Menschen Rechte In Europa
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Menschenrechtsbildung im Kontext Politischer Bildung |  |
Günther Dichatschek
Einführung |  |
Der Umgang mit Menschenrechten und Menschenrechtsbildung gehört (in Österreich) in den Bereich der Politischen Bildung.
Im diesem Kontext erweist sich Interkulturelle Kompetenz/ ICC als gute Querverbindung (vgl. die IT - Autorenbeiträge http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Politische Bildung, Interkulturelle Kompetenz; BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG 2004, SANDER 2014, SCHWERPUNKTNUMMER ERZIEHUNG & UNTERRICHT 3-4/2016).
Der Autor besitzt seit 1990 bzw. 1994 Lehrerfahrung an der Universität Wien bzw. dem Pädagogischen Institut des Landes Tirol/ Lehrerbildung sowie seit 2011 Unterrichtserfahrung in der Erwachsenenbildung und seit der Absolvierung des Universitätslehrganges Politische Bildung 2008 eine postgraduellen Weiterbildung. Ab 2015/ 2016 - 2017 hatte er einen Lehrauftrag für das Seminar "Didaktik der Politischen Bildung"/ Lehramt Geschichte und Sozialkunde/ Politische Bildung an der Universität Salzburg.
Ausgehend vom aktuellen Bericht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (Straßburg) am Beispiel des Jahres 2003 soll
- die Lage exemplarisch in Europa beleuchtet und
- mit zwei aktuellen Beispielen aus Österreich zur Diskussion gestellt werden.
- Ein bewährter Unterrichts- bzw. Projektentwurf mit Einbindung in den Unterricht in Geschichte - Sozialkunde/ Politische Bildung - mit vier Themenblöcken zur Thematik - stellt Aspekte einer Menschenrechtsbildung im Rahmen Politischer Bildung vor. Dieser wurde universitär (Lehramt Geschichte - Sozialkunde/ Politische Bildung) und erwachsenenpädagogisch (Elternarbeit bzw. "Freude an Bildung"/ Lehrgang Politische Bildung) eingesetzt.
- Vervollständigt werden die Überlegungen der Studie mit den Kinderrechten, einer kurzen Geschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Entwicklung der Menschenrechte.
- Abschließend werden Beiträge zur Diskussion über Menschenrechte im Sinne interkultureller/ globaler Entwicklungen gestellt.
1 Auszug aus dem Jahresbericht 2003 des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte |  |
In Europa gibt es kein Musterland der Menschenrechte. Dies macht die Statistik des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg für das Jahr 2003 deutlich. Kein großes europäisches Land im Europarat blieb ohne Verurteilung.
Spitzenreiter an Menschenrechtsverletzungen in Europa ist seit Jahren Italien. Aber nicht, weil dort die Rechte der BürgerInnen mehr mit Füßen getreten werden als anderswo, sondern weil dort die Justiz schlechter organisiert ist und die Prozessformalien umstrittener sind.
Dramatischer und aktuell brisanter ist dagegen der zweite Platz der Türkei. Denn hier geht es oft um zwei massive Vorwürfe: Folter auf Polizeiwachen und die Zerstörung kurdischer Dörfer durch das Militär.
Die Schlussfolgerung, dass die Türkei offenbar für einen EU - Beitritt noch nicht reif genug ist, wäre vorschnell. Die in Straßburg verhandelten Fälle liegen meist Jahre zurück und sagen nichts über die aktuelle Menschenrechtslage aus. Wichtiger ist, dass der türkische Staat zuletzt in gut einem Drittel der wesentlichen Fälle mit den Klägern eine gütliche Einigung fand. Außerdem hat die derzeitige Regierung zugesichert, schärfer gegen die Übergriffe von Sicherheitsbeamten vorzugehen.
Für Russland und andere osteuropäische Staaten kann dies laut Bericht des Gerichtshofes noch nicht festgestellt werden. Russland wurde im Vorjahr zwar nur selten verurteilt, und zu Aserbaidschan und Georgien gab es erst gar kein Urteil. Doch die Liste der anhängigen Verfahren spricht eine andere Sprache: Hier steht Russland schon seit Jahren an der Spitze. Aber dies bedeutet auch eine positive Nachricht. Der Straßburger Gerichtshof wird in Russland wahr- und angenommen.
Das bedeutet eine große Verantwortung für die Mitgliedsstaaten des Europarates. Dessen Rechtsschutzsystem, zu dem auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gehört, ist völlig überlastet. Über Einschränkungen und neue Hürden wird diskutiert, um ihn arbeitsfähig zu halten.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg benötigt nach den Erkenntnissen des Jahres 2003 mehr Personal und Geld, um für jetzt rund 800 Millionen potenzielle Kläger erreichbar zu bleiben.
2 Zwei Diskussionsbeispiele zur Menschenrechtspraxis in Österreich im Jahre 2003/2004 |  |
Im Folgenden wird auf zwei Fälle in Österreich eingegangen. Das Jahr 2003 war ein Zeitpunkt mit besonderer Aktualität.
Um den Intentionen Politischer Bildung im Kontext mit Geschichte/ Sozialkunde - Politische Bildung Rechnung zu tragen, ist eine zeitliche Distanz didaktisch günstig. Besonders eine reflexive Phase zu den Vorkommnissen und deren didaktische Aufarbeitung erweist sich als positiv.
Fall 1 Ein Kind sorgt für Aufregung - Der Fall Christian |  |
Berthold Brecht entwirft in seinem Stück "Der kaukasische Kreidekreis" ein Bild, bei dem der Richter auf dem Boden einen Kreidekreis ziehen lässt und das Kind in die Mitte stellt. Zwei Frauen beanspruchen die Mutterschaft. Die eine beginnt rücksichtslos am Kind zu zerren; die andere lässt los, sie zeigt Herz. Worauf der Richter im Sinne jener Frau entscheidet, die das Wohl des Kindes über dessen "Besitz" stellt.
Seit Brechts Tagen zerbrechen immer mehr Beziehungen, Macht- und Besitzansprüche bleiben, bis hin zu den Kindern. Aus 19 597 Scheidungen im Jahre 2002 in Österreich blieben 17 726 minderjährige Scheidungsweisen zurück. Rund 1 000 Kinder geraten in Auseinandersetzungen ihrer Eltern, drastisch in der Öffentlichkeit dargestellt im Fall Christian in Großgmain/ Salzburg (vgl. Salzburger Nachrichten vom 31. 1.04 , 1 "Am Menschen vorbei").
