierung meint auch die Lockerung zu lebenslangen Loyalitäten gegenüber Großorganisationen wie Nation, Gewerkschaft und Kirche. Eine neue Freiwilligkeit und Bindung zu sozialen Bewegungen und privaten Formen von Religion entstand. Die Dauerhaftigkeit von Bindungen verlor an Bedeutung. Individualisierung bedeutet auch eine Verschiebung von Erziehungswerten (vgl. den IT-Autorenbeitrag? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Erziehung). Individualität bedeutet Selbstentfaltung, persönliche Verantwortung, Risikobereitschaft und Toleranz. Ursachen für individuelle Wertvorstellungen waren die soziale Sicherung durch den Wohlfahrtsstaat, bessere Bildungschancen, ein günstiger Arbeitsmarkt (auch für Frauen) und eine größere Mobilität.
- Gerhard SCHULZE (2005) geht von einer Erlebnisgesellschaft mit verschiedenen Milieus aus (hedonistische Milieus, alternative Milieus, Aufstiegsmilieus, traditionslose Arbeitermilieus, konservative Milieus, kleinbürgerliche Milieus; vgl. HRADIL 2006).
- Das Konzept der Säkularisierung eignet sich besonders für Entwicklungen der Religion und Religiosität(vgl. LEHMANN 2004).
- Darunter wird der Rückgang der politischen Macht der Kirchen, der kirchlichen Besitztümer und der Führung von Bevölkerungsregistern verstanden.
- Das Verhältnis von Staat und Kirche in Europa ist vielfältig (vgl. Frankreich und Österreich).
- Entwickelt haben sich eigene Normen, Werte und Sprachformen in Wirtschaft, Politik, Kunst, Wissenschaft und Religion.
- Letztlich gab es eine Schwächung der Kirchenbindung, des Gottesdienstbesuchs, der kirchlichen Inanspruchnahme bei Krisensituationen und Nutzung von kirchlichen Riten bei Ereignissen im Privatleben. Religion wurde eine private Angelegenheit. Gründe für eine Säkularisierung sind politische Zwänge, gesellschaftliche Modernisierung, Urbanisierung, Verwissenschaftlichung bzw. Bildungsexpansion und soziale Sicherung sowie eine Abkapselung der Kirchen gegenüber dem sozialen und kulturellen Wandel.
Werte und Religiosität entwickeln sich zwischen 1945 und 2000 unterschiedlich.
- Die Not der Nachkriegszeit ergibt naturgemäß eine Orientierung an materiellen Werten. Klassenmilieus, ethnische und kirchliche Milieus ergeben eine starke Bindung, um Hilfe für Notlagen zu erhalten.
- Ebenso ergibt sich eine Epoche der Individualisierung, oft durch die Umstände erzwungen. Heimkehrende junge Soldaten hatten sich weitgehend von den Familien entfremdet. Auch junge Frauen hatten sich von den Vätern losgelöst, man fand schwer zu den alten Werten zurück.
- Zwischen den sechziger und achtziger Jahren säkularisierte sich die Gesellschaft, politische Werte änderten sich, ebenso Familien- und Arbeitswerte sowie die Religiosität. Europäische Werteumfragen ergaben eine liberale Haltung bei Fragen wie der Scheidung, Abtreibung, Sterbehilfe, Homosexualität und Prostitution. In fast allen europäischen Staaten nahm die Permissivität zu.
- Als weiteren Wertewandel entstand Vertrauen junger Menschen neben der engeren Familie auch in die Mitmenschen, besonders in Skandinavien und in den Niederlanden. Das Misstrauen gegenüber dem Anderen herrschte allerdings vor (Erfahrungen in beiden Weltkriegen, Gewalt in politischen Konflikten). Erst in einem langen Prozess milderte sich dies bei jungen Menschen.
- Um 1980 herrschte relativ große Toleranz gegenüber Migranten und religiösen Minderheiten in Europa. Wenig Toleranz gab es gegenüber Alkoholikern und Drogenabhängigen. Öffentlichen Institutionen misstraute man, etwa dem Militär, der staatlichen Verwaltung, der Presse, den Gewerkschaften und Großunternehmen. Das Vertrauen in das Erziehungssystem stieg an.
- Zur gleichen Zeit ergab sich ein Vertrauensanstieg in eigene politische Aktionen. Populär wurden Petitionen und Demonstrationen. Wenig Vertrauen hatte man in wilde Streiks und Hausbesetzungen.
- Im Kontext mit dem Vertrauen in den Anderen und politischen Aktionen veränderten sich die Familienwerte. "Innengeleitete" Werte wurden forciert, etwa Toleranz, Verantwortungsbewusstsein, Ehrlichkeit und Umgangsformen. "Außengeleitete" Werte wie Gehorsam, Selbstlosigkeit, Geduld und Sparsamkeit wurden beibehalten, fanden aber nicht die Akzeptanz.
