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Antisemitismus

Grundwissen Antisemitismus    

Aspekte historisch-politischer Bildung    

Günther Dichatschek

Inhaltsverzeichnis dieser Seite
Grundwissen Antisemitismus   
Aspekte historisch-politischer Bildung   
Vorbemerkung   
0 Zur Geschichte der Judenfeindlichkeit   
01 Antike   
01.1 Rom   
01.2 Christlicher Antijudaismus   
01.3 Paulinische Briefe   
01.4 Synoptische Evangelien   
02 Frühes Mittelalter   
03 Hochmittelalter   
04 Kreuzzüge   
05 Reformation   
06 Aufklärung und Revolution   
07 Rassistischer Antisemitismus   
08 Herausforderungen in Historischer Politischer Bildung   
1 Einleitung   
Theorie   
2 Theoretische Beschreibung   
2.1 Lehramtsausbildung   
2.2 Theoretische Beschreibungen   
3 Prävention in Bildungsbereichen   
3.1 Prävention in schulischer Politischer Bildung   
3.2 Erscheinungsformen des Antisemitismus   
3.3 Prävention in erwachsenenpädagogischer Politischer Bildung   
3.3.1 Adressatenorientierung   
3.3.2 Exemplarisches Lernen   
3.3.3 Problemorientierung   
3.3.4 Kontroversität   
3.3.5 Handlungsorientierung   
3.3.6 Wissenschaftsorientierung   
4 Zusammenfassung   
Aspekte eines Antisemitismus in Europa und Österreich   
5 Einführung   
6 Antisemitismus in Europa   
6.1 Studien zum Antisemitismus 2003   
6.2 Profil von Antisemiten   
6.3 Dokumentation   
7 Nationalsozialismus in Österreich   
7.1 Juden in Österreich unter NS-Herrschaft   
7.2 Flucht in die Schweiz   
7.3 Die Rolle der Evangelischen Kirche in Österreich 1938-1945   
8 Erziehung nach Auschwitz   
8.1 Beispiel in deutscher Literaturgeschichte: Max FRISCH "Andorra" (1961)   
8.2 Unterrichtskonzepte zum Lebensraum und zur Menschenwürde/ Sekundarstufe I   
8.2.1 Thema "Du und Dein Lebensraum" / Sekundarstufe I - 1. Klasse   
8.2.2 Thema "Menschenrechte - Menschenwürde"   
Literaturhinweise Aspekte Antisemitismus   
Internethinweise/ Auswahl   
Museum - Gedenkstätten   
Buchbesprechung   
Literaturhinweise Theorie   
IT - Autorenbeiträge   
Zum Autor   

Die Studie wurde im Rahmen des Simon Wiesenthal - Preises 2024 eingereicht.

Vorbemerkung    

Die Studie findet ihre Begründung am Interesse der Politischen Bildung, eine Förderung von Denk-, Handlungs- und Urteilsmöglichkeiten in der Fachdidaktik zu betrachten.

Am Beispiel der Antisemitismusproblematik und ihrer Aktualität in den Bemühungen der Bildungsbereiche der Schul- und Erwachsenenpädagogik wird eine Reflexivität besonders bevorzugt (vgl. MÜLLER 2021, 233-260).

Ausgangspunkt sind die

  • Absolvierung der Universitätslehrgänge Politische Bildung (2008) und Interkulturelle Kompetenz (2012) / Universität Salzburg,
  • Absolvierung des Internen Lehrganges Hochschuldidaktik/ Universität Salzburg (2016),
  • Absolvierung der Weiterbildungsakademie Österreich (2010) und des Fernstudiums Erwachsenenbildung (2018) und
  • Auseinandersetzung mit der Fachliteratur mit dem Schwerpunkt Politische Bildung und Vorarbeiten des Autors (vgl. DICHATSCHEK 2017a,b, 2018, 2019, 2020).
Zu erwähnen ist der Schwerpunkt einer Antisemitismusprävention ab 2017 in Österreich.

IT - Hinweis

https://www.bmbwf.gv.at/Themen/euint/ep/antisemitismus.html (12.02.21)

https://religion.orf.at/stories/3209213/ (13.10.21)

0 Zur Geschichte der Judenfeindlichkeit    

Es wird einführend im Kontext einer Historischen Politischen Bildung auf die Geschichte der Judenfeindlichkeit und die Entwicklung zum "Antisemitismus" in Epochen verkürzt skizzenhaft eingegangen (vgl. ausführlich BRUMLIK 2020, 9-100).

01 Antike    

In den vorchristlichen Kulturen Griechenlands und Roms lebten Juden. Tacitus (58-120) etwa hielt die Juden für illoyal und abergläubisch, weil sie als Monotheisten den römischen Kaiserkult ablehnten, sich an Reinheitsgebote und Speiseregeln hielten. Apion als griechisch schreibender Autor aus Ägypten hielt die Juden als Abkömmlinge einer aus aus Ägypten geflüchteten Gruppe leprakranker Sklaven.

Eine Ausnahme antijüdischer Schriften sind die Berichte über den erfolgreichen Aufstand der Makkabäer gegen das judenfeindliche Herrscherhaus der Seleukiden (vgl. nichtkanonische Makkabäerbücher der Bibel). Es entstand in der Folge ein unabhängiger jüdischer Staat für kurze Zeit (175 v.Chr.).

Die Römer eroberten unter Pompejus (63 v. Chr.) das östliche Gebiet des Mittelmeeres und benannten die Provinz "Judäa", regiert von einem römischen Kurator und teilweise von einem idumäischen Herrscherhaus der Herodianer.

Nach zwei blutigen Aufständen 66-70 und nochmals 135 endete ein jüdisches Staatsgebilde bis 1948. 135 nannten die Römer in der Folge die Provinz "Palästina". Die Zerstörung des des Tempels 70 durch Vespasian und Titus war eher eine Niederschlagung eines Aufstandes in einer gefährdeten Provinz als eine religionsfeindliche Maßnahme.

Juden waren im Römischen Reich in ihrem religiösen Leben nicht eingeschränkt (religio licita). Sie wurden auch nicht gezwungen, dem Kaiser zu opfern. Allerdings hatten sie eine Abschlagszahlung zu leisten. Es ist nicht davon auszugehen, dass es bereits in der Antike eine verbreitete Judenfeindschaft gab.

01.1 Rom    

Römische Kaiser suchten Juden zu schützen, aber auch einzuschränken, etwa durch das Verbot Angehörige ihres Haushalts zum Judentum zu bekehren oder durch das Verbot, nichtjüdische Sklaven zu besitzen.

Rom war eine der ältesten jüdischen Gemeinden. Nach ersten Ansiedelungen waren es in der Makkabäerzeit nach Rom freigelassene verschleppte kriegsgefangene jüdäische HSklaven, die in Trastevere oder auch an der Via Appia und dem Stadtteil Subura wohnten. Zur Zeit von Herodes im 1. Jh. lebten ungefähr 8000 Juden in Rom, Synagogen aus der agustäischen Zeit sind archäologisch belegt.

Die Prominenz römischer Juden belegt Cicero mit dem Klagen einer Behinderung öffentlicher Rechtsprechung durch viele Juden und der Geschichte der zum Judentum übergetretenen Patrizierin Fulvia. Sie verursachte unter Tiberius (14-37) die Ausweisung von Juden aus Rom. Berichtet wird auch von der Gemahlin Neros (54-68), dass sie Jüdin wurde.

01.2 Christlicher Antijudaismus    

Dias änderte sich mit Konstantin im frühen 4. Jahrhundert, als er als erster römischer Kaiser, erst auf dem Totenbett zum Christentum übertrat. Vorher hatte er das Christentum zur Staatsreligion erhoben.

Unter dem Verfolgungsdruck des 1.Jh. konkurrierte es zunächst mit dem Judentum, um es dann zu beerben. In der Folge wurde die historische Berechtigung abgesprochen. Mit der Verbreitung der christlichen Religion begann die Judenfeindschaft. Jüdisch stand hier für eine Glaubenshaltung, die bestimmt war durch ihre Gesetzlichkeit und Ablehnung des Messias Jesu.

Ausgehend vom Neuen Testament, verfasst zunächst von Juden für andere Juden, dann für Nichtjuden verfasst, wurden die Juden von der Kirche als die für die Kreuzigung Jesu Verantwortlichen und als ob ihres Unglaubens die Erlösung der Welt verhindernde Gruppe dargestellt. "Die Kirchenväter des 2. und 3. Jh. vermengten diese Charakterisierungen in ihren Schriften und Predigten dann noch mit tradierten Vorwürfen aus der heidnischen Antike, die den Juden Gottlosigkeit, sexuelle Ausschweifungen sowie andere ausschließende Speisegesetze vorwarfen" (BRUMLIK 2020, 13).

01.3 Paulinische Briefe    

Der Brief an die Römer als zentrale Schrift im NT belegt, dass es in Rom im frühen 1.Jh. eine große jüdische Gemeinde gab. Der Römerbrief richtete sich nicht an Christen im heutigen Sinne, die es damals noch nicht gab, vielmehr an Römer und Griechen jüdischen Glaubens, ethnische Herkunft gering schätzen zu können.

In einem anderen Schreiben an die in Vorderasien lebenden Galater und Juden und Griechen, Sklaven und Freie, Frauen und Männer benennt, im Glauben an Jesus besteht kein Unterschied (vgl. Gal 3, 26). Gemeinsam sollten alle beten.

In der Hochschätzung der Erwählung Israels (Gal 11, 17 - 24), erwies sich Paulus in hellenistischer Universalität als Vorläufer rabbinischer Theologie. Er selbst als Apostel jüdischer Herkunft wurde zum Kronzeugen des christlichen Antijudaismus, auf dem in der Folge der neuzeitliche Antisemitismus aufbauen konnte. Auf die positive Kritik am Glaubensinhalt der Tora mit der Befolgung göttlicher Weisungen berief sich Jahrhunderte später vor allem der lutherische Protestantismus (vgl. BRUMLIK 2020, 15).

Paulus schätzte die Tora (Röm 7,12). Vor allem respektierte er die Juden als Ursprung und Wurzel des christlichen Glaubens an Jesus von Nazareth als Messias und Erlöser (Röm 11, 18). Verfasst wurden die Schriften 30-40.

01.4 Synoptische Evangelien    

Im NT von Markus, Matthäus und Lukas wird der Begriff "Jude" bzw. "jüdisch" neutral verwendet (Luk 2,4).

Anders das Evangelium von Johannes (Joh 8,44). "Dort gelten Juden als Kinder des Teufels - eine Formulierung, die die hochmittelalterliche Dämonisierung der Juden bestärkte und deren Einfluss bis auf die Seiten von Julius Streichers (1885-1945) antisemitischen Hetzblattes 'Der Stürmer' reichte" (BRUMLIK 2020, 16). Allerdings postuliert ebenfalls Johannes, dass das Heil von den Juden komme (Joh 4.22).

Es war die Passionsgeschichte der synoptischen Evangelien, die die Juden zu Gottesmördern erklärte. Der seit den Kreuzzügen erhobene Vorwurf setzte die Feindschaft der jüdischen Tempelobrigkeit gegen Jesus voraus. Zudem folgt die Jahrhunderte später entstandene Trinitätslehre der Konzile von Nicäa (325) und Chalcedon (450). "Nur wenn der Mensch Jesus von Nazareth als Sohn Gottes göttlicher und menschlicher Natur zugleich war, kann die Kreuzigung als Gottesmord verstanden werden" (BRUMLIK 2020, 16).

Die Evangelien berichten von einer Tempelpriesterschaft, die die römische Obrigkeit drängt Jesu zu richten. Die Rede ist auch von vor dem Tempel anwesenden Judäern, die Pilatus vor die Wahl stellte, Barabas oder Jesus freizulassen. "Das Matthäus-Evangelium enthält das später als Eingeständnis des Mordes gewertete Selbstverfluchung der Menge vor dem Tempel [...] (Mt 27, 25)" (BRUMLIK 2020, 17). Die zu entstehende Judenfeindschaft zeigt sich bis zu Zeit der Völkerwanderung, um dann zu verstummen.

Vor der Abfassung der Evangelien hatte der Apostel Paulus pauschal alle Juden für den Tod Jesu bezichtigt (1.Thess. 2, 15).

In der religionshistorischen Forschung heißt es, der erste biblische Kanon sei von einem Melito von Sardes zusammengestellt worden. Dieser bereiste Palästina und beschuldigte nach dem Kirchenvater Eusebius von Caesarea (263-339) die Juden des Gottesmordes (vgl. BRUMLIK 2020, 17).

02 Frühes Mittelalter    

Von der späten Antike bis zum Ende des 1. Jahrtausends speilte Judenfeindschaft mit wenigen Ausnahmen keine wesentliche Rolle. Mit der karolingischen Herrschaft um 800 begann eine Phase jüdischer Existenz im Abendland sogar mit einem kaiserlichen Judenschutz. Ludwig der Fromme (813-840) stellte Juden Privilegienbriefe aus (vgl. ausführlich BRUMLIK 2020, 21-23).

Vor allem konnten sie im Fernhandel tätig sein, ihr Leben nach der rabbinischen Halacha/ jüdischem Religionsgesetz führen. Möglich war dies nach dem germanisch-fränkischen Recht, das einen Pluralismus der Stammes- und Rechtskulturen förderte. Kaiserliche Sendboten hatten die Vollmacht, Verstöße gegen die Judenprivilegien richterlich zu ahnden. Ausdruck der Aufgeschlossenheit gegenüber dem Judentum war die freiwillige Bekehrung eines Hofdiakons 839 zum Judentum, der als Eleazar nach dem maurischen Saragossa zog.

Es war die Kirche, die durch die Bischöfe von Lyon - Agobart von Lyon (779-840) und Amulo von Lyon - sich beim kaiserlichen Hof über die Rechte der Juden beschwerten. In der Folge beschwerten sich alle, Juden seien gefährlicher als Ketzer und Schismatiker. Jüdische Gemeinden waren in das gesellschaftliche Leben voll einbezogen. In eigenen Stadtvierteln leben sie nicht eingesperrt.

03 Hochmittelalter    

Die Umwandlung vieler Städte in "Freie Reichsstädte" als eigene christliche Körperschaften auf Basis von Zünften ergab für Juden den Status Bürger zweiter Klasse, geteilt mit Frauen, Leibeigenen, Knechten und Durchreisenden.

Folgen für die Existenz der Juden hatte um 1100 eine tiefe 300 Jahre lange Krise mit dem Verarmen des Adels durch Erbteilung, dem Aufstieg der Städte, ersten Manufakturen, zentralistischer Rechtsform der Kirche und einer langsamen Entwicklung zentralstaatlicher Herrschaft. Bedrohungen von außen etwa waren das Vordringen muslimischer Berber und Araber nach Spanien und später in den Süden Frankreichs, die Angriffe asiatischer Reiterbvölker nicht nur in Ungarn, auch in Polen.

Mit dem Geldbedarf für Repräsentation und Bewaffnung feudaler Höfe stieg das Kreditgeschäft, das den Juden geradezu aufgezwungen wurde. Der Ärger über Schulden und Zinsen wurde auf die Juden bezogen.