Wo Streitparteien ihre Verantwortung abgeben oder missbrauchen, sind Richter berufen. An sie werden besonders hohe Ansprüche gestellt, sie haben Kinder vor Schaden zu bewahren. Richter haben nötigenfalls ein psychologische Gutachten zur Hand und handhaben gesetzliche Grundlagen, wenn nötig mit Organen der Staatsgewalt.
Das pädagogische und psychologische Bemühen sowie der gesamtgesellschaftliche Konsens gehen dahin, dass nicht gegen ein Kind - wie dies in Großgmain geschah - gehandelt wird. Die Einbeziehung eines Richters reicht gerade bei Fällen mit Kindern weiter, als dass eine Aktion vom Schreibtisch aus angeordnet wird und zwei Exekutoren einen Dienstauftrag erhalten - Beamte, die sonst Gegenstände pfänden und sich mit renitenten Schuldnern herumstreiten müssen.
Im gegenständlichen Fall Christian spitzte sich seit Wochen die Situation zu. Offenbar fehlten genaue Anweisungen, wie dieser Dienstauftrag durchzuführen sei. Zudem fehlten bei der Durchführung der Rückbringung Christians die Mutter, ein Richter und ein Psychologe, die Jugendwohlfahrt hielt sich auffallend zurück - und die Aktion eskalierte. Mit physischer Gewalt ein Kind dem Vater zu entreißen, zehn Minuten lang das brüllende Kind in ein Auto zu zerren - bei Anwesenheit des ORF - TV - ist schlimm für das Kind, für die Justiz jedenfalls ein negatives Bild in der Öffentlichkeit. Nun bezieht man sich hier auf einen Extremfall, gerade aber die Justiz wird an spektakulären Fällen gemessen.
Naturgemäß tritt die Frage nach Ausbildung und Schulung von Richtern in diesem Zusammenhang auf, die in so brisanten Fällen tätig sind. Festzuhalten ist: Das Wohl des Kindes lag dem richterlichen Bescheid zugrunde, wurde aber bei der Umsetzung grob missachtet - von den Menschenrechten ganz abgesehen.
Fall 2 Ein Urteil sorgt für Aufregung - Der Fall Wague |  |
Der Spruch des Unabhängigen Verwaltungssenats (UVS), wonach die Polizei bei der Festnahme des Mauritaniers Cheibani Wague am 15. August 2003 im Wiener Stadtpark rechtswidrig gehandelt habe, sorgt für handfeste politische Auseinandersetzungen. Heftige Kritik am Innenminister üben auch Menschenrechtsorganisationen.
Verfahrensleiter Wolfgang Helm hatte in seiner Urteilsbegründung scharfe Kritik am Verhalten der Polizeibeamten geübt, die sich beharrlich geweigert haben, vor dem Senat auszusagen. Helm kritisiert in seinem Urteilspruch ungewöhnlich direkt die politische Rückendeckung der Beamten durch den Innenminister. Dieser hatte noch während des Verfahrens betont, dass die Beamten korrekt gehandelt hätten. Im Gegensatz zum Notarzt, der sofort suspendiert wurde (mittlerweile wieder im Dienst ist), gab es für die Polizeibeamten keine Konsequenzen.
Bei Gericht sind Vorerhebungen im Gange. Die Anwältin von Wagues Witwe, Nadja Lorenz, sieht im UVS - Urteil einen Auftrag an die Staatsanwaltschaft. "Immerhin steht fest, dass es Schläge gegeben hat", sagte Lorenz (Salzburger Nachrichten v. 31.1.04, 4). Helm betont, dass der Polizeieinsatz nicht pure Brutalität gewesen sei, sondern vielmehr das Ergebnis von Unfähigkeit. Ein Erlass des Innenministeriums aus dem Jahre 2002 weist auf die Gefahr einer zu langen Fixierung in Bauchlage - wie bei Wague - hin.
Dokumentation DER STANDPUNKT Salzburger Nachrichten v. 31.1.04, 4
Es gibt keine Ausrede
Maria Zimmermann
Das Video zeigt es. Das Urteil eines mutigen Richters bestätigt es. Aber eigentlich sagt es einem der Hausverstand: Es ist nicht in Ordnung, wenn die Freunde und Helfer, Polizisten und Sanitäter, minutenlang auf einem reglosen Menschen stehen. Es ist nicht in Ordnung, wenn ein Festgenommener geschlagen wird.
Auch wenn die Beamten damals im Stadtpark überfordert waren: Es ist nicht bloß eine Frage der Ausbildung, wie mit Menschen umgegangen wird. Und spätestens seit Omofuma gibt es keine Ausreden mehr. Schon überhaupt keine Ausrede gibt es für den Notarzt, der - die Hände in der Hosentasche - dem Treiben nur zuschaut.
Und es gibt auch keine Ausreden für die Beamten, die sich bis zum Schluss weigerten, vor einem unabhängigen Senat an der Aufklärung der Umstände mitzuwirken, die bis zum Tode des Afrikaners Cheibani Wague führten. Wie der Richter es formulierte: Fehler in einem schwierigen Beruf sind eher zu akzeptieren als die Weigerung, dazu Stellung zu beziehen.
Oder haben sich die Polizisten durch den A - priori - Freispruch ihres obersten Vorgesetzten Ernst Strasser tatsächlich für unverwundbar gehalten? Der Minister hat jede Menge Erklärungsbedarf.
3 Menschenrechtsbildung - Unterrichts- bzw. Projektentwurf für die Sekundarstufe I/ 8. Schulstufe |  |
- Themenblock 1 Vorstellungen über Menschenrechte
- Themenblock 2 Klärung des Begriffes und Definitionsversuche
- Themenblock 3 Beispiele von Menschenrechtsverletzungen
- Themenblock 4 Beispiel für Menschenrechtsengagement
Themenblock 1: Vorstellungen über Menschenrechte |  |
Lernziel:
- Die SchülerInnen sollen erkennen, dass die Vorstellungen und Wünsche, die mit dem Begriff "Menschenrechte" verbunden werden, eine wesentliche Basis dieses Bereiches sind.
- Die SchülerInnen sollen wahrnehmen, in welchem Ausmaß die Rechte der Menschen eingeschränkt und unterdrückt werden.
Methodisch - didaktische Hinweise:
Ausgangspunkt für die Behandlung des Themas sind die Vorstellungen, die die SchülerInnen mit dem Begriff "Menschenrechte" verbinden.