- Die strikte Arbeitsteilung verlor allmählich ihre Bedeutung. Die Mutterrolle wandelte sich, man erwartete einen Mitverdienst der Ehefrau.
- Die Billigung von Homosexualität nahm zu.
- Der Wertewandel beruhte auf dem Umstand, dass jüngere Europäer andere Werte besaßen als ältere. Es kam zu großen Spannungen zwischen den Altersgruppen(vgl. KAELBLE 2007, 128).
- Die Ehewerte blieben bemerkenswert stabil. Wechselseitiger Respekt, Toleranz und Treue galten, im Gegenteil Familienwerte nahmen zu (vgl. ASHFORD-TIMMS? 1995, 67, 122, 135).
- Arbeitswerte änderten sich. Mitbestimmung von Arbeitnehmern war zunächst wesentlich, in der Folge stieg das Leistungsprinzip (vgl. den Konsens von Bezahlung nach Leistung). Arbeitsplatz, Arbeitszeit, Arbeitsklima und Arbeitsleistung wurden bedeutend. Materielle und postmaterielle Werte wurden wichtiger (vgl. ASHFORD-TIMMS? 1995, 117-119). Grenzen zeigten sich beim Entscheidungsmonopol der Arbeitgeber und in der Verstaatlichung der Wirtschaft und Arbeiterselbstverwaltung (vgl. ASHFORD-TIMMS? 1995, 134).
Gründe für den Wertewandel waren
- eine Folge des Wohlstandes, zunehmende Bildung, soziale Sicherung und damit eine Schaffung von Individualität. Politische und kulturelle Akteure, Medien und soziale Bewegungen spielten ebenso eine Rolle. "Es war demnach keine stille Revolution der Bürger, sondern ein gewollter und erfolgreich herbeigeführter Wertewandel" (KAELBLE 2007, 130). Nicht zu übersehen war ein Generationenkonflikt zwischen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, nicht zuletzt mit einem Einfluss des US-Modells? ("american way of life").
- Es veränderte sich auch die Kirchenbindung und Religiosität zwischen den fünfziger und achtziger Jahren. Ein Rückgang an Kirchenmitgliedschaften, Gottesdienstbesucherzahlen (mit Ansteigen der Besucherzahlen in muslimischen Moscheen durch Zuwanderung) und kirchlichen Riten zeigte sich. Gründe waren der Ausbau sozialer Systeme, steigende Gesundheit, ein besseres Bildungssystem und Bildungsniveau. Kirchen verloren moralische Autorität, die Europäer griffen auf psychologische, medizinische und andere wissenschaftliche Autoritäten zurück. Religiöser Glaube wurde zunehmend Privatsache. In Osteuropa hatte der Rückgang viel mit politischen Repressionen zu tun (vgl. die Unterschiedlichkeit zwischen der DDR, CSSR und Polen).
In den neunziger Jahren entwickelte sich der Wertewandel vielfach in eine andere Richtung (vgl. KAELBLE 2007, 132-136).
- Das Vertrauen in den Anderen sank in den großen Ländern, gleichzeitig schätzte man die persönliche Solidarität. Befürwortet wurde die persönliche Hilfe für Alte, Kranke und Behinderte.
- Von Interesse ist die Zunahme von Toleranz gegenüber Minderheiten. Nur in den großen Ländern nahm die Bereitschaft ab. Da Toleranz nicht unbedingt Hilfsbereitschaft bedeutet, war in Europa zu persönlicher Hilfe nur eine Minderheit bereit(vgl. ASHFORD-TIMMS? 1995, 14).
- Familienwerte veränderten sich leicht, eindeutiger war die Veränderung in der Frauenrolle. Die traditionelle Einstellung verlor in West- und Osteuropa(Ausnahmen BRD und DK).
- In den Arbeitswerten stieg die Leistungsbezogenheit. Betriebshierarchien wurden eher akzeptiert, mussten aber auf Leistung sich beziehen.
- Die Religiosität veränderte sich. In Europa schwächte sich die Säkularisierung ab. Der Glaube an Gott nahm in den meisten Ländern leicht zu. Der Personenkreis blieb relativ unverändert. Traditionelle Kirchen erlebten nach der Wende einen Aufschwung in Osteuropa. Religionskonflikte kehrten in der Jugoslawienkrise zurück. Ein Randphänomen blieben christliche Sekten und ostasiatische Religionen(vgl. für postkommunistische Länder Mittel- und Osteuropa POLLACK-BOROWIK-JAGODZINSKI? 1998).
- Gründe für einen Wandel waren zunächst Schwierigkeiten, Karriere zu machen. Die steigende Arbeitslosigkeit veränderte langsam die Werteskala, das Vertrauen in den Mitmenschen und in die Zivilgesellschaft sank (mit ein Grund war die Balkankrise 1992).