Zudem änderte sich das Bild Jesu im Glauben und der Kunst, der hängende Schmerzensmann am Kreuz und nicht triumphierende Weltenherrscher, mit der Frage nach den Urhebern des Leiden. Die Antwort war schnell mit den Juden gefunden. Das Kruzifix wurde zunehmend zum Symbol. Historisch das erste bekannte Kruzifix hängt heute noch im Kölner Dom.

04 Kreuzzüge    

100 Jahre später rief Urban II. 1095 auf der Synode in Clermont-Ferrand den Ersten Kreuzzug aus und forderte bewaffnet in das sarazenische Jerusalem zu wallfahren, um das "Heilige Grab" zu befreien.

Für viele nicht erbberechtigte Adelssöhne eröffnete sich jetzt, im Zeichen des Kreuzes, einen ritterlichen Lebensstil ohne Hof und Burg zu pflegen. Um die verarmte Land- und Stadtbevölkerung scharten sich apokalyptische Prediger, die sogar Kinder anstifteten, in das Heilige Land zu ziehen. In dieser Zeit wurden Juden zu klassischen Sündenböcken.

Die verarmten Massen bezogen sich auf die scheinbaren Nachfahren der "Christusmörder", die man nicht bis Jerusalem verfolgen musste, in den großen jüdischen Gemeinden der wohlhabende Städte etwa am Rhein. Als Gottfried von Bouillon verkündete, das Blut Christi an den Juden zu rächen, wandten sich diese an den Kaiser Heinrich IV. Sein Aufruf die Juden zu schützen, brachte Gottfried von Bouillon zum Einlenken. Gegen das Zahlen von Schutzgeldern verschonte man die Juden.

Im Frühjahr 1096 kam es zu blutigen Ausschreitungen im Rheingebiet zunächst in Speyer mit elf Toten, in Worms beschuldigte man die Juden der Brunnenvergiftung. Die Woche der Brandschatzungen, Plünderungen und Mordens überlebten nur jene, die sich taufen ließen. In Köln ließ der Bischof die Juden im Umfeld der Stadt evakuieren, wo sie, wenn sie sich nicht taufen ließen, von der Landbevölkerung umgebracht wurden. Bischöfe und der Kaiser verhielten sich zu den Zwangstaufen meist großzügig, die Betroffenen durften zum Judentum zurückkehren. 50 Jahre später waren die jüdischen Gemeinden am Rhein wieder aufgebaut.

Mit dem Beginn des Zweiten Kreuzzuges 1147 wiederholten sich die Ausschreitungen und Pogrome. Der Schutz des Kaisers bot ein Minimum vor Verfolgung. Personen, die Juden verfolgten, wurden sogar bestraft.

Der 40 Jahre später beginnende Dritte Kreuzzug wurde von Gräueltaten gegen Juden begleitet. "In Speyer wurde die Leiche der kürzlich verstorbenen Tochter eines Rabbiners aus dem Grab gerissen und nackt zur Schau gestellt - der Versuch ihres Vaters, sie wieder zu bestatten, führte zu einem erneuten Pogrom gegen die ganze Gemeinde" (BRUMLIK 2020, 30).

In Frankreich und England verbreiteten die Kreuzfahrer und ihre Prediger die sogenannte "Blutbeschuldigung", Juden hätten christliche Knaben rituell ermordet. Das Vierte Laterankonzil 1215 beschloss Kleidervorschriften für Juden, die einige weltliche Herrscher übernahmen, um Juden in mehr Abhängigkeit zu bringen. Überall wurden Juden jetzt als Wucherer und Ausbeuter verfolgt, in der Nachfolge jenes Judas, der in den Schriften des NT Jesus gegen dreißig Silberlinge den Römern preisgegeben haben soll. Von der Landwirtschaft und dem Handwerk wurden Juden auch ferngehalten.

Aus wirtschaftlichem Interesse, sich Schulden zu entledigen, kam es immer wieder im ganzen Mittelalter zu Pogromen und Vertreibungen, die Juden in Westeuropa und in Deutschland bis nach Polen und Russland führte. Mit dem Übertritt zum Christentum konnte man sich allerdings vor Verfolgung schützen.

05 Reformation    

Einen antisemitischen Höhepunkt erreichte die christliche Judenfeindschaft in der deutschen Reformation. Martin Luther hatte gehofft, dass er die Juden durch das 1523 publizierte Eingeständnis, dass Jesus ein geborener Jude gewesen sei, zum Christentum bekehren könne. 20 Jahre später wandte sich Luther wegen Erfolglosigkeit gegen die Juden und das Judentum, vor allem aus politischen und ökonomischen Motiven. Anders als die Wiedertäufer und Bauern galten ihm die Juden nicht als "Aufrührer", aber durchaus als eine Gruppe, gegen die man Maßnahmen ergreifen durfte (vgl. in der Folge PANGRITZ 2017).

Luther war für eine scharfe Trennung des Reiches christlicher Barmherzigkeit von der weltlichen Obrigkeit. 1525 kam es zur Konfrontation mit den aufständischen Bauern. Etwa zwanzig Jahre später bezog er dies auf die Juden. 1543 werden sie in der Schrift "Von den Juden und ihren Lügen" schon dämonisiert (vgl. BRUMLIK 2020, 33-34). Aus diesem Hintergrund plädierte er für eine "scharfe Barmherzigkeit" (Synagogen und Schulen anzünden, Häuser zerstören, Verbannung und Gefangenschaft, Lehrverbot von Rabbinen, Verbot von Wucher, Reiseverbot, Zwangsarbeit, Vertreibung).

Luther war nicht der einzige, der solche Vorschläge machte, auch sein Gegner Johannes Eck und der Reformator Straßburgs Martin Bucer. Luther begründete seine Vorschläge theologisch im Hinblick auf den Spott und die Lügen der Juden über den christlichen Glauben und auch politisch und ökonomisch.

Die folgende Renaissance und die Reformation hatten gegensätzliche Tendenzen. Ein Teil der Humanisten begann sich auf die Würde eines jeden Menschen zu besinnen. "Das reformatorische Denken Luthers verschärfte die theologische Judenfeindlichkeit, indem er sich auf den Kirchenvater Augustinus berief, ordnete Luther dem Gott der hebräischen Bibel und damit dem Glauben des Judentums Gerechtigkeit und Gesetz, dem Christentum und damit Jesus Liebe und Gnade zu. So rückte er das Judentum an die Stelle all jener Kräfte, die seiner Meinung nach eine Hinwendung zu Gott verhinderten" (BRUMLIK 2020, 38).

06 Aufklärung und Revolution    

Ab dem 18. Jahrhundert kommt es zu Religionskritik und entstehenden Naturwissenschaften. Bevor Charles Darwin (1808-1881) die Evolutionstheorie erarbeitete, wird der Mensch in unterschiedlicher Güte wie bei anderen Gattungen gesehen.

In der Französischen Revolution 1789 und im Napoleonischen Kaiserreich (1804-1815) waren die Juden durch die Bürgerrechte emanzipiert worden. Die folgende antinapoleonische Nationalbewegung war entsprechend judenfeindlich. Bald kam es zu Bildern, die Juden als Ungeziefer darstellten. In Deutschland wurden Karl Marx (1818-1883) oder Richard Wagner (1813-1883) vom französischen antijüdischen Frühsozialismus beeinflusst (BRUMLIK 2020, 39-40).

Die Aufklärung war auch vom Gedanken der Toleranz bestimmt. Das klassische Beispiel von Toleranz und Akzeptanz war Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) in seiner Haltung zum Judentum und als Religion, hier in seinem Drama "Nathan der Weise" (1783 kam es erstmals auf die Bühne). Geschichtsphilosophisch befasste sich Lessing in der Schrift "Erziehung des Menschengeschlechts". Bedeutend ist die Beziehung und Freundschaft zu Moses Mendelssohn (1729-1789). Weitgehend deckten sich die Ansichten mit der Betrachtung des preußischen Reformers Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751-1820).

Immanuel Kant (1724-1804) kritisierte in seiner Schrift "Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1794) das Judentum als Inbegriff einer "statutarischen Religion" (Gesetzlichkeit des jüdischen Glaubens; vgl. Werkgerechtigkeit).

Der politische Judenhass (Frühantisemitismus) entstand im Widerstand gegen die napoleonische Besatzung, so bei Ernst Moritz Arndt (1769-1860), Friedrich Ludwig Jahn ("Turnvater Jahn") (1778-1852) und vor allem bei Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), so in einer intellektuellen Stimmung.

In der allgemeinen politischen Stimmung kam es 1819 im Rheinland zu den "Hep-Hep-Hep-Krawallen" (Abkürzung steht für Hierosolyma est perdita - deutsch Jerusalem ist verloren). Die Pogrome begannen in Würzburg, breiten sich aus, bis nach Österreich, Dänemark und Frankreich.

07 Rassistischer Antisemitismus    

Judenfeinde wie Wilhelm Marr (1819-1904) und Otto Glagau (1834-1892), vereinsmäßig organisiert und selbst bezeichnet "Anti-Semiten", beanspruchten eine wissenschaftliche Grundhaltung. Juden wurden als Angehörige einer "Rasse" bestimmt. Seine Abneigung richtete man auf scheinbare biologische Fakten, die nur durch Entfernung behoben werden können. Dieser völkische Rassenbegriff, scheinbarer naturwissenschaftlicher und ideologischer Debatte, führte letzlich 1935 zu den "Nürnberger Gesetzen" (vgl. ZUMBINI 2003; BRUMLIK 2020, 46-47).

Die Erbgenetik führte zu Verteilungsmodellen wie "Halb-Viertel-Achteljude". Kontagionisten (contagio-anstecken) vertraten die Überzeugung einer Ansteckung über den Blutkreislauf. Arthur Dinter hatte die Vorstellung in seinem Roman "Die Sünde wider das Blut" dargestellt. Beide Formen des Rassismus wollten sich naturwissenschaftlich orientieren, während Ideologen wie H.F.K. Günther (1891-1968) die Bestimmung einer "arischen Rasse" im Sinne des Aufbaues einer Kultur ansahen.

Der vom Nationalsozialismus/ NS übernommene Antisemitismus als Staatsideologie war Ansporn zu Stigmatisierung, Gewalt, Willkürmaßnahmen und der "Shoa" in den Jahren von 1939-1945.

Auch zeigte sich Antisemitismus dort, wo man es nicht vermuten würde. Prominenter Ausdruck war das Werk von Karl Marx, selbst aus einer jüdischen Familie stammend, in seiner Schrift "Zur Judenfrage". Hier stand er im Bann der Religionskritik von Ludwig Feuerbach. Auch die Kritik am bürgerlichen Begriff des Eigentums bzw. der Entgrenzung in und durch das Geld sind Kennzeichen der Schrift. Seine antisemitisch wirkende Theorie entzündende sich an den Thesen des Zeitgenossen und Bekannten Bruno Bauer (1809-1882). In seiner akademischen Position in Bonn, früher Habilitationsbetreuer von Karl Marx, wandte er sich gegen die Gleichberechtigung der Juden im christlichen Staat und folgt dem Kirchenvater Augustinus (vgl. BRUMLIK 2020, 60-61).

Bruno Bauer wird nach der Revolution 1848 in der preußischen Kreuzzeitung antisemitischer Leitartikler. Marx entgegnet sinngemäß, unter Judentum versehe er als Religion eine Weltanschauung des "praktischen Bedürfnisses". Judentum wird mit "Eigennutz" gleichgesetzt und daher abgelehnt, das Christentum ist einem transzendierten Denken dagegen fähig (vgl. BRUMLIK 2020, 63-64). Marx war zunächst ein Feind des Judentum als Religion, nicht aber emanzipierter Juden. In seinem Denken war er antisemitisch beeinflusst, nicht in der Tat.

Ähnlich war der Komponist Richard Wagner in dieser Hinsicht beeinflusst. Argumentiert wird etwa, mit dem Bühnenfestspiel "Parsifal" hat Wagner eine neue arische Erlöserfigur geschaffen, die die deutlich als Jüdin gekennzeichnete Kundry in den Tod erlöst, womit dem Antisemitismus im NS Vorschub geleistet wurde (vgl. BRUMLIK 2020, 64; https://operalounge.de/buch/sachbucher/mythos-kundry [4.3.2023).

1850 erschien Wagners Schrift "Das Judentum in der Musik" als Abschluss einer Vorbereitungszeit des frühen Antisemitismus. 1893 kommt es dann zum Einzug der ersten antisemitischen Parteien in den Deutschen Reichstag. Damit wurde der Antisemitismus ein Bestandteil einer ganzen Kultur mit einer Selbstverständlichkeit im Widerstand gegen eine Emanzipation einer stigmatisierten Minderheit.

Der moderne Antisemitismus reagiert auf die krisenhaften Entwicklungen des modernen Kapitalismus, der zunehmenden Industrialisierung, folgender digitaler Modernisierung, dem Verlust verbindlicher Weltbilder und einer Versachlichung menschlicher Beziehungen. In einer verschwörungstheoretischen Sicht fällt er mit einer Ideologie des Nationalismus im 20. Jahrhundert zusammen.

Mit der Niederlage des NS und damit der Ideologie des staatstragenden Antisemitismus haben sich in der Folge neue Formen der Judenfeindschaft hzw. des Antisemitismus gebildet (vgl. HEILBRONN-RABINOVICI-SZNAIDER 2019). Für die Politische Bildung ergeben sich pädagogische Herausforderungen und neue Aufgabenstellungen.

08 Herausforderungen in Historischer Politischer Bildung    

Der ökonomische und technische Prozess der Globalisierung, politisch noch gering gestaltet, versucht bzw. beginnt in Teilbereichen Wirklichkeit zu werden. Für die Politische Bildung stellt sich in dieser angestrebten Weltgesellschaft die Frage, ob sich universalistische Werte pädagogisch umsetzen lassen. Angesichts verbesserter Telekommunikation und in der Folge digitaler Vernetzung, entstanden neue politische, ökonomische und kulturell-religiöse Großräume wie etwa die UNO, EU, der Europarat, die GUS, OSZE, NATO, WTO, die Gruppe der Staaten in Afrika, der Karibik und im Pazifik sowie der Weltkirchenrat. Eine demokratische Öffentlichkeit setzt sich für die Menschenrechte ein, die unterschiedlich aufgenommen und kulturell verbreitet werden.

Die Lehren aus den Weltkriegen und deren Folgen zu ziehen, bedürfen einer Historisierung und Pädagogisierung, zu der sich die einzelnen Staaten verpflichten. Ein Beispiel mit 99 Seiten bildet die Publikation der "Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO)" und dem "Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDMIR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)": Mit Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Ein Leitfaden für politische Entscheidungsträger/-innen > http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/igo/ (5.3.2023).

Im Folgenden sollen noch spezifische didaktische Fragen angesprochen werden.

- Zuwanderer, zumal aus islamischen Ländern und spezifischen Kulturen, bringen eigene Erfahrungen mit. Zu beachten ist der "Nahost-Konflikt" (vgl. Gaza-Krieg 2014).