Jede/-r SchülerIn sollte die Möglichkeit haben, seinen/ihren Assoziationen Ausdruck zu verleihen. Man wird sowohl durch künstlerischen Ausdruck - Malen, Rollenspiel - als auch durch schriftliche Form die Thematik skizzieren. Diese Freiheit gehört inhaltlich zum Thema, sollte deshalb auch entsprechend beachtet werden.
Nach dieser Phase werden die Einfälle durch die SchülerInnen vorgestellt. Diese können auf einer Wandzeitung oder bei Rollenspielen durch Merksätze fstgehalten werden.
Es bietet sich an, den Zusammenhang von eigenen Vorstellungen bzw. Wünschen und den Menschenrechten zu bedenken.
Arbeitsmittel:
Schreibpapier, Bleistifte, Mal- und Pilzstifte; Wandzeitungspapier, Scheren, Zeitschriften
Plakate zum Thema (z.B. amnesty international)
UN - Menschenrechtserklärung
Zeit: 2 Stunden
Themenblock 2: Klärung des Begriffes und Defintionsversuche |  |
Lernziel:
Die SchülerInnen sollen festhalten, dass Menschenrechtsverletzungen durch die Massenmedien bekanntgemacht und kritisiert werden, aber angemessene Handlungen oftmals ausbleiben.
Methodisch - didaktische Hinweise:
Es ist notwendig, die Schülerbeiträge zu ordnen, um sie zu zusammenfassenden Kategorien bilden zu können. Dieser Unterrichtsabschnitt wird mit der Frage nach den Wirkungen der Materialien abgeschlossen. Informationen über Menschenrechtsverletzungen reichen nicht aus, um BürgerInnen anzuspornen, sich für Mitmenschen einzusetzen. Diese Einsicht müssen SchülerInnen gewinnen.
Nach Abklärung der Ergebnisse soll versucht werden, eine vorläufige Definition zu fixieren.
Für die Schlussbesprechung können nach Möglichkeit die Wandzeitung/ Plakate/ Tonbandaufnahmen zu Hilfe genommen werden.
Arbeitsmittel:
Radio - TV - Zeitungen - Tonband - Internet - Wandtafel
Zeit: 2 Stunden
Themenblock 3: Beispiele von Menschenrechtsverletzungen - In- und Ausland |  |
Lernziel:
Die SchülerInnen sollen erkennen, wie stark Menschenrechtsverletzungen in das Leben des Einzelnen eingreifen.
Methodisch - didaktische Hinweise:
Eine Erzählung bzw. ein reportagehafter Zeitungsbericht bietet für die SchülerInnen die Möglichkeit, anhand eines verständlichen Textes Formen von dramatischen Menschenrechtsverletzungen kennenzulernen. Im Unterrichtsgespräch gilt es, deutlich zu machen, dass die verschiedenen Formen der Verletzung der Menschenrechte nicht vom Willen des Einzelnen abhängig sind, sondern in die Strukturen des einzelnen Systems eingebunden sind.
Hier sollte in stärkerem Ausmaß auf einzelne spezifische Probleme im In- - siehe Kapitel 2 - und Ausland eingegangen werden.
Arbeitsmittel:
Inland: Tageszeitungen - Video - Internet; Jahresbericht des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
Ausland: Erzählung aus J. Matthews "So ist es nun mal, Baby! Der Alltag der Schwarzen in Südafrika - Erzählungen"; Jahresbericht von amnesty international
Zeit: 3 Stunden
Themenblock 4: Beispiel für Menschenrechtsengagement |  |
Lernziel:
Die SchülerInnen sollen erkennen, dass es realisierbare Möglichkeiten gibt, sich für eine Durchsetzung der Menschenrechte einzusetzen.
Methodisch - didaktische Hinweise:
Als Einstieg eignet sich eine Erzählung zur Zuwandererproblematik. Das Vorwissen kann als Hilfestellung benutzt werden. Zugleich wird erkannt, welche Wissenslücken noch vorhanden sind. Wenn es möglich ist, können die SchülerInnen in der eigenen Umgebung nach ähnlichen Problemen suchen, auch ein Sozialarbeiter kann befragt werden.
Auch kann es sinnvoll sein, mittels eines Fragebogen die Einstellung der Bevölkerung zu Ausländern kennenzulernen.
Als Konsequenz aus der Beschäftigung mit der Thematik kann sich ergeben:
(1) Mal- oder Aufsatzwettbewerb zum Thema "Das Leben von Zuwanderern bei uns"
(2) Fotowettbewerb "Was weiß ich vom Leben der Zuwanderer bei uns?" und/ oder
(3) Berichte ausländischer SchülerInnen von Festen und Bräuchen ihrer Heimat - Kochen eines typischen Gerichtes für österreichische SchülerInnen.
Diese beispielhaften Aktivitäten sollen Anlass sein, über den Fragenkomplex "Zuwanderer/ Ausländer - Menschenrechte" nachzudenken.
Arbeitsmittel:
"Ein Gastarbeiter berichtet" aus: M. von der Grün, "Leben im gelobten Land - Zuwandererporträts"
Fragebogen - Tagespresse - Zeitschriften - Internet
Zeit: 3 Stunden
4 Kinderrechte |  |
Kinderrechte gelten für junge Menschen bis zum 18. Geburtstag.
Die Rechte finden sich in der "UN - Kinderechtskonvention"/ UN - KRK ("UN - Convention on the Rights of the Child"). Daher werden die Rechte "Kinderrechte" und nicht Kinder - und Jugendrechte genannt.
In Österreich gilt die Konvention seit 1992. Es gibt auch ein Bundesverfassungsgesetz/ BVG für die Rechte von Kindern in Österreich.
4.1 Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern - Österreich |  |
BGBl. I Nr. 4/2011 (NR: GP XXIV IA 935/A AB 1051 S. 93. BR: AB 8443 S. 793.)
Der Nationalrat hat beschlossen:
Text
Artikel 1
Jedes Kind hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für sein Wohlergehen notwendig sind, auf bestmögliche Entwicklung und Entfaltung sowie auf die Wahrung seiner Interessen auch unter dem Gesichtspunkt der Generationengerechtigkeit. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher und privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.
Artikel 2
(1) Jedes Kind hat Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehungen und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen.