Europäische Besonderheiten waren
- der Irrtum der Europäer, der europäische Wertewandel mit Individualisierung, Postmaterialismus und Säkularisierung habe überall in der modernen Welt stattgefunden. Als reine europäische Besonderheit zeigte sich der Hang zu postmateriellen Werten (vgl. INGLEHART 1995). Einschränkend ist zu bemerken, dass zur Jahrtausendwende in Westeuropa die postmateriellen Werte viel verloren hatten.
- der Skeptizismus gegenüber der Zukunft, der Wissenschaft und auch gegenüber Regierungen und dem Anderen (Ausnahmen waren Skandinavien, und das UK). Gründe waren die Erfahrung mit Gewalt und Diktaturen. Damit entstanden kritische Haltungen gegenüber der Politik und Kirchen (vgl. die Erfahrungen mit zwei Weltkriegen, Energieknappheit/1973, Grenzen des Fortschritts und neuen Epidemien).
- die fortschreitende Säkularisierung. Entkirchlichung war in Europa besonders fortgeschritten.
- Europäer machten Erfahrungen mit den USA und der arabischen Welt. Einstellungen zu Gewalt, Waffenbesitz, Todesstrafe, der Rolle des Staates/Sozialstaat, Sozialwerten, Konsum, Umwelt und Einstellung zu Religion waren verschieden (vgl. den IT-Autorenbeitrag? http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Interkulturelle Kompetenz, Globales Lernen).
Literaturhinweise
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Schulze G. (2005): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/M.
7 Europa als politisches System | |
Die Europäische Union/EU hat sich aus der "Europäischen Gemeinschaft (EG) entwickelt. Diese wurde zur Konfliktvermeidung zwischen den westlichen europäischen Ländern gegründet.
In der EU sind die drei Gemeinschaften "Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl", "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft/EWG" und "Europäische Atomgemeinschaft" zusammengefasst.
In Maastricht (NL) wurde die EU am 1. November 1993 gegründet.
Als Konkordanzdemokratie ist die EU eine demokratische Regierungsform, in der politische und gesellschaftliche Konflikte nicht primär über politische Mehrheiten und einfache Mehrheitsformen, sondern über Verhandlungen, Kompromisse und breite Übereinstimmung gelöst werden.
Gründungsmitglieder waren Frankreich, Belgien, Luxemburg, Italien, die Niederlande und Deutschland.
Symbole sind die EU-Flagge? und die EU-Hymne?. Diese symbolisiert nicht nur die Europäische Union, sondern auch Europa im weiteren Sinn. Mit der "Ode an die Freude" brachte Schiller seine idealistische Vision zum Ausdruck, dass alle Menschen zu Brüdern werden - eine Vision, die Beethoven teilte.
Die EU stellt kein europäisches Volk dar, vielmehr eine Ansammlung von Nationalvölkern mit geringer Identität.
Zusätzlich zu den 28 Mitgliedsstaaten (Stand: März 2015) sind in die Verwaltungsstruktur Frankreichs etwa Guayana, Martinique und die Reunion, Spaniens die Kanaren und Portugals die Azoren und Madeira einbezogen. In Zollunion sind die Kanalinseln und die Isle of Man. Der Euro/€ erhält damit die Bedeutung einer weltweiten Währung.
2009 wurden erstmals von den europäischen Parteien EU-Themen? bearbeitet.
2014 waren erstmals EU-Themen? auch Wahlthemen zum Europäischen Parlament. Damit kam es zu einer verstärkten Kommunikation über Europa.
7.1 Gemeinsame Grundwerte - Lissabon 2009 | |
- Förderung des Friedens und des Wohlergehens
- Soziale Marktwirtschaft und sozialer Frieden
- Freiheit ohne Binnengrenzen
- Menschenrechte - Anzeige bei Verletzung der MR, Rechtsetzung-Rechtsprechung?
- Meinungsfreiheit
- Medienfreiheit
- Solidargemeinschaft
- Gleichberechtigung von Männern und Frauen-soziale Gerechtigkeit
- Umweltschutz
- Wirtschafts- und Währungsunion
- Bekämpfung sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung
7.2 Europäische Institutionen | |
Europäische Institutionen sind
- der Europarat,
- der Europäische Rat,
- der Rat der Europäischen Union,
- die Ratspräsidentschaft
- die EU-Kommission?,
- das Europäische Parlament,
- der Europäische Gerichtshof,
- der Rechnungshof und
- die Europäische Zentralbank.
7.3 Sonstige Institutionen | |
Sonstige Institutionen sind etwa
- der Wirtschafts- und Sozialausschuss,
- der Ausschuss der Regionen und
- der Bürgerbeauftragte(Ombudsmann).