- Man beachte besonders die Frage der politischen Verantwortung für die Verbrechen an den europäischen Juden im Bezug auf die nationale Politik und die Bemühungen der EU einer Aufarbeitung mit den Eckpunkten soziokulturelle Zugehörigkeit, körperliche - personale Integrität und Identität sowie Demütigungsverbot.

- Vermittlung von jüdischer Religion und Kultur in Geschichte und Gegenwart bedürfen eines Lernpakets/ Geschichte-Kulturgeographie-Kunsterziehung-Religion in Unterricht und Lehre.

1 Einleitung    

Gesucht und vermisst wird ein Lösungsweg der Antisemitismusprävention von jahrtausendealten Ressentiments (Vorurteile und ein Gefühl der Unterlegenheit).

Weder Wissen noch Bildung schützen vor Ressentiments.

Ein Lösungsansatz weist auf die Bedeutung von (Selbst-)Reflexion. Auch geplante Lernumgebungen und interdisziplinäre Materialien garantieren nicht einen Schutz vor antisemitischen Ressentiments, jedenfalls ist der Kontext von Wissen und (Selbst-)Reflexion für eine Prävention unverzichtbar (vgl. MÜLLER 2021, 243).

Zu diskutieren sind im Folgenden Voraussetzungen und Herausforderungen für Bildungserfahrungen, Rahmenbedingungen institutioneller Bildung, fremdbestimmte Bedingungen mit der Möglichkeit eigenständiger Bildungserfahrung.

Theorie    

2 Theoretische Beschreibung    

Für eine sozialwissenschaftlich ausgerichtete Fachdidaktik in der Politischen Bildung stellen sich besondere Herausforderungen in der Antisemitismusprävention, weil theoretische Beschreibungen die Möglichkeiten einer Erkennung, Ausblendung oder Kritik von Ressentiments aufzeigen sollen (vgl. NIRENBERG 2015, 468).

2.1 Lehramtsausbildung    

Eine zentrale Frage in der Lehramtsausbildung ergibt sich, warum sollen Lehrende mit Prävention sich beschäftigen, wenn theoretische Beschreibungen ergeben, dass manifest antisemitische Einstellung kaum oder gar nicht aufklärungsfähig sei (vgl. MÜLLER 2021, 228). Die Frage geht auf eine Analyse zurück, dass Ressentiments gegen Aufklärung resistent sein können. Nach Wolfgang BENZ (2008, 10) gründet sich die Ablehnung nicht auf Fakten, vielmehr auf Traditionen und Emotionen, die als Fakten verstanden werden.

Judenfeindschaft entzieht sich in allen Ausprägungen jeder rationalen Diskussion. Antisemitismus wird als kollektive Erfahrung begriffen und behandelt. Diese Resistenz bedeutet keine Resignation, vielmehr Prävention und Prophylaxe. Hier gilt es in der Lehrerbildung anzusetzen.

Zwei theoretische Beschreibungen, die in bestimmten Hinsichten gegensätzlich zueinander stehen, bilden die Grundlage der Gleichzeitigkeit von Aufklärbarkeit und Nicht-Aufklärbarkeit. Damit kann man einer Überschätzung und Unterschätzung von Bildungsangeboten begegnen.

2.2 Theoretische Beschreibungen    

  • Antisemitismus basiert auf der Unterscheidung von Eigen- und Fremdgruppe und betrifft damit Interkulturelle Kompetenz und Medienkompetenz (vgl. die Differenzkonstruktion "Wir und Sie", "Gut und Böse"; DICHATSCHEK 2018, 2019).
    • Die Markierung wird als Abwertung vorgenommen. Sprachlich enthalten Gruppenkonstruktionen eine wertende Zuschreibung.
    • Antisemitismus in seiner modernen Form hat nichts mit dem tatsächlichen Verhalten des Judentums zu tun (vgl. RADVAN 2017, 45-46). Für die Politische Bildung bedeutet dies Zuschreibungen, vor allem Projektionen, die identitätsstiftend und diskriminierend wirken.
    • Prävention wird wirken können, je eigenständiger Lernende die Funktionen von Ressentiments erkennen und benennen können. Die Meta-Ebene wird unterstützend für eine Verständigung wirken. Wer abwertend redet, wertet sich selbst auf und ordnet sich einer vermeintlich überlegenen Gruppe zu (vgl. RADVAN 2017, 46). Ausstiegsmöglichkeiten aus den Differenzmöglichkeiten können die Beobachtung von tatsächlichem Verhalten bzw. Begegnungen bilden.
  • Ein von Negativgefühlen bestimmtes Weltdeutungssystem bildet ein kulturhistorisches Phänomen, dass sich gegen ein Judentum richtet ( vgl. SCHWARZ-FRIESEL 2019, 388).
    • Diese strukturelle Besonderheit lässt sich nicht allein als Vorurteil beschreiben. In einem geschlossenen Weltdeutungssystem werden zur eigenen Deutung bestimmte Wissemsformen wie nationale oder Verschwörungstheorien verankert.
    • Ein solches Weltbild kann bis zur Verfolgungs- und Vernichtungsabsicht führen. Zentrum sind sozio-emotionale und affektive Besetzungen von Ressentiments.
Fallstricke bilden die Überschätzung von Bildungsangeboten in der Politischen Bildung, deren Unterschätzung mit den Möglichkeiten (vgl. GRIMM-MÜLLER 2021).

Es bedarf eines Wissens über unmittelbare Erfahrungen und ein reflexives Wissen über gesellschaftlich folgenreiche Ressentiments.

3 Prävention in Bildungsbereichen    

Im Folgenden wird eine Präventionsarbeit im Sekundarbildungsbereich und quartären Bildungsbereich behandelt.

3.1 Prävention in schulischer Politischer Bildung    

Angesichts der wiederkehrenden antisemitischen Stereotypen bekommt die Prävention und Intervention in der Schule eine zunehmende Bedeutung im Fachbereich Politische Bildung (vgl. bereits MESSERSCHMIDT 2014, 38-44).

In Österreich zeigt sich dies mit den bildungspolitischen Bemühungen 2017 (vgl. den Kontext mit der UNESCO/ OSZE 2018, 51-53; für die Migrationsgesellschaft MENDEL-MESSERSCHMIDT 2017).

Drei Herausforderungen sollen an dieser Stelle angesprochen werden (vgl. MÜLLER 2021, 233).

  • Prävention in der Schule findet unter den Bedingungen von Schulpflicht und Leistungsbeurteilung statt.
  • In den fachwissenschaftlichen Analysen werden die Erscheinungsformen des Antisemitismus sichtbar.
  • Die Bedeutung der Bildungserfahrung zeigt sich in Effekten von Lernaufgaben,
    • wobei in der Schule institutionelle Bedingungen vorherrschen und
    • fachdidaktisch wird Fremd- zur Selbstbestimmung gefordert.
In Politischer Bildung im Bindestrichfach (in Österreich) "Geschichte-Sozialkunde-Politische Bildung" ist das Ergebnis im Vorfeld gesetzt und normativ festgelegt ( vgl. den Bildungsanspruch mit dem geringen Pluralitätsspielraum, moralischer Erziehung mit Bewertungszwang als Gefahr von Gesinnungskontrolle werden kann) und Multiperspektivität kann für alle Beteiligten in ihren Annahmen und Folgen problembehaftet sein (vgl. LIEPACH-GEIGER 2014, 125-126).

3.2 Erscheinungsformen des Antisemitismus    

Eine weitere Herausforderung in der Prävention in Politischer Bildung ergibt sich in den verschiedenen Erscheinungsformen des Antisemitismus.

Es zeigt sich, dass jede Definition einen besonderen Bereich und andere Aspekte betrifft (vgl. MÜLLER 2021, 236-237).

Die jeweilige Beschreibung betrifft spezifische Erscheinungsformen und entsprechende Handlungsnotwendigkeiten (vgl. GRIMM-MÜLLER 2021, 7-20).

  • Religiöser, sozialer, politischer, nationalistischer und rassistischer Antisemitismus sowie
  • neue Formen Post-Holocaust und antizionistischer bzw. israelbezogener Antisemitismus (vgl. KRAUS 2004, 102-103),
  • religiöser Antijudaismus, Rassenantisemitismus und Antizionismus (vgl. BENZ 2008, 20) und
  • Antijudaismus, rassistischer, nationalsozialistischer, islamischer und israelbezogener Antisemitismus (vgl. KRAUS 2004, 103; BERNSTEIN 2018, 23-41; BRUMLIK 2020, 71-87).
Annahmen und Effekte der Beschreibung führen zur spezifischen Kennzeichnung, auch aber zur Fokussierung und Ausblendung anderer Erscheinungsformen wie etwa beim islamischen Antisemitismus und damit sogar zur Relativierung und Verharmlosung.

Eine Auseinandersetzung mit bestimmten Erscheinungsformen muss nicht mit dem Wissen um andere einhergehen (vgl. MÜLLER 2021, 236).

Antisemitismus und historische Kenntnisse über den Holocaust müssen sich nicht gegenseitig ausschließen.

3.3 Prävention in erwachsenenpädagogischer Politischer Bildung    

In Österreich bestimmt das "Kooperative System" mit der Trennung von Allgemeiner und Beruflicher Erwachsenenbildung den quartären Bildungsbereich.

Beispielhaft ist die Zusammenarbeit in der Grundausbildung der Weiterbildungsakademie Österreich/ wba mit der Erfassung von vorhandenen Kompetenzen und Weiterqualifikation im Bildungsmanagement, der Lehre, Bildungsberatung und Bibliotheksarbeit.

Eine akademische Qualifikation ist mit dem "Universitätslehrgang Erwachsenenbildung" und Masterabschluss war möglich (Stand 2023).

Eine grundsätzliche Diskussion über Politische Bildung in der Allgemeinen Erwachsenenbildung fehlt an sich und beginnt langsam 2023.

In der Diskussion um eine Reflexivität in der Politischen Bildung bieten sich in Übereinstimmung mit der Erwachsenenpädagogik als fachdidaktische Prinzipien an

  • Adressatenorientierung,
  • exemplarisches Lernen,
  • Problemorientierung,
  • Kontroversität,
  • Handlungsorientierung und
  • Wissenschaftsorientierung.
3.3.1 Adressatenorientierung    

Man bezieht sich darauf, Lehr-und Lernangebote mit Vorstellungen der Lerngruppe zu verknüpfen. Es gelingt besonders, wenn die Lebenswelt und das Vorwissen mit den Interessen der Teilnehmenden entwickelt werden können, in der Beachtung ihrer Subjektivität, als didaktischer Maßstab (vgl. MÜLLER 2021, 183).

In einer eigenbestimmten Entscheidung wird die Adressatenorientierung in einer zunächst fremdbestimmten Lernumgebung vorgenommen bzw. abgelehnt. Dies ist ein Kennzeichen von Eigenständigkeit bzw. Autonomie.

Die Herausforderung besteht die Lernaufgaben an die bestehenden Erkenntnisinteressen anzuknüpfen und die Denk-, Handlungs- und Urteilmöglichkeiten weiterzuentwickeln.

Die Vorwissensabfrage bedarf einer Sensibilität in den Bereichen Vorlieben, Abneigungen und Erfahrungen.

Kompetenzzuwächse, Autonomieförderlichkeit und die Erweiterung des Denk-, Handlungs- und Urteilsvermögen bilden die Lernziele.

3.3.2 Exemplarisches Lernen    

Beispielhaft werden Lernthemen ausgewählt, die auf Situationen und eine Lösung übertragen werden können. Bei begrenzter Unterrichts- und Lernzeit sowie einer Vielfalt und Verschiedenartigkeit von Lerninhalten und Ansätzen kann exemplarisches Lernen eine weiterführende Perspektive ermöglichen (vgl. MÜLLER 2021, 184-185).

Ein Risiko besteht in der Gefahr von falschen Analogiebildungen. Es bedarf einer sorgfältigen fachwissenschaftlichen und didaktischen Reduktion (vgl. SANDER 2013, 194).

Die Problematik steigt bei ausgewählten Beispielen, wenn nicht ausreichend affektiv an die eigene Subjektivität und Interessen das Lernen gebunden ist.

Einerseits werden Lernthemen ausgewählt (Fremdbestimmtheit), andererseits sollen diese autonomieförderliche Erfahrungen (Eigenbestimmung) unterstützen.

Die Effizienz des Lehr- und Lernerfolges bedarf einer professionellen Organisation der Lern- und Lehrumgebung mit einem ausgewogenen Verhältnis von Eigen- und Fremdbestimmung in einer möglichen Erweiterung der didaktischen Möglichkeiten.

3.3.3 Problemorientierung    

Ziel ist eine Erweiterung der Problemlösungskompetenz. Politische Bildung hat nicht die Aufgabe, eindeutige Lösungen zu entwickeln, vielmehr Lernende in die Lage zu versetzen, Problembereiche in unterschiedlicher Perspektive wahrzunehmen.

Mögliche Lösungsansätze durchspielen und zu begründen sollten helfen, ein eigenes Urteil sich zu bilden (vgl. SANDER 2013, 195).

Erweiterte Problemlösungen erkennt man, wenn nicht mehr eigene, vielmehr andere oder gegensätzliche Möglichkeiten anerkannt, ausgehalten und sichtbar werden.

3.3.4 Kontroversität    

Das Prinzip ist nicht nur anzuregen, vielmehr auch verschiedene Sichtweisen auszuhalten. Diese sind zu diskutieren, um eine Auswahl treffen zu können.

Die eigene Entscheidung soll begründet werden können. Urteilsfähigkeit ist ein unverzichtbares Prinzip der Politischen Bildung.

Es geht um eine Vielzahl von Meinungen in der Öffentlichkeit und grundlegende Kontroversen und politische Alternativen herauszuarbeiten (vgl. SANDER 2013, 197). In Theorie und Praxis sind andere Meinungen und Aspekte mit erheblichen Anforderungen und entgegengesetzten Einschätzungen verbunden.

Die Abwehr von Rechthaberei und der Angriff auf die eigene Subjektivität bedürfen einer Sensibilität. Benötigt werden Rahmenbedingungen, unterschiedliche Positionen auszuhalten (vgl. Demokratiepraxis im Bildungsbereich mit gemeinsamen Gruppeninteressen und Orientierung am ausgehandelten Konsens).

3.3.5 Handlungsorientierung    

Politische Bildung regt zum Handeln an, sei es im Gegensatz und in der Erweiterung von Denk-, Handlungs- und Urteilsmöglichkeiten. Die Didaktik versetzt mit Aufgabenstellungen Lernende eigene Aktivitäten zu bewältigen (vgl. SANDER 2013, 199).

Bildungserfahrungen können einen Zwang zur Autonomie ergeben. Projektarbeit kann bzw. soll Ergebnisse zu weiteren Aktivitäten anregen. Der Doppelcharakter von Subjektivität zwischen dem organisatorischen und autonomiefördernden Bezugsrahmen wird sichtbar (vgl. MÜLLER 2021, 189).