(2) Jedes Kind, das dauernd oder vorübergehend aus seinem familiären Umfeld, welches die natürliche Umgebung für das Wachsen und Gedeihen aller ihrer Mitglieder, insbesondere der Kinder ist, herausgelöst ist, hat Anspruch auf besonderen Schutz und Beistand des Staates.
Artikel 3
Kinderarbeit ist verboten. Abgesehen von gesetzlich vorgesehenen begrenzten Ausnahmen darf das Mindestalter für den Eintritt in das Arbeitsleben das Alter, in dem die Schulpflicht endet, nicht unterschreiten.
Artikel 4
Jedes Kind hat das Recht auf angemessene Beteiligung und Berücksichtigung seiner Meinung in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten, in einer seinem Alter und seiner Entwicklung entsprechenden Weise.
Artikel 5
(1) Jedes Kind hat das Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, die Zufügung seelischen Leides, sexueller Missbrauch und andere Misshandlungen sind verboten. Jedes Kind hat das Recht auf Schutz vor wirtschaftlicher und sexueller Ausbeutung.
(2) Jedes Kind als Opfer von Gewalt oder Ausbeutung hat ein Recht auf angemessene Entschädigung und Rehabilitation. Das Nähere bestimmen die Gesetze.
Artikel 6
Jedes Kind mit Behinderung hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die seinen besonderen Bedürfnissen Rechnung tragen. Im Sinne des Artikel 7 Abs. 1 B - VG ist die Gleichbehandlung von behinderten und nicht behinderten Kindern in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.
Artikel 7
Eine Beschränkung der in den Artikeln 1, 2, 4 und 6 dieses Bundesverfassungsgesetzes gewährleisteten Rechte und Ansprüche ist nur zulässig, insoweit sie gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Artikel 8
Mit der Vollziehung dieses Bundesverfassungsgesetzes ist die Bundesregierung betraut.
Erläuterungen
Allgemeiner Teil
Vor nunmehr 20 Jahren wurde im Rahmen der Vereinten Nationen mit dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes (im Folgenden: UN - Kinderrechtskonvention) das grundlegende Vertragswerk über den Schutz und die Rechte des Kindes geschaffen, das international die weitest mögliche Anerkennung gefunden hat. In Österreich ist dieses Übereinkommen am 5. September 1992 in Kraft getreten und mit BGBl. Nr. 7/1993 kundgemacht worden; anlässlich der Genehmigung dieses Staatsvertrages hat der Nationalrat seine Erfüllung durch Erlassung von Gesetzen beschlossen. Seither wird über eine
Verankerung – zumindest von Teilen – der UN - Kinderrechtskonvention in der Bundesverfassung diskutiert.
Auch die Verfassungsentwicklung auf europäischer Ebene erfolgt unter Berücksichtigung der Rechte des Kindes. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Grundrechte - Charta), ABl. Nr. C 303 vom 14.12.2007, S. 1, enthält eine eigene Bestimmung über die Rechte des Kindes (Art. 24).
Der Entwurf zu einem Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern folgt im Wesentlichen den Vorarbeiten des Österreich - Konvents, im Rahmen dessen eingehender Ausschussberatungen (Ausschuss 4) Konsens über die Aufnahme der Rechte von Kindern als Menschenrecht in einen neuen Grundrechtskatalog erzielt und ein Textvorschlag konsentiert worden ist (vgl. den Bericht des Österreich - Konvents, Bd. 1, Teil 3, 88 und Bd. 2, Teil 4A, 36 f).
Nachdem der im Österreich - Konvent grundsätzlich erzielte Konsens über die Aufnahme von Kinderrechten als Teil eines neuen Grundrechtskatalogs in weiterer Folge (XXII. Gesetzgebungsperiode, Besonderer Ausschuss zur Vorberatung des Berichtes des Österreich - Konvents sowie XXIII. Gesetzgebungsperiode, Expertengruppe Staats- und Verwaltungsreform im Bundeskanzleramt) nicht realisiert werden konnte, ist die verfassungsrechtliche Verankerung von Rechten von Kindern Gegenstand der nun ergriffenen Gesetzgebungsinitiative.
Mit der B - VG Novelle, BGBl. I Nr. 31/2005, wurde Art. 14 Abs. 5a in das Bundesverfassungsgesetz eingefügt. Demnach "ist Kindern und Jugendlichen die bestmögliche geistige, seelische und körperliche Entwicklung zu ermöglichen, damit sie zu gesunden, selbstbewussten, glücklichen, leistungsorientierten, pflichttreuen, musischen und kreativen Menschen werden, die befähigt sind, an den sozialen, religiösen und moralischen Werten orientiert Verantwortung für sich selbst, Mitmenschen, Umwelt und nachfolgende Generationen zu übernehmen" (Art. 14 Abs. 5a B - VG).
Der Entwurf zu einem Bundesverfassungsgesetz über die Rechte von Kindern setzt die mit den vorerwähnten gesetzlichen Maßnahmen eingeschlagene Zielrichtung mit der Verankerung von eigenständigen Grundrechten auf verfassungsrechtlichen Ebene konsequent fort.
IT - Hinweis
https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20007136&ShowPrintPreview=True
(14.12. 2024)
4.2 Kinderrechte im Überblick - UN - KRK |  |
Die UN - Kinderrechtskonvention besteht aus 54 Artikel.
Im Folgenden werden die Kinderrechte erklärt, die einzelnen Artikel stehen am Beginn.
1 - 2 Die Konvention gilt für alle jungen Menschen, die noch keine 18 Jahre alt sind, ab der Geburt beginnt die Rechtsfähigkeit.
3 Erwachsene müssen genau überlegen, was für den jungen Menschen am besten ist.
4 Die UN - Staaten müssen die Kinderrechte umsetzen.
5 Beide Elternteile haben für die Erziehung und Entwicklung mit Unterstützung des Staates zu sorgen.
6 Jedes Kind und Jugendlicher hat das Recht auf Leben und Entwicklung.
7 - 8 Jeder junge Mensch hat das Recht auf einen Namen und eine Nationalität. Niemand darf die Identität nehmen.
9 - 11 Jeder junge Mensch soll bei seinen Eltern aufwachsen bzw. Kontakt regelmäßig pflegen. Staaten sollen die Familien unterstützen gemeinsam zu leben.
12 Die Meinung junger Menschen muss gehört und berücksichtigt werden.
13 - 14 Junge Menschen haben das Recht zu sagen, was sie denken und fühlen, dürfen aber niemand verletzen. Sie bilden ihre eigene Meinung und entscheiden über ihre Religionsgemeinschaft.