7.4 Politikbereiche der EU | |
Politikbereiche der EU sind
- die Gemeinsame Agrarpolitik,
- der Binnenmarkt,
- die Wirtschafts- und Währungsunion,
- die Sozial- und Beschäftigungspolitik,
- die Gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik und
- die Innen-und Justizpolitik.
7.5 Bürgerbeteiligung | |
Bürgerbeteiligungen stellen sich in
- der Wahl der Parlaments,
- indirekten Bestellung der Kommissare durch legitimierte Mehrheiten in den Mitgliedsländern und
- der Möglichkeit von EU-Volksbegehren? dar.
7.6 Vier Freiheiten der EU | |
Die vier Freiheiten der EU sind
- der Kapitalverkehr,
- der Warenverkehr,
- der Personenverkehr und
- die Dienstleistungen.
Literaturhinweise
Naßmacher H.(2004): Politikwissenschaft. Lehr- und Handbuch der Politikwissenschaft, München-Wien?, 471-478
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Pollak J.-Slominski P.(2006): Das politische System der EU, UTB 2852, Wien
Reflexive Phase | |
Wer sich mit Europa in der Aus- bzw. Fortbildung Lehrender/ Erwachsener in der Politischen Bildung und Menschenrechtsbildung beschäftigt, kommt nicht umhin, sich mit
- Aspekten der Kindheits- und Jugendkonzepte,
- statistischen Daten,
- Rechten und der Politik für Kinder und Heranwachsende,
- europäischen Bildungskonzepten,
- der Schulen in der EU und ihrer strukturellen Krise bzw. der Thematik der Schulkrise in der Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaft,
- Europa in der politischen und Sozialgeschichte sowie
- als politisches System der EU auseinanderzusetzen.
Das Projekt Europa kann von vielen Seiten bearbeitet werden. Der Autor hat sich für diese umfassende Dimension einer Betrachtung entschieden.
Impulse ergaben sich
- aus der fachlichen Auseinandersetzung mit den angeführten Themenbereichen,
- der Absolvierung der beiden Universitätslehrgänge Politische Bildung und Interkulturelle Kompetenz,
- aus der Beschäftigung mit der Fachliteratur,
- aus EU-Comenius-Projekten? und einem Lehrer-Betriebspraktikum? mit Kontakten zu anderen Schulsystemen und
- dem notwendigen interdisziplinären Umgang mit der Thematik, der das Bewusstsein für den Themenkomplex schärft (vgl. die Hinweise auf IT-Autorenbeiträge?).
Angeführt sind diejenigen Titel, die für den Beitrag verwendet und/oder direkt zitiert werden. Bei einzelnen Kapiteln ist eine spezifische Fachliteratur angegeben.
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Zum Autor | |
APS-Lehrer?/ Lehramt (VS-HS-PL?/1970-1975-1976), zertifizierter Schüler- und Schulentwicklungsberater, Mitglied der Lehramtsprüfungskommission für die APS beim Landesschulrat für Tirol (1993-2002)
Lehrbeauftragter am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien/Berufspädagogik/Vorberufliche Bildung (1990/1991-2010/2011), Lehrbeauftragter am Sprachförderzentrum des Stadtschulrates Wien/Interkulturelle Kommunikation (2012), Gründungsteilnehmer der LehrerInnen-Plattform? für Politische Bildung und Menschenrechtsbildung des bm:bwk (2004/2005), Lehrbeauftragter am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg/Lehramt "Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung" - "Didaktik der Politischen Bildung" (2015/2016, 2017)
Absolvent des Instituts für Erziehungswissenschaft/ Universität Innsbruck/ Doktorat (1985), des 10. Universitätslehrganges für Politische Bildung/ Universität Salzburg-Klagenfurt?/ MSc (2008), der Weiterbildungsakademie Österreich/ Diplome (2010), des 6. Universitätslehrganges Interkulturelle Kompetenz/ Universität Salzburg-Lehrgang? Wien/Diplom (2012), des 4. Lehrganges für Hochschuldidaktik/ Universität Salzburg/ Zertifizierung (2016), des Online-Kurses? "Digitale Werkzeuge für Erwachsenenbildner_innen"/ TU Graz-CONEDU-Werde? Digital at.-Bundesministerium für Bildung/ Zertifizierung (2017), des Fernstudiums Erwachsenenbildung/ Evangelische Arbeitsstelle Fernstudium - Comenius Institut Münster/ Zertifizierung (2018), des Fernstudiums Nachhaltige Entwicklung/ Evangelische Arbeitsstelle Fernstudium - Comenius Institut Münster/ Zertifizierung (2020)
Aufnahme in die Liste der sachverständigen Personen für den Nationalen Qualifikationsrahmen/ NQR, Koordinierungsstelle für den NQR/Wien (2016)
MAIL dichatschek (AT) kitz.net
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