3.3.6 Wissenschaftsorientierung    

Außerschulische Politische Bildung vermitteln Lernenden Kompetenzen, politische Freiheit leben zu können. Das angebotene Wissen soll aus wissenschaftlicher Sicht angemessen sein (vgl. SANDER 2013, 199-200).

Dies bedeutet eine Qualifizierung der Zielgruppe nach schulischer Grundausbildung im tertiären und quartären Bildungsbereich. Damit wird Politische Bildung ein anspruchsvoller Fachbereich mit Didaktikkonzepten, unterschiedlich im tertiären Bereich mit Spezialbildung und im quartären Bereich mit Allgemeinbildung.

Daraus ergeben sich für Lernende und Lehrende unterschiedliche Qualifizierungsformen (vgl. DICHATSCHEK 2017a, b, 2018, 2019, 2020) .

4 Zusammenfassung    

Die Notwendigkeit und der Bedarf einer Antisemitismusprävention im Bildungsbereich ist unbestritten ( vgl. MÜLLER 2021, 257-258).

Die pädagogischen Herausforderungen ergeben sich aus den vorgegebenen und autonomieorientierten Modellen mit den Annahmen von Subjektivität, Wissen, Bildung und (Selbst) Reflexion.

Es gibt Rahmenbedingungen, die eine eigenständige Auseinandersetzung unterstützen mit der Bildungserfahrung aus den Aspekten einer Autonomie der Lernenden und gesellschaftlichen Annahmen.

Wissen und (Selbst) Reflexion garantieren keine Antisemitismusprävention.

Von Interesse sind Folgerungen mit der Reproduktion von Konsequenzen.

Darauf muss mit Bildungserfahrung reagiert werden (vgl. die Vorschläge und Konsequenzen bei BRUMLIK 2020 88-100: stichwortartig globales Lernen mit weltgesellschaftlicher Erinnerung, Rassismus, Nahost-Konflikt, Demütigungsverbot, Interkulturalität, Rechtspopulismus).

Folgenreich sind didaktische Überlegungen und Konzepte, weil Bildungserfahrungen an die Eigenständigkeit Lernender und Lehrender gekoppelt sind.

Wissensbestände und Motive können so erkannt, benannt und problematisiert werden.

Zuletzt sind für den Autor die komplexen Dimensionen in Theorie und Praxis eine Herausforderung für die Schulpädagogik und Lehramtsausbildung (vgl. DICHATSCHEK 2020) sowie Allgemeinen Erwachsenenbildung (vgl. DICHATSCHEK 2018).

Aspekte eines Antisemitismus in Europa und Österreich    

5 Einführung    

Der Umgang mit Antisemitismus und der Periode nationalsozialistischer Herrschaft ist durch Verdrängung und selektive Wahrnehmung gekennzeichnet.

Ausgehend von der heutigen europäischen Situation wird die NS-Zeit in Österreich und die Rolle der Evangelischen Kirche in Österreich (EKiÖ) beleuchtet.

Der Beitrag versucht durch Analysen und zwei Unterrichtskonzepte Aspekte einer Politischen Bildung erkennbar zu machen.

In Verbindung mit einem Fächerbündel aus

  • Geschichte-Sozialkunde-Politische Bildung (GSP),
  • (Kultur-) Geographie und Wirtschaftskunde (GW), Deutscher Literatur (D),
  • Religion/evR (Kirchengeschichte) und
  • als Bezugswissenschaft Schulpädagogik soll Politische Bildung Verständnis für die Hintergründe dieser Entwicklung wecken und pädagogische Maßnahmen setzen, die eine "Erziehung nach Auschwitz" verbessert.
IT-Hinweis

https://oe1.orf.at/programm/20230307/712107/Israel-Antisemitismus-und-Erinnerungskultur (7.3.2023)

6 Antisemitismus in Europa    

6.1 Studien zum Antisemitismus 2003    

Die "Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" (EUMC) hat eine Studie über Antisemitismus in Europa verfasst, deren Ergebnisse so beunruhigend sind, dass sich die Institution zunächst entschloss, die Studie noch nicht zu veröffentlichen.

Seit dem 4. Dezember 2003 ist der Inhalt der Untersuchung im Internet verfügbar. Neben dem dänischen Sender TV2, der Kopenhagener Zeitung "Politiken", dem Grün-Europa-Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit ist die Studie nunmehr auch von der EUMC in das Internet gestellt worden (vgl. http://www.eumc.eu.int/eumc/FT.htm > mit Stand 2013 nicht mehr verfügbar).

Auffallend ist demnach, dass heute in vielen Fällen bei antisemitische Ausschreitungen die Täter um Anonymität bemüht sind. Auf Grund der Erfolge in der Strafverfolgung weiß man von der Verbreitung der Täter in der rechtsradikalen Szene bzw. bei radikalen Islamisten.

Auffallend sind antisemitische Äußerungen - vor allem in Frankreich und Belgien - von Einwanderern aus Nordafrika. Anfällig sind offensichtlich Politiker, die diese Grundstimmung in Wählerzustimmung umsetzen wollen, wie jüngste Beispiele 2003 in Deutschland zeigten.

Ausdruck dieser Bewegung sind Schändungen von Friedhöfen und Gräbern, Hakenkreuzschmierereien, Briefe und e-Mails mit Bedrohungen und Beleidigungen sowie die Leugnung des Holocaust.

Physische Attacken gegen Juden ereignen sich heute häufig im Umfeld von pro-palästinensischen Demonstrationen moslemischer Europäer.

Es gibt auch Fälle, in denen unpolitische und nicht-antisemitische Jugendliche judenfeindliche Parolen aus Spaß rufen, ohne den Inhalt dieser Parolen und ihren historischen Hintergrund zu verstehen (vgl. Salzburger Nachrichten v. 4. Dezember 2003, "Europas Antisemitismus", 10).

Die Anzahl judenfeindlicher Angriffe hat in Europa seit dem Ausbruch der zweiten Intifada im September 2000 zugenommen. Allein in Deutschland wurden im Halbjahr 2003 1 400 Vorfälle registriert.

Nach einer US-Studie der "Anti Defamation League/ADL" halten noch 30 Prozent der Europäer an klassischen antisemitischen Stereotypen fest. So glaubten etwa 30 Prozent der 2 500 Befragten, dass Juden zu viel Macht in der Geschäftswelt hätten. 19 Prozent denken, dass Juden sich nur um Juden kümmern. 16 Prozent stimmen dem Vorurteil zu, dass Juden eher als andere dunkle Praktiken anwenden, um zu ihrem Ziel zu kommen. 45 Prozent glauben immerhin, dass Juden mehr Loyalität zu Israel empfinden als zu dem Land, das ihre Heimat ist. So werden die Juden der Diaspora als geschlossene Clique gesehen und zu Vertretern Israels umfunktioniert, womit sie die Verantwortung für die Politik Israels tragen.

Eine bislang unveröffentlichte Studie des "Zentrums für Antisemitismusforschung" der Technischen Universität Berlin (ZfA), die im Auftrag des EUMC ausgeführt wurde, stellt ebenso fest, dass in Europa eine steigende Tendenz zum Antisemitismus und militanten Anti-Israelismus besteht (vgl. http://www.eumc.eu.int/eumc./FT.htm - mit Stand 2023 nicht mehr abrufbar).

Die ZfA-Studie versucht, vier Kriterien aufzustellen, die legitime Israel-Kritik von verhülltem Antisemitismus unterscheiden:

  • Vergleiche zwischen Israel und dem Dritten Reich,
  • Verallgemeinerungen über "die Juden",
  • die Verwendung von Stereotypen und
  • die Erwartungen an Israel, die nicht an andere Staaten gestellt werden.
6.2 Profil von Antisemiten    

Das Profil der Antisemiten ist so verschiedenartig wie ihre Vorurteile.

  • Einerseits spielt das Weltjudentum mit Globalisierung und Kapitalismus eine Rolle, andererseits beschuldigt man das Judentum als Urheber des Kommunismus und Bolschewismus.
  • BERGMANN weist in der ZfA-Studie nach, dass die Zahl der Überfälle durch militante Islamisten anwachse. In jenen EU-Ländern, die eine starke Minderheit an Moslems durch Einwanderung aus Nordafrika haben, mache sich dies deutlich bemerkbar: Frankreich und Belgien.
  • Während die übrige antisemitische Szene sich eher mit verbalen und symbolischen Taten begnüge - wie Grabschändungen und Schmierereien - greifen junge Moslems immer öfter zu Gewalt. Zertrümmerte Fensterscheiben und Brandstiftungen sind als Folgen zu beobachten.
6.3 Dokumentation    

TELETEXT ORF1/2: 4.1.2004, P123 Fördert EU-Kommission Antisemitismus?

Die Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses (WJC), Bronfman, und des Europäischen Jüdischen Kongresses(EJC), Benatoff, werfen der EU-Kommission vor, Antisemitismus zu fördern.

Zur Begründung verweisen die beiden Autoren auf die Veröffentlichung einer Umfrage durch die EU-Kommission, in der 59 Prozent der Befragten Israel als größte Gefahr für den Weltfrieden genannt hatten, und auf einen Rückzug einer EU-Studie zur Beteiligung von Moslems an antisemitischen Vorfällen.

www.orf.at - NEWS ORF.at, 6. 1. 2004 EU-Kommission weist Antisemitismus-Vorwurf zurück

Die EU-Kommission hat die Antisemitismus-Vorwürfe jüdischer Verbände zurückgewiesen und Konsequenzen angedroht. "Wir sind schockiert über die Vorwürfe", sagte der Sprecher von Kommissionspräsident Romano Prodi, Reijo Kempinnen der "Financial Times Deutschland". Der Vorwurf des Antisemitismus sei "völlig ungerechtfertigt". Aus Unmut erwäge die Kommission, ein für Februar geplantes Antisemitismus-Seminar abzusagen. "Wir müssen prüfen, wir wir auf die Vorwürfe reagieren", sagte Kempinnen. "Es ist noch nicht sicher, dass die Konferenz stattfinden wird."

Die Präsidenten des World Jewish Congress (WJC), Edgar Bronfman und Cobi Benatoff, hatten der EU in einem Beitrag für die "Financial Times" und die "Financial Times Deutschland" vorgeworfen, durch Untätigkeit sowie "durch direkte Schritte gegen Juden" den Antisemitismus in Europa gefördert zu haben. "Die Kritik ist nicht nachvollziehbar", sagte Kempinnen. Die Kommission habe niemals die Veröffentlichung einer europäischen Antisemitismus-Studie verboten. Sie versuche auch nicht, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Es sei fraglich, "ob Antisemitismus in Europa wachse", so Kempinnen.

"Financial Times Deutschland": http://www.ftd.de/pw/eu/107323075667.html?nv=Inen

www.orf.at - NEWS ORF.at, 8.1.2004 > EU und Jüdischer Weltkongress legen Streit bei

Die EU-Kommission und der Jüdische Weltkongress(WJC) haben den Streit um Antisemitismus-Vorwürfe gegen die Brüsseler Behörde beigelegt. Kommissionspräsident Romano Prodi sagte nach einem Treffen mit WJC-Generalsekretär Israel Singer heute in Brüssel, die Kommission nehme die Vorbereitungen für ein einstweilig abgesagtes Seminar mit jüdischen Organisationen zur Bekämpfung des Antisemitismus wieder auf.

In den nächsten zwei Wochen soll Prodi mit den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses (WJC) und des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC), Edgar Bronfman und Cobi Benatoff, zusammentreffen, sagte Kommissionssprecher Reijo Kempinnen. Bronfman und Benatoff hatten der EU-Kommission in einem Beitrag für die "Financial Times" Antisemitismus vorgeworfen.

Nach den Vorwürfen hatte die EU-Kommission die Vorbereitungen für das Seminar auf Eis gelegt.

taz Nr. 7272 vom 31. Jänner 2004, 4 "Antisemitische Gewalt in Europa"

Ob der Antisemitismus in den Ländern Europas steigt oder sinkt - diese scheinbar leichte Frage hat erstmals eine EU-Institution, die EUMC in Wien, untersucht. Sie kam zu Ergebnissen, die offenbar so brisant waren, dass die Expertise zunächst in der Schublade verschwand. Erst nach vehementen Protesten , unter anderem von jüdischen Organisationen, wurde sie öffentlich. "Der Report und unsere eigenen Untersuchungen", so fasst die Studie zusammen, "zeigen, dass viele EU-Mitgliedsstaaten im Frühling 2002 eine Welle antisemitischer Vorfälle erfahren haben."

Für die auf der Berliner Antisemitismus-Konferenz vorgestellten Staaten gab es folgende Ergebnisse: In Frankreich sei zwischen September 2000 und Ende Januar 2002 ein Drittel aller weltweit registrierten antisemitischen Attacken registriert worden. In Großbritannien wurden für das Jahr 2002 insgesamt 70 Überfälle gezählt, von denen einige damit endeten, dass attackierte Personen mit schweren Verletzungen im Krankenhaus behandelt wurden. Es wurden "20 Vorfälle extremer Gewalt" erfasst - Gewalt, die lebensgefährlich hätte werden können, so der Report. Für Deutschland kommt die Studie auf 4 gewalttätige Angriffe im Frühjahr 2002. Davon waren 3 Anschläge auf Gebäude. Ein Fall betraf am 14. April 2002 in Berlin zwei Jüdinnen, die Kettchen mit Davidstern um den Hals trugen.

https://orf.at/stories/3101542/ > Konferenz Antisemitismus und Antizionismus/Wien - Österreichischer Vorsitz im Rat der EU (21.11.2018)

7 Nationalsozialismus in Österreich    

Im Folgenden soll der historische Hintergrund des Nationalsozialismus in Österreich näher beleuchtet werden.

Dazu wird ausführlich die Judenverfolgung während des Nationalsozialismus in Österreich - mit Schwerpunkt in Wien - und die Rolle der Evangelischen Kirche während der NS-Zeit näher beschrieben.

Österreichchronik

25. Juli 1934NS-Putschversuch: Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß wird ermordet, sein Nachfolger wird Dr. Kurt Schuschnigg
11. Juli 1936Das Abkommen zwischen Österreich und dem Deutschen Reich legt die Rolle Österreichs als "deutscher Staat" fest.
11. März 1938Die Regierung Schuschnigg tritt zurück, weil die für den 13. März in Aussicht genommene Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs abgesagt wurde. Bundespräsident Wilhelm Miklas ernennt - unter Androhung von Gewalt - den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Bundeskanzler.
12. März 1938Deutsche Truppen überschreiten die Grenze nach Österreich.
13. März 1938Adolf Hitler verfügt in Linz die "Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich".
1. April 1938Erster Transport von politischen Gegnern und Repräsentanten des österreichischen Judentums in das KZ Dachau.
27. April 1945Vertreter der drei demokratischen Parteien SPÖ, ÖVP und KPÖ proklamieren die "Wiederherstellung der Republik Österreich" und die Unabhängigkeitserklärung.
8. Mai 1945Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa

Insgesamt wurden 65.459 österreichische Juden während der NS-Herrschaft umgebracht (vgl. MOSER 1988, 197).