15 Junge Menschen haben das Recht, sich mit anderen zusammenzuschließen und sich zu versammeln.
16 Junge Menschen haben das Recht auf Privates.
17 - 18 Sie haben das Recht auf Zugang zu altersgerechten Informationen.
19 Sie haben das Recht auf Schutz vor jeder Form der Gewalt.
20 - 21 Junge Menschen, ohne die Möglichkeit bei ihren Eltern aufzuwachsen, brauchen besondere Unterstützung und Hilfe bei staatlichen Möglichkeiten.
22 Der Staat soll Flüchtlingskinder besonders schützen und ihnen helfen.
23 Junge Menschen mit Behinderungen haben die gleichen Rechte wie alle jungen Menschen.
24 - 26 Junge Menschen haben das Recht auf Gesundheitsbetreuung und gesunde Ernährung.
27 Junge Menschen haben das Recht auf ein Aufwachsen in angemessenen Lebensverhältnissen.
28 - 29 Junge Menschen haben ein Recht auf Bildung und sollen eine Ausbildung machen.
30 Junge Menschen haben ein Recht auf eigene Kultur, Religion und Sprache.
31 Junge Menschen haben ein Recht auf Freizeit und Spiel mit einem Freizeitangebot.
32, 33, 34 - 36 Junge Menschen haben ein Recht auf Schutz vor Kinderarbeit, Ausbeutung und Drogenmissbrauch.
35 Junge Menschen haben ein Recht auf Schutz vor Kinderhandel.
37 - 40 Junge Menschen haben ein Recht auf Schutz vor grausamer Bestrafung und ein Recht auf Schutz im Kriegsfall.
41 - 42 Junge Menschen und Erwachsene müssen ihre Recht kennen und bekannt machen.
43 Die Länder müssen Staatenberichte regelmäßig mitteilen.
45 - 54 Diese Artikel regeln die Umsetzung der Kinderrechte.
Quelle:
NÖ Kinder & Jugend Anwaltschaft (2023): Kinderrechte erklärt für Jugendliche, St. Pölten, 8 - 19
4.3 OECD - Studie zu Kinderarmut |  |
Am 23. November 2023 wurden die aktuellen Daten der Studie "Sozioökonomische Benachteiligungen in der Kindheit: wesentliche Herausforderungen im aktuellen Überblick" für das Jahr 2021 vorgestellt. Im Auftrag des Bundesministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK) untersuchte die OECD die soziale Lage und das Wohlbefinden von Kindern in Österreich. Die Studie evaluiert insbesondere frühkindliche Bildungschancen, den Zugang zu Kinderbetreuung und Gesundheitsversorgung sowie Wohnverhältnisse.
Die soziale Lage von Kindern bis 17 Jahren in Österreich befindet sich weitestgehend im europäischen OECD - Schnitt.
Der Anteil jener Kinder, die nach OECD - Definition von Einkommensarmut betroffen sind, liegt mit 13 Prozent knapp über dem Durchschnitt von 12,4 Prozent. Deutlich unter dem Durchschnitt von 12 Prozent liegt mit 8 Prozent der Anteil der Kinder, denen es an Notwendigem mangelt.
Rund 8 Prozent aller Kinder haben Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss. Das liegt unter dem europäischen OECD - Schnitt von 11 Prozent. Mit 18 Prozent sind in Österreich vergleichsweise weniger Kinder von zumindest einem dieser drei Indikatoren für soziale Benachteiligung betroffen als in den anderen europäischen OECD - Staaten (23 Prozent).
Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung sind ein wichtiger Hebel für die Entwicklung von Kindern und ihrer Gesundheit. Die dadurch verbesserte Erwerbstätigkeit der Eltern verringert auch das Armutsrisiko ihrer Kinder deutlich. Nachholbedarf sieht die OECD - Studie in Österreich bei den Ausgaben für qualitative Angebote: Lediglich 0,5 Prozent des BIP flossen 2021 in die frühkindliche Bildung und Kinderbetreuung. Zudem gibt es große regionale Unterschiede bei den bestehenden Angeboten und ihrer Inanspruchnahme.
Zufrieden zeigen sich Eltern in Österreich mit der Gesundheitsversorgung ihrer Kinder. 99 Prozent aller Eltern empfinden den Bedarf ihrer Kinder mit Kernleistungen wie Arztbesuchen, Untersuchungen und Versorgung im Krankenhaus gedeckt – unabhängig von sozialen Benachteiligungen. Lediglich 0,2 Prozent aller Eltern empfinden den Gesundheitszustand ihrer Kinder als "schlecht" oder "sehr schlecht".
Im europäischen OECD - Vergleich weist Österreich hierbei die besten Werte auf. Leicht unter dem europäischen OECD -Schnitt von 5,4 Prozent liegt Österreich beim Mangel an angemessenem Wohnraum: 5 Prozent aller Kinder lebten 2021 in beengten Wohnverhältnissen und in feuchten bzw. schlecht ausgestatteten Wohnräumen. Im Gegensatz zu anderen OECD -Staaten hängt dieser Mangel aber nicht wesentlich vom Einkommen der Eltern ab. Die OECD - Studie führt dies auf das Angebot des gemeinnützigen und sozialen Wohnbaus in Österreich zurück.
Soziale Benachteiligungen in der Kindheit haben unmittelbare Auswirkungen auf die Erwerbssituation und den Gesundheitszustand im Erwachsenenalter. Mögliche Folgen können neben einem niedrigen Einkommen auch eine höhere Arbeitslosigkeit und ein schlechterer Gesundheitszustand sein. Die dadurch verursachten gesellschaftlichen Folgekosten berechnet die OECD - Studie auf 17,2 Milliarden Euro pro Jahr. Das entspricht 3,6 Prozent des österreichischen BIP.
"Soziale Benachteiligungen in der Kindheit begleiten ein Leben lang. Die Folgekosten sind enorm. Die Daten der OECD sind ein Arbeitsauftrag an die Politik, auch strukturelle Verbesserungen anzugehen." – Bundesminister Johannes Rauch
Durch niedrigere Einkommen und geringere Beschäftigungsquoten erleiden Betroffene im Erwachsenenalter Verluste von 7,7 Milliarden Euro (1,6 Prozent des BIP). Zusätzlich entstehen ihnen Einkommensverluste durch eine geringere Anzahl an gesunden Lebensjahren von 9,6 Milliarden Euro (2 Prozent des BIP). Dem Staatshaushalt entgehen insgesamt 5,6 Milliarden Euro durch entgangene Einkommensteuern und Sozialabgaben, das entspricht 4,4 Prozent aller Einnahmen in diesem Bereich. Der erhöhte Bedarf von Sozialleistungen verursacht hingegen staatliche Mehrkosten von 700 Millionen Euro.