7.1 Juden in Österreich unter NS-Herrschaft    

"Der 'Anschluss' überraschte alle, am meisten jedoch die Juden Österreichs, die trotz vieler und schwerer antisemitischer Anfeindungen bis zuletzt immer an Österreich glaubten, für Österreich eintraten, mit Österreich ihr persönliches Schicksal verbunden hatten. Der Antisemitismus war für die Juden Österreichs ein eigenartiges, ein österreichisches Phänomen, mit dem man lebte, gegen das man ankämpfte und das, wenn man hier leben wollte, hinzunehmen hatte. Seit jeher bestand in Wien und in Österreich eine gewisse Aversion gegen Juden. Seit Generationen gab es Antisemitismus, dessen Wurzeln in religiöser Diffamierung, wirtschaftlicher Intoleranz und Konkurrenzneid, in eingebildeter rassischer Überheblichkeit zu suchen sind" (TALOS-HANISCH-NEUGEBAUER 1988, 185).

Aus den damaligen politischen Lagern der Christlichsozialen, Katholisch-Konservativen und Deutschnationalen entstand 1919 der "Antisemitenbund", der die Juden auf allen Gebieten als Ziel bekämpfen und aus allen Positionen und Stellungen verdrängen wollte. Als Hort vieler rechtsextremer Vereine ging er letztlich 1938 ganz in das Lager der NSDAP über(vgl. Dokumentationszentrum des Österreichischen Widerstandes/DÖW, Dokument 6895). Die Judenhetze fiel in breiten Bevölkerungskreisen auf fruchtbaren Boden: Antisemitismus wurde in Versammlungen, in der Presse und aus Deutschland importierte Antisemitica betrieben. Von den Nationalsozialisten wurde dieser Judenhass durch Übergriffe, Anschläge und Attentate auf jüdische Personen und Eigentum umgesetzt (vgl. Das Braunbuch, Hakenkreuz gegen Österreich, Wien 1933).

Beispiele für antisemitische Äußerungen waren etwa der Hirtenbrief von Bischof Johannes Gföllner ("Brechung des schädlichen Einflusses des Judentums" als "strenge Gewissenspflicht"; vgl. Linzer Diözesanblatt, Jänner 1933), die Publikation des österreichischen Unterrichtsministers Emmerich Czermak (1932) zur Ordnung in der Judenfrage (vgl. E. CZERMAK-O.KARBACH, Ordnung in der Judenfrage, Wien 1934), der stille Boykott Wiener Handelskreise unter Führung von Vizebürgermeister Josef Kresse gegen jüdische Kaufleute (vgl. Jüdische Front v. 1.12.1936 und 20.12. 1937) und Leopold Kunschaks Aussage: "Entweder löst man 'die Judenfrage' rechtzeitig nach den Eingebungen der Vernunft und Menschlichkeit oder sie wird gelöst werden in der Form des vernunftlosen Tieres, in der es seinen Feind angeht, in Formen wildgewordenen und ungebändigten Instinktes" (Mitteilungen des Freiheitsbundes, Sonderausgabe, März 1936). Dieser jahrzehntelange Judenhass kam nach dem "Anschluss" 1938 und während der "Reichskristallnacht" in erschreckender Form zum Ausdruck, wobei viele antisemitisch gesinnte Österreicher während dieser progromartigen Ausschreitungen gemeinsam mit SA und HJ die Judenhatz mitmachten (vgl. MOSER 1988, 186).

Von der überraschenden Bekanntgabe des einsamen Entschlusses einer Volksabstimmung durch Bundeskanzler Dr. Kurt Schuschnigg am 9. März 1938 wurden auch die Juden überrascht. Der Urnengang am 13. März sollte dann auch ein wahres Bild von einem Volk geben, dass den Nazismus ablehne (MOSER 1988, 187). "Wir bejahen Österreich! Alles an die Urnen!" druckten jüdische Zeitungen am 11. März (vgl. Die Stimme, 11.3.1938, 1).

In der Folge begannen die oft beschriebenen Privatraubzüge österreichischer Nationalsozialisten, Plünderungen von jüdischen Geschäften, illegale Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen. Persönliche Bereicherungen erschreckten selbst den damaligen Gauleiter Joseph Bürckel, der in öffentlichen Aufrufen vor solchen ungesetzlichen Requirierungen warnen ließ (vgl. Wiener Neueste Nachrichten, 15.3.1938, 7 und 18.3.1938, 11). Durch die Straßen Wiens wurden Gruppen von Juden getrieben, ausgestattet mit einem Farbtopf und Pinsel, um jüdische Betriebe und Geschäftslokale mit einem Judenstern oder der Aufschrift "Jude" zu beschmieren.

Heinrich Himmlers Ankunft in Wien am 12. März 1938 löste eine beispiellose Verhaftungswelle unter den Repräsentanten jüdischen Lebens aus, die mit dem ersten Transport am 1. April 1938 nach Dachau verschickt wurden (unter 151 Personen waren 63 Juden; vgl. DÖW, Dokument 1792).

Die späterer Karriere Adolf Eichmanns wurde bei der Durchsuchung der Räume der Israelitischen Kultusgemeinde Wiens am 18. März 1938 eingeleitet, wobei Spendenbelege für die Volksbefragung unter Kurt Schuschnigg gefunden wurden. Dies wurde von ihm auf Grund des herrschenden Chaos in der Kultusgemeinde ausgenützt, um von den Juden nochmals dieselbe Summe abzuverlangen, nun jedoch für die Volksabstimmung am 10. April 1938(vgl. MOSER 1988, 188; Das schwarze Korps, 30.3.1938, 10). Eichmann hatte damit seinen Vorgesetzten demonstriert, wie man das Judenreferat des SD-Hauptamtes mit dem Geld der Juden finanzieren kann.

1938 wurde eine "Lösung der Judenfrage" durch die Gestapo und das SD-Hauptamtes durch Vertreibung und Auswanderung betrieben. Insbesondere sollten Schikanen, Drohungen und Verhaftungsaktionen gegen "unliebsame, insbesondere kriminell vorbestrafte Juden" eine Auswanderungswilligkeit anregen(Verhaftung von 1 898 Juden mit Abtransport nach Dachau; vgl. MOSER 1966,6). Die Auswanderung in den ersten Wochen nach dem "Anschluss" glich eher einer Flucht, zumal Ausreisen in die benachbarte Tschechoslowakei und Ungarn den Grenzübertritt mit österreichischem Reisepass verwehrten. Bis Ende März 1938 konnte man legal die Schweiz einreisen. Ab April führte auch die Schweiz die Visumspflicht ein. Im Laufe des Sommers 1938 kam es zu einer Vereinbarung zwischen den Schweizer Polizeibehörden und dem Chef der Sicherheitspolizei des Sicherheitsdienstes, Heinrich Himmler, wonach eine Kennzeichnung der Reisepässe von Juden mit einem "J" vorgenommen wurde. Dies war eine logische Folgerung der Bestimmungen der Ende Mai 1938 auch in Österreich geltenden "Nürnberger Rassengesetze", die ab Jahresbeginn 1939 für Juden den Zusatznamen "Sara" bzw. "Israel" vorsahen. Bei jeder Vorsprache bei Behörden hatten nun Juden unaufgefordert eine mit "J" versehene Kennkarte vorzuweisen. Damit verschob sich auch der Trend der Auswanderungsströme in die USA, nach China (Shanghai) und Palästina - hier unter Umgehung der Bestimmungen des englischen Weißbuches von 1937(vgl. Reichsgesetzblatt/RGBL I, S. 1579).

Tausende Juden versuchten, die Grenzen westeuropäischer Staaten illegal zu überschreiten (vgl. Kap. 6.2). Erschütternd waren in diesen Tagen Selbstmorde, deren Anstieg auf Ängste möglicher Verhaftung, die Verzweiflung über den Verlust des Arbeitsplatzes, das beschlagnahmte Geschäftslokal und das Berufsverbot zurückzuführen war. Die Zahl der jüdischen Selbstmorde entsprach jedoch keinesfalls der veröffentlichten Meldungen in der westlichen Presse: März 1937: 9, März 1938: 78; November 1937: 7, November 1938: 41 (vgl. MOSER 1988, 189).

Der Anschlag von Herschel Grynspan auf den Dritten Sekretär an der Deutschen Botschaft in Paris war der Vorwand für ein Progrom am 10. November 1938. Durch die auf den Straßen liegenden Glasscherben, in denen sich das Licht der Straßenlampen widerspiegelte, erhielt dieses Progrom die Bezeichnung "Reichskristallnacht". In Wien wurden allein 4 038 Geschäfte geschlossen; im I., VI., VII. und IX. Wiener Gemeindebezirk wurden rund 1 950 jüdische Wohnungen beschlagnahmt. In Innsbruck wurden bei diesem Progrom drei Personen getötet (vgl. FRIEDMANN 1972, Dok. 16).

Endgültig ausgeschaltet wurden Juden aus dem Wirtschaftsleben durch die "Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens" vom 3. Dezember 1938 (vgl. Reichsgesetzblatt/RGBL I. S. 1709). Damit konnten jüdische Unternehmen und Betriebe liquidiert bzw. veräußert werden. Die damit entstehenden Gewinne wurden auf Sperrkonten deponiert. Bankanleihen und Wertpapiere mussten in ein Bankdepot gelegt werden.

Die wirtschaftliche Diskriminierung ging weiter mit Streichungen von steuerlichen Vergünstigungen, Ausschluss von Universitäten und Berufsverboten, in der "Dritten Verordnung zur Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden" vom 21. Februar 1939 mussten Juwelen, Gold, Silber und Platin bei den öffentlichen Anlaufstellen binnen zwei Wochen abgeliefert werden. Eheringe durften jedoch behalten werden (vgl. RGBL I. S. 282).

Durch den Verlust von Mietwohnungen und damit des Mieterschutzes begann eine Konzentration der Juden in bestimmten Stadtteilen und die Trennung von der nichtjüdischen Bevölkerung. Mit der Übertragung, "die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechenden möglichen günstigen Lösung zuzuführen", übertrug Hitler Reinhard Heydrich die "Lösung der Judenfrage" im Dritten Reich, der diese Aufgabe auch konsequent - bis zur physischen Vernichtung - durchführte.

Mit Kriegsbeginn 1939 wurde die "Sühneabgabe" um weitere 25 Prozent erhöht, weil man Mittel für den Ausbau der Rüstungsindustrie benötigte (vgl. RGBL I., S. 2059).

Anfang 1939 wurde in Wien Eichmanns Plan bekannt, in Polen ein jüdisches Reservat einzurichten. Allerdings zwang Hitlers Disposition, die Rückkehr Volks- und Reichsdeutscher aus dem Baltikum sofort einzuleiten, diese Planung zu verwerfen. Die Umsiedlung jüdischer Männer aus Wien nach Polen wurde aus Prestigegründen aufrechterhalten. Als diese Männer in Polen eintrafen, wurden die Transportleitung und einige Baufachleute zurückbehalten, die restlichen wurden von der SS über die sowjetische Demarkationslinie gejagt. Diese Vertriebenen fielen 1941 zum Teil den SS-Einsatzgruppen zum Opfer oder wurden von den Russen nach Sibirien verschickt.

Auf Drängen der Wiener Gemeindeverwaltung kam es im Frühjahr 1941 zu neuerlichen Deportationen von Wiener Juden nach Polen, weil die Stadt Wien deren Wohnungen dringend benötigte. Einen Wohnungsbau - wie in der Ersten Republik - gab es zur NS-Zeit nicht in Wien.

Im harten Winter 1942 wurden die Deportationen unterbrochen, weil man die Eisenbahnwaggons für den Nachschub an die Front benötigte. Die antijüdische Verordnungswelle ging jedoch weiter: Verbot der Straßenbahnbenützung und öffentlicher Büchereien; Ablieferung von Pelzsachen und Wintersportgeräten, Fotoapparaten, Schallplatten, Fahrrädern, Schreib- und Rechenmaschinen. Zudem durften keine vom Staat verliehenen Titel mehr getragen werden, akademische Titel dagegen wurden gestattet (vgl. TALOS-PELINKA-NEUGEBAUER 1988, 196).

Ab Dezember 1941 waren Juden auch der "Polenstrafrechtsverordnung" unterworfen (vgl. RGBL I. S 759). Damit waren bei geringsten Vergehen und Übertretungen Sondergerichte - mit drakonischen Urteilen - zuständig.

Ende 1942 war Wien praktisch "judenfrei".

7.2 Flucht in die Schweiz    

Zwölf Zöllner hatte das NS-Regime ab dem Jahr 1938 in das Jamtal und auf die grenznahen Berge der Silvretta mit der Aufgabe geschickt, eine Flucht in die Schweiz zu verhindern. Galtür war für Dutzende Juden das Tor zur Freiheit. Galtürer Bergführer brachten Juden in das benachbarte Engadin, die Flucht über das Joch war riskant und abenteuerlich.

Franz Lorenz ist Zeitzeuge. Mit dem Einmarsch Hitlers in Österreich 1938 wollten jüdische Frauen nicht länger in Galtür bleiben. Sie hatten ihre Flucht in die USA vorbereitet. Der Fußmarsch führte durch das Jamtal über den Futschölpass (2 768 m)und dann hinab in das Tal nach Ardez im Engadin. Im Laufe des Krieges trafen immer mehr Fluchtwillige in Galtür ein. Eingeweihte Bergführer waren auch Fluchthelfer, mitunter schickt man sogar einen Sohn mit einer Ziegenherde in Richtung Futschölpass, unauffällig ging dann ein Jude mit. Das Risiko ließ man sich mit 1 000 Reichsmark abgelten. Die Summe entsprach dem Wert von drei Kühen.

Die Zöllner verlangten, dass jede geplante Tour mit allen beteiligten Personen in ein Buch eingetragen werden müsse. Führte eine Tour in die Nähe der Grenze, begleitete ein Zöllner die Gruppe, um sicherzustellen, dass niemand in das Engadin flüchtete. Der Hüttenwirt kann sich nicht erinnern, dass eine Flucht misslungen wäre.

Die Jamtalhütte ist heute mit 206 Schlafplätzen eine der größten und wichtigsten Schutzhütten des deutschen Alpenvereins. Während des Zweiten Weltkrieges waren Gebirgsjäger der deutschen Wehrmacht (großdeutsche Zöllner) in der Hütte stationiert. Hüttenwirt Albert Lorenz, der Vater von Franz Lorenz, hielt sie bei guter Laune - auch mit dem Ziel, von der Fluchthilfe für die Juden abzulenken.

Quelle: Tiroler Tageszeitung, 30. Dezember 2003, 13

7.3 Die Rolle der Evangelischen Kirche in Österreich 1938-1945    

In den zwanziger Jahren knüpften bereits evangelische Geistliche nachweisbare Verbindungen zur NSDAP, so vollzieht der Gosauer Pfarrer (und spätere Bischof) Hans Eder seinen Parteieintritt (vgl. MECENSEFFY 1970, 33).

Ähnlich verlaufen die Entwicklungen in Gemeinden des Salzgammerguts, in Linz, in Salzburg und Innsbruck. Die illegale NSDAP propagiert den Kircheneintritt aus politischen Gründen, Teile deutscher staatlicher und kirchlicher Institutionen unterstützen den Prozess einer kirchlichen Unterwanderung. Am NS-Putschversuch 1934 sind zahlreiche evangelische Glaubensgenossen beteiligt (vgl. TALOS-PELINKA-NEUGEBAUER 1988, 519). Nach SCHWARZ stellt die Gegnerschaft zum Ständestaat eine nicht unerhebliche Motivation in diesem vielschichtigen Phänomen einer Übertrittsbewegung dar. Zwischen 1932 und 1937 steigt die Mitgliederzahl von 280 049 auf 331 871(vgl. SCHWARZ 1982, 264-285).

Ganze Sektoren der Evangelischen Kirche in Österreich (EKiÖ) fungieren vor 1938 als Tarnorganisation der Nationalsozialisten. Zwei Drittel aller evangelischen Geistlichen rühmten sich einer illegalen Parteimitgliedschaft. Viele von ihnen und ein hoher Prozentsatz evangelischer Lehrer treten nach dem "Anschluss" aus der Kirche sofort aus und zum Teil direkt in die Dienste der NSDAP ein (vgl. UNTERKÖFLER 1985, 8; 1986, 34).

In der EKiÖ wurde die ausgeprägte Katholizität des Ständestaates als Bedrohung der verfassungsgemäß garantierten Glaubensfreiheit angesehen (vgl. UNTERKÖFLER 1985, 5-9; 1986, 29-34). "1936 veröffentlicht der wegen Hochverrats amtsenthobene österreichische Staatsanwalt und NSDAP-Parteirichter Robert Kauer in Zürich seine Kampfschrift 'Die Gegenreformation in Neu-Österreich', die Österreich als ein Regime der Glaubensverfolgung zeichnet und die Hoffnung auf eine 'Befreiung' durch das deutsche Reich ausdrückt" (TALOS-PELINKA-NEUGEBAUER 1988, 519).

Unmittelbare Folge des Umbruchs 1938 ist dann auch ein politischer Umsturz innerhalb der EKiÖ. Am 12. März fordern die Superintendenten die Kirchenleitung zum Rücktritt auf. Von der Regierung Seyß-Inquart wird ein neuer Oberkirchenrat ernannt, der mit Ausnahme des Wiener Pfarrers Erich Stöckl aus lauter illegalen Parteigenossen besteht. Analoge Auswechselungen folgen in den Gemeinden(vgl. UNTERKÖFLER 1985, 8 und 1986, 34).

In offensichtlicher Übereinstimmung mit seiner Kirche sendet der neue Präsident des Oberkirchenrates Robert Kauer am 13. März 1938 Hitler erste Glückwünsche:".....Gott segne ihren Weg durch dieses deutsche Land, Ihre Heimat!" (vgl. UNTERKÖFLER 1986, 31; LEEB-LIEBMANN-SCHEIBELREITER-TROPPER 2003, 435). Ähnlich wird Hitler in einer wenige Tage später veröffentlichten Erklärung des Oberkirchenrates und in Predigten und Kirchenblättern als Erlöser gefeiert. Die EKiÖ feiert enthusiastisch die Anerkennung des neuen Regimes, die Idee der "Befreiung" und den nun folgenden "religiösen Frühling". Präsident Robert Kauer ordnete die Vereidigung der Pfarrer auf den Führer und das Absingen des Horst-Wessel-Liedes in Festgottesdiensten zur Volksabstimmung am 10. April 1938 an (vgl. SCHWARZ 1994/1995, 235).

Der begrüßte Nationalsozialismus fühlte sich in der Folge zum Verzicht auf ein Bündnis mit der Kirche stark genug und betreibt eine "Politik der Entkonfessionalisierung"(vgl. REHMANN 1986, 70). Mit dem Begriff einer Entkonfessionalisierung wird ein Instrument zum Erhalt der Machtbasis verstanden. Der NS appelliert nicht an die religiöse Loyalität der Bevölkerung, sondern macht sich einen traditionell verwurzelten Antiklerikalismus zunutze, der in verschiedenen Varianten zum Ausdruck kommt. Als Vollstrecker eines Liberalismus beginnt man mit einer Neuordnung des Eherechtes - von der EKiÖ sehr begrüßt - und des Schulwesens (vgl. TALOS-PELINKA-NEUGEBAUER 1988, 217-242).

Von Anfang an wird die Kirchenfrage vom NS auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten gesehen. Die Maßnahmen gegen eine wirtschaftliche Basis der Kirchen in Österreich sind auch als Mittel der weltanschaulichen Auseinandersetzung gedacht, im Falle der EKiÖ angesichts der akuten Finanzkrise kommen sie teilweise zum Tragen (vgl. die Änderung der Einhebung des Kirchenbeitrages durch die Kirchen am 1. Mai 1939 und die Aufhebung evangelischer Vereine und Beschlagnahme des Vermögens in der Höhe von ca. zehn Millionen Reichsmark). "Der radikale Abbau kirchlicher Positionen in der Gesellschaft hat Kritik, jedoch nicht Entzug der Loyalität der Kirchen(zumindest ihrer führenden Kreise) zur Folge" (TALOS-PELINKA-NEUGEBAUER 1988, 529).

Angesichts dessen wird es verständlich, warum christliche Aktivisten im politischen Widerstand der Kirche wenig Widerhall finden konnten, weshalb im evangelischen Bereich die Theologen Zsigmund Varga oder Erwin Kock auch nur Einzelfälle bleiben (vgl. STEIN 1981, 124-132; GRÖSSING 1986, 17-28).

"1945 schweigen die Kirchen auf kritische Fragen nach ihrem Anteil an der Zerschlagung der Selbständigkeit Österreichs, ihrem institutionellem Vorbeisehen an faschistischem Terror und Völkermord, ihrer bis zuletzt aufrechterhaltenen Rechtfertigung des Krieges gegen den bolschewistischen Erzfeind"(TALOS-PELINKA-NEUGEBAUER 1988, 517).

Immerhin spricht Bischof Gerhard May in seinem Hirtenbrief vom 26. November 1945 davon, dass auch die Kirche nicht schuldlos durch die große Versuchung gegangen sei, Menschenworten mehr als Gottes Worten zu glauben (vgl. DANTINE 1985, 10-15).


Dokumentation

Ökumenische Erklärung gegen Antisemitismus

Der Eisenstädter Diözesanbischof Paul Ilby und der evangelische Superintendent Manfred Koch wenden sich in ihrem ersten gemeinsamen Brief gegen jede Form von Antisemitismus und sprechen sich gemäß der "Charta Oecumenica" dafür aus, "den Dialog mit unseren jüdischen Geschwistern zu suchen und zu intensivieren". Den Anlass für das erste ökumenische Pastoralschreiben bietet der "Tag des Judentums", der am 17. Jänner auf Anregung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich begangen wird. Die beiden kirchlichen Würdenträger rufen darin die große Bedeutung und den geistlichen Reichtum der jüdischen Gemeinden des burgenländisch-westungarischen Raumes in Erinnerung, die von den Nationalsozialisten "mit einem Schlag" ausgelöscht wurden.

Quelle: Salzburger Nachrichten, 8. Jänner 2004, 4

8 Erziehung nach Auschwitz    

Die Frage eines Rückfalles in eine Barbarei, wie sie sich zur Zeit des Nationalsozialismus in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern ereignet hat, lastet bis heute traumatisch auf allen Arbeitsansätzen politischer Bildung/Erziehung.

"Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen" (ADORNO 1977, 88).

8.1 Beispiel in deutscher Literaturgeschichte: Max FRISCH "Andorra" (1961)    

Die Auseinandersetzung darüber, ob es sich um ein Stück über den Antisemitismus handle, hält bis heute an. Zunächst scheint alles einfach. Der "andorranische Jude" ist eine Gestalt, mit der sich Max Frisch immer wieder auseinandergesetzt hat. Er wird angefeindet, weil er Jude ist oder für einen solchen gehalten wird. Aus dem gleichen Grund trauen sich die, die sich daran nicht stören, nicht, ihm beizustehen; und schließlich ist seine Hinrichtung die logische Folge.

Das Stück entstand zu einer Zeit, in der die ersten zaghaften Versuche erfolgten, die Vergangenheit aufzuarbeiten. So liegt die Interpretation nahe, es handle sich bei dem Staat Andorra um ein Abbild Hitlerdeutschlands. Die Figuren, die es bevölkern, würden auch in dieses Bild passen. Doch wäre das von Seiten des Schweizers Max Frisch wohl zu billig gewesen. Er selbst prangert in diesem Stück das sogenannte Pharisäertum an. Tatsächlich weist er selbst darauf hin, dass er den Namen Andorra gewählt hat, um ein winzig kleines Land darzustellen, und dass dieses eine Miniaturausgabe der Schweiz darstellen soll. Das wäre an sich kein Widerspruch, denn der Antisemitismus hatte zwar nur in Deutschland so fatale Folgen, gehörte aber auch in der Schweiz zu dieser Zeit durchaus zum Alltag.

Dennoch kann man dieses Stück wohl nicht als Mahnung an die Schweizer oder als einen Versuch auffassen, die Schweizer Vergangenheit zu bewältigen. In der Zeit, als es entstand, wäre dies wohl auf sehr wenig Verständnis gestoßen. In Deutschland konnte man hier eher eine solche Betrachtungsweise erwarten. Die Wirkung blieb hingegen aus, die Schicksale der Juden wurden bekannt und die Wirklichkeit übertraf jede Theaterdichtung. Da half es wenig, dass auf deutschen Bühnen die Handlung von der Schweiz nach Deutschland verlegt wurde.

Gerade von jüdischer Seite her kommen die wenigen negativen Beurteilungen. "So billig geben's weder die Juden noch die Antisemiten. So einfach, so geheimnislos, so flach und physisch greifbar geht's da zu" (vgl. TORBERG, Kritik in Das Forum, in: M. FRISCH, Andorra, Berlin 2001, 147). Es zeigt sich auch hier, dass es nicht leicht ist, dieses Stück real auf den Antisemitismus zu beziehen.

Selbstverständlich hat Max Frisch auf historische Tatsachen zurück gegriffen. Die schwarzen Uniformen sprechen für sich. Dass der Judenbeschauer in Wirklichkeit nicht die Füße kontrolliert, sondern die Verdächtigen darauf hin überprüft, ob sie beschnitten sind, ist auch offensichtlich. Die Einzelschicksale stehen mit der Frage im Vordergrund, ob das Geschehen über sie hinwegrollt, man machtlos ist oder ob das passive Verhalten der Beteiligten von Bedeutung wird. Aus der Geschichte und den Vorstellungen des Autors heraus scheint sich die zweite Antwort als die richtige herauszustellen. In der Zeit, in der die Idee zu dem Stück geboren wurde, schien es klar zu sein, dass die Geschehnisse verhindert hätten werden können, wenn sich die Menschen dagegen gestellt hätten. Inzwischen wird diese Geschichtsauffassung als zu einfach betrachtet.

Die Handelnden selbst können nicht wissen, ob es Sinn macht, sich gegen ein verhasstes System zu stellen. Da die Frage nicht gestellt wird, ist es eine Selbstverständlichkeit, sich neutral zu verhalten, wobei erst nachträglich Zweifel und Schuldgefühle auftreten. Und gerade das ist es, was dieses Stück pädagogisch wesentlich macht.

8.2 Unterrichtskonzepte zum Lebensraum und zur Menschenwürde/ Sekundarstufe I    

8.2.1 Thema "Du und Dein Lebensraum" / Sekundarstufe I - 1. Klasse    

Vorbemerkungen

altersmäßige Zusammensetzung: durchschnittlich 11 Jahre
Vorbildung: 4 Jahre Grundschule

Vorher behandelt: Gemeinschaften wie Familie, Arbeitsgemeinschaften, Vereine, Organisationen und Bedeutung der Gemeinde

nachher geplant: Veröffentlichung der Ergebnisse der Arbeiten in der Lokalpresse und auf der Schul-Homepage

Unterrichtsmittel: Arbeitsblätter, Zeitungsausschnitte/Kopien, Overhead-Folien - Zeitzeugen

Unterrichtszeit: 5 Unterrichtseinheiten zu je 50 Minuten

Kernziele

Zielvorstellungen:

  • Einsicht in die Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen Lebensraum i.e.S und den kulturell-zivilisatorischen, historischen und soziologischen Komponenten
  • intensive Beschäftigung mit den Massenmedien und
  • Förderung der kritischen Auseinandersetzung mit der näheren Umwelt und der Fähigkeit, selbst an der Gestaltung und Formung einer lebenswerten Umwelt mitzuwirken.
Feinziele:

Bedrohungsformen

  • Verbauung/Raumordnung
  • Lärm
  • Massenveranstaltungen
  • Landschaftsverlust
Wandzeitungen
  • Was gefällt mir an meinem Wohnort?
  • Was missfällt mir?
  • Was kann man in meinem Wohnort verbessern?
  • Was meinen Eltern und Bekannte zu den Problemen meines Wohnortes?
Interviews der SchülerInnen mit Straßenpassanten

Diskussionen: Ergänzend dazu werden Diskussionen mit GemeindemandatarenInnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens veranstaltet.

Abschluss: Als Abschluss wird eine Autobusfahrt durch den Wohnort mit einem Verantwortlichen - Bürgermeister, Vizebürgermeister, Stadtrat, Gemeinderat - veranstaltet.

Die Ergebnisse der einzelnen Arbeiten werden in Form von Aufsätzen festgehalten und nach Möglichkeit veröffentlicht: Schülerzeitung, Lokalpresse und Schulhomepage.

Stoffliche Überlegungen

Politische Bildung ist als wesentlicher Teil jenes Bildungsbemühens anzusehen, das die Aufgabe hat, dem Schüler bei seinem Zurechtfinden Hilfestellung zu leisten. Der Rahmenlehrplan der Sekundarstufe I (AHS bzw. Hauptschule) und der geltende Erlass für Politische Bildung sehen es als Aufgabe des Unterrichtes an, den Schülern die Voraussetzung für politisch vernünftiges Handeln zu vermitteln (vgl. Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Erlass "Politische Bildung in den Schulen", Zl. 33.464/6-19a/1978 - Wiederverlautbarung mit GZ 33.466/103-V/4a/94).

Ein wichtiges Ziel, das in den Zielvorstellungen angesprochen wird, ist die Einsicht, dass der Mensch in und mit seiner Umwelt zu leben hat. Darauf ist von der Gesellschaft und Politik Rücksicht zu nehmen. Der Lebensraum ermöglicht erst die Ausübung jener Rechte und Pflichten, die einem mündigen Staatsbürger auferlegt werden. Insofern erscheint dieser erste thematische Schritt wesentliche Voraussetzung für das angestrebte zweite Unterrichtskonzept zu sein.