IT - Hinweis
https://www.sozialministerium.at/Services/Neuigkeiten-und-Termine/Archiv-2023/November-2023/oecd-studie.html (28.12.2024)
5 Kurze Geschichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte |  |
Entsetzt über die nationalsozialistischen Verbrechen Hitler - Deutschlands, nahm sich die Allianz der Kriegsgegner Großes vor: Eine friedliche, die Menschenrechte anerkennende Weltordnung sollte etabliert werden. Ganz ohne Widerspruch verlief der Weg zur historischen Resolution 217 am 10. Dezember 1948 jedoch nicht.
5.1 Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte |  |
Als Vorsitzende der UN - Menschenrechtskommission war Eleanor Roosevelt maßgeblich an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beteiligt.
Die Idee, dass Menschen Rechte haben, die ihnen niemand nehmen darf, geht in der Geschichte einher mit der Erfahrung, dass genau dies geschah. Im Zweiten Weltkrieg widerfuhr den Menschen Unrecht, gegen das sich das Innerste im Menschen auflehnt. Die grauenhaften Verbrechen des Nazi - Regimes erfüllten "das Gewissen der Menschheit mit Empörung", wie später die Präambel der Allgemeinen Erklärung erinnerte.
Das Entsetzen über diese Verbrechen war auch in Afrika, Asien und Lateinamerika groß. Dort erhoben sich Stimmen, die forderten, solche Verbrechen nie wieder möglich zu machen. Die Allianz der Kriegsgegner Hitler - Deutschlands machte das Projekt einer neuen friedlichen, die Menschenrechte achtenden Weltordnung zu ihrem Programm. Im August 1941, schon vor dem offiziellen Kriegseintritt der USA, hatten US - Präsident Roosevelt und der britische Premier Churchill auf einem Kriegsschiff vor der Küste Nordamerikas die "Atlantik - Charta" proklamiert. In ihr setzten sie eine friedliche und gerechte neue Weltordnung als Kriegsziel. Eine Ordnung in der "allen Menschen in allen Ländern ein Leben frei von Not" und die Achtung ihrer elementaren Rechte garantiert würden. Im Januar 1942 wurden diese Kriegsziele in der Erklärung zur Gründung der "United Nations" aller Welt verkündet.
5.2 Gründung der UNO |  |
Diese Kriegsallianz von anfangs 25 "Vereinten Nationen" war der Ausgangspunkt für die gleichnamige Weltorganisation, die sich - auf 50 Staaten angewachsen - im Frühsommer 1945 in San Francisco gründete.
Die Menschenrechte in ihrer heutigen Gestalt sind also ein Produkt des Zweiten Weltkriegs. Die Allgemeine Erklärung selbst gibt eine Reihe von Hinweisen auf diesen Ursprung. Der zitierte Absatz aus der Präambel lautet vollständig:
"Da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt..."
Diese Freiheiten waren erstmals von Präsident Roosevelt in seiner Jahresrede vor dem Kongress im Januar 1941 verkündet worden. In ihr versprach er den Amerikanern und der Welt, "Vier Freiheiten": die Rede- und Glaubensfreiheit sowie die Freiheit von Furcht und Not. Nicht nur in der Präambel, auch in den Artikeln der Menschenrechtserklärung finden sich diese Ideen deutlich wieder. Während die Religions- und Redefreiheit zu den Forderungen der französischen und amerikanischen Revolution gehören, war die Proklamation einer Freiheit von Furcht und von Not eine geradezu revolutionäre Neuerung im Verständnis der Menschenrechte.
Sie war Ausdruck der Sozialpolitik des "New Deal", mit der Präsident Roosevelt ab den frühen Dreißiger Jahren auf die Weltwirtschaftskrise reagierte. Mit umfassenden staatlichen Interventionen wurde die soziale Lage der verarmten Massen von Amerikanern verbessert. Diese sozialen Rechte waren für ihn nicht weniger als eine "Second Bill of Rights", ein zweiter Satz von Rechten mit gleichem Rang wie die in den amerikanischen Verfassungszusätzen garantierten Bürgerrechte.
5.3 Proklamation der Menschenrechte |  |
So kamen entscheidende Impulse für die internationale Proklamation von Menschenrechten aus den USA. Aber weltweit griffen Freiheitskämpfer wie der spätere indische Ministerpräsident Jawaharlal Nehru oder der junge Nelson Mandela die in der Atlantik - Charta und der Erklärung der Vereinten Nationen von 1942 verkündeten Freiheitsrechte auf - und wandten sie auch gegen ihre Verkünder. Vor allem Churchill versuchte die universelle Gültigkeit dieser Rechte für das britische Empire einzuschränken. Noch während des Weltkriegs entfalteten die Menschenrechte somit große Sprengkraft. Einmal in die Welt gesetzt, und sei es zu Zwecken der Kriegspropaganda, waren sie nicht mehr so einfach zurückzunehmen.
Dies zeigte sich bald deutlich auf der großen "Konferenz über internationale Organisation", zu der die USA mit den anderen Großmächten im April 1945 nach San Francisco einluden. Einen ersten Entwurf für eine neue internationale Organisation, hatten die Großmächte im Jahr zuvor in Washington hinter verschlossenen Türen erarbeitet. Diese sollte den diskreditierten Völkerbund ablösen. Viele dieser im "Entwurf von Dumbarton Oaks" enthaltenen Mechanismen, finden sich später in der UN - Charta wieder, insbesondere den starken Sicherheitsrat mit dem Vetorecht der Großmächte. Doch die Menschenrechte wurden kaum erwähnt.
5.4 Unzufriedenheit |  |
Als dieser Entwurf bekannt wurde, führte er überall in der Welt zu Widerspruch. So machten, im März 1945, wenige Wochen vor der Konferenz von San Francisco, die lateinamerikanischen Staaten auf ihrer "Inter - Amerikanischen Konferenz über Probleme von Krieg und Frieden", ihre Unzufriedenheit deutlich. Wie die Delegierten vieler "kleiner Staaten" wollten sie den Entwurf der Großmächte in San Francisco einer gründlichen Revision unterziehen. Wichtige Diskussionspunkte waren das Vetorecht der Großmächte, das Selbstbestimmungsrecht aller Völker, auch derer unter Kolonialherrschaft oder Treuhandschaft, und die Anerkennung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts. Und nicht zuletzt lag ihnen an der Verankerung der Menschenrechte. Panama und Kuba legten sogar eine komplette Menschenrechtserklärung vor, die sie als Teil der UN - Charta verabschiedet sehen wollten.