Auf eine Darlegung von Sachkenntnissen kann nicht verzichtet werden, da sonst die Gefahr bestünde, dass notwendige Einsichten nicht gewonnen würden. Die Eigenart des Lehrstoffes bestimmt das didaktische Konzept. Kennzeichnend für das Thema sind Beispiele und Vorschläge, die die SchülerInnen handlungsbereit machen. Damit haben sie die Möglichkeit, auf die Gestaltung des Unterrichts einzuwirken. Das Thema beruht auf einem solchen Vorschlag.

Methodische Überlegungen

Von der Altersstufe her erscheint es sinnvoll, den Stoff praxisnahe und anschaulich zu gestalten. Schwerpunkt ist die fragentwickelnde Unterrichtsform. Aus Gründen des Sachbezuges erscheint es sinnvoll, am Beispiel einer Großstadt mit den Problemen des Lebensraumes zu beginnen. Damit kann ein guter Unterschied zu den eigenen Problemen - Kleinstadt in Österreich - gefunden werden. Das Thema Wandzeitungen ist bereits Gegenstand in anderen Fächern gewesen (Bildnerische Erziehung, Religion). Ein Plakat des Jugendrotkreuzes verstärkt die Aktualität des Themas.

8.2.2 Thema "Menschenrechte - Menschenwürde"    

Der zitierte Erlaß "Politische Bildung in den Schulen", das Wirken des US-Bürgerrechtskämpfers Martin Luther King und die laufende Debatte um Antisemitismus in Europa mit der österreichischen Situation sind aktueller Bezug für eine Unterrichtsbetrachtung des Themas "Menschenrechte und Menschenwürde".

Bei dieser Thematik ist sorgfältig zu prüfen, welcher Unterricht, welche Reflexionen und welches Handeln vom Auftrag der Schule her geboten und möglich sind. Schule existiert nicht in einem luftleeren Raum. Das Eintreten für Menschenrechte - in weiterem Sinn für Menschenwürde - bedarf für SchülerInnen bestimmter Vorweg-Orientierungen, ehe man sich auch engagieren kann (vgl. dazu die hinführende Thematik zur Gestaltung des Lebensraumes/ "Du und dein Lebensraum").

Das ist allerdings nicht mit Einschränkungen, Vorbehalten oder bestimmten Interpretationen zu verwechseln. Von Interesse ist hier ein Rückblick auf die Arbeit der 1976 tagenden Schulreformkommission mit einer grundsätzlichen Aussage zur Politischer Bildung: "Wenn Politische Bildung zu verantwortungsbewusstem Handeln führen soll, darf sie sich nicht in einer Institutionenkunde erschöpfen, sondern muss tiefere Einsichten in das Wesen unserer Gesellschaft geben, über das Spiel der Kräfte und Interessen im politischen Prozess, über Normen und Wertvorstellungen, über Normen, mit denen man sich identifizieren kann oder von denen man sich distanziert. Politische Erziehung verlangt in der Schule einen demokratisch-partnerschaftlichen Führungs- und Erziehungsstil" (Protokoll der 25. Sitzung der Schulreformkommission vom 16. 11.1976,4).

Die täglichen Erfahrungen mit dem Problemkreis "Menschenrechte - Menschenwürde" zwingen, Widersprüche und Unzulänglichkeiten zu ertragen. Dies ist für den schulischen Raum wenig hilfreich. Wenn es um Grundrechte des Menschen geht, bedarf es mehr Mut zur Erziehung.

Menschenrechte sind kein Thema, mit dem man sich einfach "befasst". Mit diesem Stichwort ist ein Erziehungsauftrag gegeben (vgl. Erlass "Politische Bildung in den Schulen", Punkt II/5).

Die wesentliche Frage, in welcher Art und in welchem Umfang Wertsysteme in der Sekundarstufe I zu behandeln sind, beginnt im Grunde genommen mit der Information über gesellschaftlich relevante Werthaltungen. Es muss als sinnvoll erachtet werden, wenn diese Informationen in altersgemäßer Art und ohne Absicht des Werbens für diese Wertsysteme erklärt werden.

Unterrichtsentwurf für die Sekundarstufe I/ 4. Klasse

Themenblock 1: Vorstellungen über Menschenrechte

Lernziel:

Die SchülerInnen sollen erkennen, dass die Vorstellungen und Wünsche, die mit dem Begriff "Menschenrechte" verbunden werden, eine wesentliche Basis der menschlichen Grundrechte bilden.

Die SchülerInnen sollen wahrnehmen, in welchem Ausmaß die Rechte der Menschen eingeschränkt und unterdrückt werden.

Methodisch-didaktische Hinweise:

Ausgangspunkt für die Behandlung des Themas sind die Vorstellungen, die SchülerInnen mit dem Begriff "Menschenrechte" verbinden. Jede/-r SchülerIn hat die Möglichkeit, Assoziationen auszudrücken. Diese wird man durch künstlerischen Ausdruck - etwa durch Malen und Rollenspiel - darstellen können, man wird sie ebenso aufschreiben mögen. Diese Freiheit gehört inhaltlich zur Thematik, sollte deshalb vom Unterrichtenden entsprechend beachtet werden.

Nach dieser Phase stellt jede/-r SchülerIn seine Einfälle vor. Ein Festhalten auf einer Wandzeitung erscheint als Dokumentation sinnvoll. Rollenspiele können durch Merksätze festgehalten werden. Es bietet sich an, behutsam den Zusammenhang von eigenen Vorstellungen und Wünschen und denen der Menschenrechte zu bedenken.

Arbeitsmittel: Schreibpapier, Bleistifte, Mal- und Filzstifte; Wandzeitungspapier, Scheren, Zeitschriften - Plakate zum Thema(z.B. amnesty international/ai); UN-Menschenrechtserklärung

Zeit: 2 Stunden

Themenblock 2: Klärung des Begriffes und Definitionsversuch

Lernziel:

Die SchülerInnen halten fest, dass Menschenrechtsverletzungen durch Radio, TV, Internet und Zeitungen bekanntgemacht und kritisiert werden, angemessene Handlungen/Reaktionen aber oftmals ausbleiben.

Methodisch-didaktische Hinweise:

Es ist notwendig, die SchülerInnen-Beiträge zu ordnen, um zusammenfassende Kategorien bilden zu können.
Dieser Unterrichtsabschnitt wird mit der Frage nach den Wirkungen der Materialien abgeschlossen.

Informationen über Menschenrechtsverletzungen reichen nicht aus, um Menschen anzuspornen, sich für andere Mitmenschen einzusetzen. Diese Einsicht sollten die SchülerInnen gewinnen.

Nach Abklärung der Ergebnisse wird versucht, eine vorläufige Definition zu fixieren. Für die Zusammenfassung(Schlussbesprechung) kann nach Möglichkeit eine Wandzeitung, ein Plakat oder eine Tonband- bzw. Videoaufnahme zu Hilfe genommen werden.

Arbeitsmittel:

Radio, TV, Zeitungen, Tonband, Video, Wandtafel

Zeit: 1-2 Stunden

Themenblock 3: Beispiele für Menschenrechtsverletzungen

Lernziel:

Erkennen des Grades/der Stärke der Menschenrechtsverletzungen und deren Konsequenzen für den Einzelnen und die Gesellschaft

Methodisch-didaktische Hinweise:

Eine Erzählung bietet für die SchülerInnen die Möglichkeit, an Hand einer verständlichen Geschichte Formen von dramatischen Menschenrechtsverletzungen kennenzulernen.

Im folgenden Unterrichtsgespräch gilt es, deutlich zu machen, dass die einzelnen Formen der Verletzungen nicht vom Willen des Einzelnen abhängig sind, sondern eingebunden sind in die Strukturen des jeweiligen Systems.

Als Themen bieten sich die Judenverfolgung in der NS-Zeit, ggf. das Problem der Wanderarbeiter in Südafrika/Kalifornien und/oder ausländische Arbeitskräfte in Österreich an.

Arbeitsmittel:

Eine Bibliotheks- oder/ und Filmarbeit verstärkt den Themenbereich mit einem reichhaltigen aktuellen Angebot/ Plakat von ai.

Literarische Hinweise (Auswahl):

  • Abram I.-Heyl M., Thema Holocaust. Ein Buch für die Schule, Rowohlt (1996)
  • Holocaust-Literatur/Auschwitz: Arbeitstexte für den Unterricht, Reclam UB 15047 (2000)
  • Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Reclam UB 9363 (1995)
  • Wiesel E., Die Nacht. Erinnerungen und Zeugnis, Herder-Verlag (1996)
  • Levi P., Ist das ein Mensch? dtv (1992)
  • Antelme R., Das Menschengeschlecht, Fischer TB 14875( 2001)
  • Menasse R., Die Vertreibung aus der Hölle, Suhrkamp (2001)
  • Borowski T., Bei uns in Auschwitz. Erzählungen, Piper (1999)
  • Fénelon F., Das Mädchenorchester in Auschwitz, dtv (1995)
  • Elias R., Die Hoffnung erhielt mich am Leben. Mein Weg von Theresienstadt und Auschwitz nach Israel, Piper (1998)
  • Geschichte lernen, Heft 69/1999: Themenheft: Holocaust
Filme(Auswahl):

  • Holocaust/TV-Serie (1978)
  • Schindlers Liste (1993)
  • Das Leben ist schön (2000)
Zeit: 1-2 Stunden

Themenblock 4: Beispiel für Menschenrechtsengagement

Lernziel:

Die SchülerInnen sollen erkennen, dass es realisierbare Möglichkeiten gibt, sich für die Durchsetzung der Menschenrechte einzusetzen.

Als Einstieg kann der Antisemitismus und seine Folgen oder eine Erzählung der Gastarbeiterproblematik gewählt werden. ReferentenInnen über den Kulturservice des zuständigen Landes- bzw. Stadtschulrates bzw. der Israelitischen Kultusgemeinde oder Islamischen Glaubensgemeinschaft stehen zu Verfügung("oral history"). Ein Gedenkstättenbesuch bietet sich ebenso zur Thematik an(vgl. EHMANN-KAISER-LUTZ u.a. Opladen 1995). Zugleich wird erkannt, welche Wissenslücken vorhanden sind.

Neben dem Suchen ähnlicher Probleme in der eigenen Umgebung kann es sinnvoll sein, die Einstellungen der Bevölkerung zu Minderheiten mittels Fragebogen kennenzulernen.

Als Konsequenz aus der Beschäftigung mit der Thematik kann sich ein Mal- und/ oder Aufsatz- und/ oder Fotowettbewerb zum Leben von Minderheiten bei uns ergeben.

SchülerInnen ethnischer und religiöser Minderheiten können in der Klasse von ihren Festen und Bräuchen hier und in ihrer Heimat berichten.

Arbeitsmittel:

Jugendlektüre aus Schülerbücherei, Fragebogen, Zeitungen, Zeitschriften - Besuche in den jeweiligen Glaubensgemeinden

Zeit: 3-4 Stunden

Literaturhinweise Aspekte Antisemitismus    

Angeführt sind jene Titel, die für den Beitrag verwendet und/oder direkt zitiert werden.

Adorno Th. (1977): Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M.

Bauer Y.(2018): Der islamische Antisemitismus. Eine aktuelle Bedrohung, Berlin

Benz W. (1997): Der Holocaust, München

Benz W. (2004): Was ist Antisemitismus? München

Bergmann W. (1997): Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989, Frankfurt/M.-New York

Bergmann W.-Erb R.-Lichtblau A. (Hrsg.) (1995): Schwieriges Erbe. Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M.-New York

Bergmann W. (2002): Geschichte des Antisemitismus, München

Biskamp F. (2019): Über das Verhältnis von Rassismuskritik und Antisemitismuskritik > http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/14636 (25.2.2023)

BR-ALPHA, 30. Dezember 2003, 21.00 - 21.45 h: Simon Wiesenthal (Doku/2000), ALPHA-Österreich 2003 (Zum 95. Geburtstag von Simon Wiesenthal am 31. Dezember 2003)

Brenner M. (2012): Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart, München

Browning Chr. R. (1998): Der Weg zur "Endlösung": Entscheidungen und Täter, Bonn

Bruckmüller E. (1985): Sozialgeschichte Österreichs, Wien-München

Brumlik M. (2020): Antisemitismus, Bundeszentrale für Politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10572, Bonn

Brugger E.-Keil M.-Lichtblau A. (2006): Geschichte der Juden in Österreich, Wien

Dantine J. (1985): Die Evangelische Kirche in Österreich im Jahre 1945, in: Informationsdienst der Salzburger Gruppe, Dezember 1985, 10-15

Deutsch O. (2017): Die Zukunft Europas und das Judentum. Impulse zu einem gesellschaftlichen Diskurs, Wien

Dichatschek G. (1979): Menschenrechte und Menschenwürde im Unterricht der Sekundarstufe I, in: ZEITGESCHICHTE, Heft 4/1979 (Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien), 148-156

Dichatschek G. (2005): Aspekte eines Antisemitismus in Europa unter Berücksichtigung der Situation in Österreich 1938-145, in: Erziehung & Unterricht, 3-4/2005, 368-386

Dusek P.-Pelinka A.-Weinzierl E. (1995): Zeitgeschichte im Aufriss. Österreich seit 1918 - 50 Jahre Zweite Republik, Wien

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Ferdowski M.A.-Matthies V. (Hrsg.) (2003): Den Frieden gewinnen. Zur Konsolidierung von Friedensprozessen in Nachkriegsgesellschaften - Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden, Bonn

Friedmann T. (1972): Die Kristallnacht, Haifa

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Gruberova E.- Zeller H. (2022): Diagnose: Judenhass. Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10780, Bonn

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Stein A. (1981): Zsigmond Varga, in: JbGPÖ 97, 1981, 124-132

Talos E.- Hanisch E.- Neugebauer W. (Hrsg.) (1988): NS-Herrschaft in Österreich 1938-1945 (Sammelband-Projekt), Wien

Unterköfler H. (1985): Evangelische Kirche und Nationalsozialismus in Österreich I und II, in: Informationsdienst der Salzburger Gruppe, Dez. 1985, 5-9/ März 1986, 29-34

Voigt S. (2024): Der Judenhass. Eine Geschichte ohne Ende?, Stuttgart

Wenzel H. (2003): Bergführer halfen, als Juden übers Joch in die Schweiz geflüchtet sind, in: Tiroler Tagezeitung v. 30. Dezember 2003, 13

Internethinweise/ Auswahl    

http://www.aktionstage.politische-bildung.at (5.3.2023)

https://www.integrationsfonds.at/zielgruppen/multiplikatorinnen/antisemitismusseminare/ (5.3.2023)

https://oe1.orf.at/programm/20230307/712107/Israel-Antisemitismus-und-Erinnerungskultur (7.3.2023)

Museum - Gedenkstätten    

http://www.ushmm.org (6.3.2023)

http://www.yad-vashem.org.il (6.3.2023)

Buchbesprechung    

Sebastian Voigt (2024): Der Judenhass. Eine Geschichte ohne Ende? S. Hirzel Verlag Stuttgart ISBN 978-7776-2917-7


Historische Kenntnisse gelten für den Autor in der Auseinandersetzung mit dem Judenhass. Der Forschungs- und Wissenstand beruht auf Erfahrungen und dem Umgang mit einer über Jahrhunderte erstreckenden Bedrohung. Der Judenhass hat eine lange Vorgeschichte. Angefangen in der Antike, in der Zeit der Bibel fortgesetzt und steigert sich in der Neuzeit zu einem nicht nur konfessionell, auch sozial und kulturell begründetem Ressentiment.