5.5 Menschenrechtskommission |  |
Dazu kam es zwar nicht, doch gelang es, an sieben Stellen der Charta die Achtung der Menschenrechte als Prinzip und Ziel der UNO zu verankern. Artikel 68 sah die Schaffung einer Menschenrechtskommission vor, der einzigen in der Charta selbst angelegten Kommission. Stéphane Hessel, französischer Diplomat und Überlebender des KZ Buchenwald schrieb später: "Ich spürte, dass es sich dabei um die wichtigste Neuerung handelte, durch die sich die Vereinten Nationen (...) von allen früheren Formen internationaler Zusammenarbeit unterscheiden würden." Die Konferenz beauftragte nun diese Menschenrechtskommission, eine umfassende "Bill of Rights" zu formulieren.
Wenn die Menschenrechte eine Antwort auf die Barbarei des Nationalsozialismus geben sollten, brauchte es mindestens drei Dinge:
- eine Erklärung, die die wesentlichen Menschenrechte möglichst allgemein und umfassend formuliert,
- einen Vertrag (Convention), der diese Rechte für die Mitgliedstaaten verbindlich erfasst,
- Durchsetzungsmaßnahmen ("measures of implementation"). Zu letzteren zählte man u.a. juristische Maßnahmen, andere Beschwerdemöglichkeiten (Petitionen) und Bildungsanstrengungen.
Entsprechend organisierte sich die Menschenrechtskommission zunächst in drei Arbeitsgruppen, die sich jeweils einem dieser drei Schritte widmen sollten. Doch die 18 - köpfige Kommission stieß bald an die Grenzen ihrer Arbeitskapazität, aber auch an politische Schranken. Pragmatisch entschied sie, keine "Petitionen" anzunehmen, also direkte Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen.
Noch bis Mitte 1948 hoffte die Mehrheit der Mitglieder, neben einer Erklärung auch den Entwurf einer Menschenrechtskonvention erarbeiten zu können. Doch verblasste der aus dem Weltkrieg gespeiste Enthusiasmus für die Menschenrechte im Kalten Krieg. Die engagierten Mitglieder der Kommission spürten, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten, ihr Projekt durch die Vollversammlung zu bringen. So entschlossen sie sich, alle Kräfte auf eine Erklärung zu konzentrieren.
Und noch heute erstaunt es, dass diese Erklärung am 9. und 10. Dezember auf fast einhellige Zustimmung in der Generalversammlung der UNO stieß, obwohl sich die beteiligten Staaten in einer Reihe schwerster Konflikte befanden. Nach zweijähriger Debatte wurde in der historischen Resolution 217 vom 10. Dezember die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte proklamiert. In ihr erinnerte die Generalversammlung noch einmal ausdrücklich an die ursprünglichen drei Aufgaben der Kommission und forderte sie auf, nunmehr eine Konvention und Durchsetzungsmaßnahmen zu erarbeiten.
Manchen Enttäuschten zum Trotz erkannten schon damals die meisten Beobachter die historische Bedeutung des Dokuments. Erstmals in der Geschichte hatte man sich auf weltweit geltende Menschenrechte geeinigt, auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses der Menschenwürde. Niemand sollte mehr wegen seiner Herkunft oder sonstiger Merkmale diskriminiert werden. Menschen aus allen Kontinenten hatten an der Erklärung mitgewirkt und unterschiedliche Rechtskulturen eingebracht. Nicht mehr nur Bürgerrechte, sondern Rechte für alle Menschen waren proklamiert. Und neben die politischen waren nunmehr gleichberechtigt die sozialen Menschenrechte getreten.
Trotz des zwanzig Jahre dauernden Prozesses bis zur Verabschiedung der beiden Menschenrechtspakte und trotz der bis heute unzureichenden "Durchsetzungsmaßnahmen", die "subversive Kraft", die Bischof Tutu später der Allgemeinen Erklärung beim Kampf gegen Unterdrückung und Diskriminierung bescheinigte, hat sich in den sechzig Jahren seit ihrer Verabschiedung eindrucksvoll entfaltet.
IT - Hinweis
https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/dossier-menschenrechte/38643/kurze-geschichte-der-allgemeinen-erklaerung-der-menschenrechte/ (14.12.2024)
6 Entwicklung der Menschenrechte |  |
6.1 Anfang von Verfassungen |  |
1215 in England Magna Charta
König Johann sichert den Adeligen in einem der ältesten Freiheitsdokumente der
westlichen Welt zu, dass kein freier Mann verhaftet oder angegriffen werden soll.
1222 im heutigen Mali Charta of Mandén
Sie ist die wahrscheinlich älteste Verfassung der Welt, die die Sklaverei von Kriegsgefangenen verbietet. Jedoch existiert sie nur als mündliche Überlieferung. Seit 2009 ist sie UNESCO Weltkulturerbe.
1542 in Spanien Leyes Nuevas
Durch den Dominikanerpater Bartolomés de Las Casas wird die Versklavung und
Ausrottung der südamerikanischen Indios verboten, aber die Gesetze werden kaum
befolgt.
1628 in England Petition of Right
Das Parlament fordert die Stärkung der eigenen Rechte: Die Steuererhebung soll
neu geregelt werden und kein Bürger soll ohne Verhandlung hingerichtet werden
dürfen.
1672 in Schweden De iure naturae et gentium
Samuel von Pufendorf schreibt im zweiten seiner acht Bücher von
Natur- und Völkerrecht: „Und so hat jeder Mensch eine außerordentliche Würde.“
1679 in England Habeas Corpus Act
Das Gesetz erweitert und festigt die bis dahin missachteten Rechte aus der Magna Charta und der Petition of Right.
1689 in England Bill of Rights
Das englische Parlament wird in seinen Rechten gegenüber der Krone gestärkt. Abgeordnete genießen Immunität und Meinungsfreiheit. Rechten für jedes Individuum erweitert.
1776 Virginia Bill of Rights und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
1789 Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte
1791 „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin” proklamiert Olympe de Gouges Freiheits- und Gleichheitsrechte auch für Frauen, ohne jedoch für ihr Anliegen Gehör zu finden. Sie wurde 1793 hingerichtet.