Judenhass zielt sich auf die Homogenisierung der Gesellschaft und eine ethnische Begründung des Nationalstaates. Die angebliche Andersartigkeit von Nationen und Menschen mit einem Fremdsein, das seinen Wert infrage stellt, soll begründen. Der Weg von Pogromen im Mittelalter und frühen Neuzeit, von vielen abgelehnte "Judenemanzipation" und späteren Antisemitismus bis zur politischen Gleichberechtigung und sozialen Anerkennung war keineswegs gradlinig.

Antisemitismus wurde Teil des Denkens mit der Suche neuer Argumente, um sich gegen Einwände schützen zu können. Antisemiten sind in der Regel unbelehrbar. Umso wichtiger ist Vorbehalt, Vorstellungen, Regelverletzungen und Übergriffe nicht einfach hinzunehmen. Es bedarf daher Kenntnisse der historische (politischen) Bildung.

Die Geschichte des Judenhasses öffnet den Blick in die Vergangenheit, schärft so die Wahrnehmung der Gegenwart, begründet eine Reflexion eigener Wertvorstellungen und Vorurteile, Empfindungen und Gedanken. Das Buch sensibilisiert für die Zukunft, wenn man selbstkritisch nicht alles fremd sieht (Vorwort S. 7-8).


Die einzige Motivation beabsichtigt, den Gegenstand abzuschaffen, sie ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe. Die Untersuchung und Darstellung der Geschichte des Judenhasses versteht sich als Kampf dagegen, der immer noch immer eine tödliche Bedrohung für Juden bedeutet. Der Judenhass ist eine Gefahr für die moderne, pluralistische Gesellschaft, für die Grundlagen unseres Zusammenlebens.

Antisemitismus betrifft zuerst Juden, ist aber kein jüdisches, vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Problem. Als Ideologie beruht er auf falscher Projektion. Die Zwiespältigkeit und Komplexität der nicht durchschaubaren gesellschaftlichen Verhältnisse werden im antisemitischen Weltbild beseitigt. In ihm gibt es eindeutige Schuldige mit den Juden. Sie werden verantwortlich gemacht für alle Erschütterungen der Moderne wie für den Liberalismus, Kommunismus, Feminismus und Krisen im Kapitalismus. Antisemitismus steht daher für einen Gegenentwurf zu Errungenschaften der Moderne wie Demokratie, Freiheit des Individuums und zur aufgeklärten-kritischen Debatte. Deshalb geht er alle an, besonders die Nichtjuden. Der Herausforderung muss sich die demokratische Öffentlichkeit stellen.

In den letzten Jahren erschienen viele historische und sozialwissenschaftliche Studien über verschiedene Facetten. Handreichungen kamen von Nichtregierungsorganisationen zur pädagogischen Arbeit. Kaum ein anderes Thema hat eine solche Beständigkeit, Verbreitung und Aktualität. Dies zeigt sich im Anschlag auf die Synagoge in Halle/ Saale 2019, Nahostkonflikt mit Parolen gegen Juden mit der Gleichsetzung von allen Juden mit Israel, den islamischen Anschlägen in Brüssel, Paris und in Israel sowie die Vernichtungsdrohung des Iran. Die Ereignisse verweisen auf die unterschiedlichen Formen und verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Richtungen.

Eine Einordnung über eine klare Bestimmung von Antisemitismus ist äußerst schwierig und führt zu heftigen politischen Auseinandersetzungen. Die Kontroversen um den israelbezogenen Antisemitismus belegen, dass es keine Übereinstimmung gibt, wo Judenhass beginnt und überhaupt als antisemitisch zu gelten hat. Das Buch unternimmt keinen weiteren Versuch, den Begriff einzugrenzen und eindeutig zu definieren. Vielmehr wird der Judenhass in seiner historischen Entwicklung dargestellt. Der Schwerpunkt liegt in der tiefen Verankerung in der Mitte der Gesellschaft. Angesprochen ist die interessierte Öffentlichkeit, das Literaturverzeichnis bietet vielfältige Anregungen zu einer Vertiefung.

Antisemitismus ist mit anderen antimodernen gesellschaftlichen Phänomenen eng verwoben, die Beschäftigung damit ist also immer eine Gesellschaftsanalyse und dient gesellschaftliche Verhältnisse zu begreifen.

Das Buch folgt der klassischen historischen Epocheneinteilung über rund zweieinhalb Jahrtausende. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit der Entstehung des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert. Bei aller Entwicklung des Antijudaismus ist auf eine strukturelle Veränderung zu verweisen. Zu treffen ist eine begriffliche Unterscheidung zwischen der vormodernen Judenfeindschaft und dem Antisemitismus. Der Judenhass verändert sich mit der Gesellschaft, in der er auftritt. An ihm lassen sich die Grundlinien der Gesellschaft ablesen.

Das Buch verfolgt schwerpunktartig die Entwicklung im deutschsprachigen Raum. Mitte des 20. Jahrhunderts kommt es mit dem Nationalsozialismus zum Höhepunkt. Das Wissen um die industrielle Verfolgung ließ den Antisemitismus nicht verschwinden.

Er verwandelte sich nach 1945 mit Relativierungen in vielen Ländern und in deren kultur-religiösen Umgebungen. Als Beispiel dient die Argumentation aktuell mit dem Verhalten gegenüber den Palästinensern. Ebenso zeigt es sich in der antisemitischen Kunst vom indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa auf der "Documenta fifteen" in Kassel 2022. Eine globale Erfassung der Erscheinungsformen wäre angebracht, ebenso könnte man eine historische Betrachtung in Politischer Bildung als angebracht ansehen. Diese Kenntnis mit historischem Wissen schärft die Urteilskraft im Kontext kulturell-religiöser Kompetenz (Einleitung S. 9-13).


Inhaltliche Gliederung des Buches

KapitelSeitenzahl
Ursprung des Hasses - Antike und Mittelalter14 - 26
Emanzipation und Rückschläge - frühe Neuzeit bis zur Französischen Revolution27 - 35
Verschwörungen - Entstehung Kapitalismus bis Frühsozialismus36 - 48
Revolution 1848 und Deutsche Frage - Revolutionen bis Reichsgründung 187149 - 57
Wandlungen des Hasses - 1871 bis Jahrhundertwende58 - 74
Internationale Dimensionen - Jahrhundertwende bis 191875 - 87
Weimar - 1918 bis 193388 - 112
Ausgrenzung und Vernichtung - 1933 bis 1945113 - 145
Die beiden Deutschlands - frühe Nachkriegszeit bis Wiedervereinigung 1990146 - 186
Kontroversen - 1990 bis heute187 - 221


Zusammenfassung

Die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 in Israel mit der Situation im Nahen Osten verschärfen den Judenhass weltweit. Anschläge in Brüssel und Paris, der Synagogenanschlag in Halle, Gewaltphänomene gegen Jüdisches in der islamischen Welt und antisemitische Ausschreitungen in Europa sind Beispiele dafür.

Der Judenhass geht oft von der Mitte der Gesellschaft aus. Er beginnt vor 2500 Jahren. Der christliche Antijudaismus und der Ausschluss der Juden im Mittelalter entwickeln sich zum bürgerlich - politischen Antisemitismus im 18. und 19. Jahrhundert. Ideologisch findet er seinen Höhepunkt in der Wannsee-Konferenz und in Auschwitz.

Das Buch zeigt auf 232 Seiten aus Sicht eines Zeithistorikers die Geschichte des Judenhasses und ruft zum Widerstand gegen Antisemitismus auf.

Literaturhinweise Theorie    

Angeführt sind jene Titel, die für den Beitrag verwendet und/oder direkt zitiert werden.

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Benz W. (2008): Was ist Antisemitismus?, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 455, Bonn

Bensoussan G. (2003): Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage, Berlin

Bergmann W. (2020): Geschichte des Antisemitismus, München

Bernstein J. (2018): "Mach mal keine Judenaktion!" Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Soziallarbeit gegen Antisemitismus, Frankfurt/M.

Bernstein J. (2021): Israelbezogener Antisemitismus. Erkennen-Handeln -Vorbeugen, Weinheim

Brumlik M. (2020): Antisemitismus, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10572, Bonn

Bundeszentrale für politische Bildung (2014): Themenblätter im Unterricht Nr. 93 "Antisemitismus", Bonn > http://bpb.de/shop/lernen/themenblaetter/126535/antisemitismus (27.7.2018)

Dichatschek G. (2017a): Didaktik der Politischen Bildung. Theorie, Praxis und Handlungsfelder der Fachdidaktik der Politischen Bildung, Saarbrücken

Dichatschek G. (2017b): Interkulturalität. Ein Beitrag zur Theorie, Bildung und Handlungsfeldern im Kontext von Interkultureller Öffnung und Politischer Bildung, Saarbrücken

Dichatschek G. (2018): Lernkulturen der Erwachsenen- bzw. Weiterbildung. Ein Beitrag zu Theorie, Praxis und handlungsspezifischen Herausforderungen im Kontext mit Politischer Bildung, Saarbrücken

Dichatschek G. (2019): Medienarbeit. Aspekte zur Weiterbildung im Kontext der Politischen Bildung/ Medienpädagogik - Medienbildung, Saarbrücken

Dichatschek G. (2020): Lehrerbildung. Theorie und Praxis der Professionalisierung der Ausbildung Lehrender, Schulleitender und des Schulqualitätsmanagements, Saarbrücken

Europäische Kommission: Jüdisches Leben in aller Vielfalt fördern > https://orf.at/stories/3231252/ (5.10.21)

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Fastenbauer R.- Wolffsohn M. (2021): Grundlagenwissen über Antisemitismus im Kontext von Migration und Integration. Unter besonderer Berücksichtigung des muslimischen Antisemitismus, Forschungsbericht ÖIF, Wien

Grimm M. - Kahmann B. (Hrsg.): Antisemitismus im 21. Jahrhundert. Virulenz einer alten Feindschaft in Zeiten von Islamismus und Terror, Berlin/Boston

Grimm M.- Müller St. (2021): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der Aufklärung, Frankfurt/M.

Gruberova E. - Zeller H. (2022): Diagnose: Judenhass. Die Wiederkehr einer deutschen Krankheit, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10780, Bonn

Heilbronn Chr.-Rabinovici D.-Sznaider N. (Hrsg.) (2019): Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin

Holz Kl.- Haury Th. (2023): Antisemitismus gegen Israel, Hamburg

Killguss H.P. - Meier M.-Werner S. (Hrsg.) (2019): Bildungsarbeit gegen Antisemitismus, Frankfurt/M.

Kost A.- Massing P. - Reiser M. (Hrsg.) ( 2020): Handbuch Demokratie, Frankfurt/M.

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Liepach M.-Geiger W. (2014): Fragen an die jüdische Geschichte. Darstellungen und didaktische Herausforderungen, Schwalbach/Ts.

Longerich P. (2023): Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute, München

Massing P. W. ((2023): Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulrich Wyrwa, Hamburg

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Nirenberg D. (2015): Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens, München

Oberle M.- Stamer M.-M. (Hrsg.) (2020): Politische Bildung in internationaler Perspektive, Frankfurt/M.

Pangritz A. (2022): Die Schattenseite des Christentums. Theologie und Antisemitismus, Stuttgart

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https://antisemitismus2020.at/wp-content/uploads/antisemitismus_2020_kurzbericht_oesterreichweit_ergebnisse.pdf > Studie (12.3.21)

Salzborn S.(2018): Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, Weinheim

Sander W. (2013): Politik entdecken- Freiheit leben. Didaktische Grundlagen politischer Bildung, Schwalbach/Ts.

Sander W. (2018): Bildung. Ein kulturelles Erbe für die Weltgesellschaft, Frankfurt/M.

Sertl D.K (2021): Antisemitismus - Evolution einer Narrative, dargestellt in ihren Akteurinnen, Saarbrücken

Schmitz B. (2015): Geschichte Israels, UTB 3547, Paderborn

Schwarz-Friesel M. (2019): Judenhass 2.0: Das Chamäleon Antisemitismus im digitalen Zeitalter, in: Heilbronn Chr. - Rabinovici D. - Sznaider N. (Hrsg.): Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin, 385-417

UNESCO/OSCE (2018): Addressing Anti-Semitism through Education. Guidelines for policymakers > https://www.osce.org/odihr/383089?doawnload=true (12.2.21)

UNESCO/OSZE (Hrsg.) (2019): Mit Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Ein Leitfaden für politische Entscheidungsträger/innen, Paris -Warschau

Wetzel J. (2019): Antisemitismus als Herausforderung für die schulische und außerschulische Bildung, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 18/2019, 35-49

Zumbini M.F. (2003): Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus. Von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt/M.

IT - Autorenbeiträge    

Die Autorenbeiträge dienen der Ergänzung der Thematik.

Netzwerk gegen Gewalt > http://www.netzwerkgegengewalt.org/wiki.cgi?

Schulpaedagogik

Erwachsenenpaedagogik

AspekteAntisemitismusInEuropa

Israel

Friedenslernen

Zum Autor    

Lehramt für allgemein bildende Pflichtschulen (VS 1970, HS 1975, PL 1976), Mitglied der Lehramtsprüfungskommission für die APS beim Landschulrat für Tirol (1993-2002)

Absolvent des Studiums für Erziehungswissenschaft/ Universität Innsbruck/ Doktorat (1985), des 10. Universitätslehrganges Politische Bildung/ Universität Salzburg-Klagenfurt/ Master (2008), des 6. Universitätslehrganges für Interkulturelle Kompetenz/ Universität Salzburg/ Diplom (2012), der Weiterbildungsakademie Österreich/ Wien/ Diplome (2010), des 4. Internen Lehrganges Hochschuldidaktik/ Universität Salzburg/ Zertifizierung (2016), des Fernstudiums Erwachsenenbildung/ Arbeitsstelle Fernstudium am Comenius-Institut Münster/ Zertifizierung (2018)

Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungswissenschaft bzw. Bildungswissenschaft/ Universität Wien - Berufspädagogik - Vorberufliche Bildung (1990-2011), am Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg/ Lehramt Geschichte - Didaktik der Politischen Bildung (2016, 2017)

Kursleiter an der VHS Salzburg/ Zell-See, Saalfelden und Stadt Salzburg -"Freude an Bildung" (2012-2019) und an der VHS Tirol/ Innsbruck -"Grundwissen Politische Bildung" (2024)

Mitglied der Bildungskommission der Evangelischen Kirche AB - HB. Österreich (2000-2011), stv. Leiter des Evangelischen Bildungswerks in Tirol (2004-2009, 2017-2019)

 
© die jeweiligen Autoren zuletzt geändert am 2. März 2024