Trotz der universalistischen Wortwahl stellten die Menschenrechte seinerzeit Rechte dar, in deren Genuss – überspitzt formuliert – zunächst vor allem das „weiße”, männliche Bürgertum kam. Selbst als im Lauf der Geschichte die Rechte – in langen und schmerzhaften Kämpfen – auf alle Angehörigen einer Nation ausgedehnt wurden, handelte es sich vorrangig um nationale Rechtskonzeptionen, deren Nutzung für gewöhnlich an die Staatsbürgerschaft geknüpft war.
1776 in den Vereinigten Staaten von Amerika Virigina Declaration of Rights Presse- und Religionsfreiheit, Volkssouveränität und das Prinzip der Gewaltenteilung werden zu grundlegenden Rechten. Die Erklärung hat großen
Einfluss auf spätere Erklärungen weltweit.
Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung schreibt offiziell fest, dass alle Menschen gleich sind und jedes Individuum Menschenrechte besitzt.
1789 in Frankreich Declaration des Droits de l’Homme et du Citoyen
Das Dokument der französischen Nationalversammlung ist die erste europäische Menschenrechtserklärung und legt den Grundstein für Demokratie und Freiheit.
Déclaration des Droits de la Femme et de la Citoyenne - Die Frauenrechtlerin Olympe de Gouges verfasst ein Dokument zur Gleichstellung der Frau. Sie spielt im Titel auf die Erklärung an, die drei Jahre zuvor nur für Männer gültig war. Erst 153 Jahre später erhielten Frauen in Frankreich das Wahlrecht.
1948 von den Vereinten Nationen "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte"
Die UN - Erklärung ist nicht unmittelbar rechtsverbindlich. Trotzdem ist sie eine der wichtigsten Quellen für viele nationale Verfassungen und Menschenrechtsverträge.
6.2 Regionale Menschenrechtskonventionen |  |
Regionale Menschenrechtskonventionen - EMRK, AMRK, Banjul Charta und Arabische Charta
1950 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)
Die Konvention ist für alle EU - Staaten rechtsverbindlich. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und in Luxemburg wacht über ihre Einhaltung.
1966 von den Vereinten Nationen UN - Pakte
Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
Beide Pakte gründen auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und sind inzwischen für alle Unterzeichnerstaaten rechtsverbindlich.
1969 Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK)
Bis auf Kanada, Kuba und einige karibische Staaten haben die meisten Staaten Amerikas die Konvention unterzeichnet. Die zentralen Organe der AMRK sind die Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte und der Interamerikanische
Gerichtshof für Menschenrechte in Costa Rica.
1981 Afrikanische Charta der Rechte der Menschen und Völker (Banjul - Charta)
Die Charta gilt für alle afrikanischen Staaten und beinhaltet bürgerliche, politische sowie wirtschaftliche und soziale Garantien. Dennoch unterscheidet sie sich in vielerlei Hinsicht von anderen menschenrechtlichen Verträgen weltweit.
1993 von den Vereinten Nationen das Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (UNHCR) wird geschaffen. Er schützt und fördert die beiden Pakte von 1966.
1994 Arabische Charta der Menschenrechte
Die Arabische Charta der Menschenrechte wurde vom Rat der Liga der arabischen Staaten verabschiedet und lehnt sich sehr stark an die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an. Jedoch wurde erst eine überarbeitete Version von 2004
angenommen und 2008 rechtwirksam.
2000 Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Die Charta soll Freiheitsgarantien noch sichtbarer machen. Die festgeschriebenen Menschen- und Grundrechte sind für EU
- Staaten rechtsverbindlich.
Quelle:
Klingst M. (2016): Menschenrechte, Stuttgart
7 Menschenrechte im interkulturellen Diskurs |  |
Einige Kritiker nennen die Menschenrechte abschätzig die Zivilreligion der Moderne. Andere fürchten von ihr einen Rechtskulturimperialismus. Tatsächlich gehören sie zu jener Rechtsmoral, zu deren Ansätze sich in vielen Kulturen finden. Ein unverzichtbarer Teil der Freiheitsrechte wird sogar beinahe von allen Rechtskulturen anerkannt. Deren Strafrecht hält Verstöße gegen das Recht auf Leib und Leben, auf Eigentum und auf einen guten Namen ("Ehre") für strafwürdige Delikte. Allerdings gibt es die Schwierigkeit, dass man die Menschenrechte allen Kulturen zumutet.
Der Diskurs über sie wird aber noch immer vornehmlich innerhalb einer Kultur, der des Westens, geführt. Infolgedessen droht der befürchtete Rechtskulturimperialismus – und anstatt den Kern einer universalen Rechtsmoral auszumachen, sinken die Menschenrechte zu einem "Exportartikel westlicher Kultur" herab. Um der Gefahr zu entgehen: "What is universalism to the West, is imperialism to the rest" braucht es einen zweiteiligen interkulturellen Diskurs.
- Der Grundlagendiskurs richtet sich auf die Bedingungen der Möglichkeit interkultureller Koexistenz und ist im Prinzip ein einziger.
- Der Anschlussdiskurs überlegt, wie man den Gedanken von Menschenrechten über die eigene Kultur vermittelt. Dafür bedarf es einer Einverleibung der Menschenrechte in die eigene Kultur ("Inkulturalisierung"), die notwendigerweise kulturspezifisch und in der Mehrzahl stattfindet.
Zweifellos darf man die Menschenrechte nur dann allen Kulturen zumuten, wenn kein nur partikular gültiges Rechtsinstitut vorliegt. Offensichtlich partikular, manchmal sogar auf eine provozierende Weise sind die genauen Entstehungsbedingungen.
Man denke an den geschichtlichen Hintergrund der ersten Menschenrechtserklärung, der "Virginia Bill of Rights" (1776). Religionsflüchtlinge, die sich gleichwohl ihrem Mutterland verbunden fühlen, beharren auf angestammten Rechten. Da sie wegen der ablehnenden Haltung der Krone die Rechte nicht mehr als britische Bürger reklamieren, greifen sie sehr hoch. Nicht von der nächsthöheren Stufe, von Rechten eines Christenmenschen, sprechen sie oder von denen eines zivilisierten Weißen. Vielmehr reden sie im Überschwang von Rechten des Menschen als Menschen. Bekanntlich greifen sie wirklich zu hoch. Im Staat der überhaupt ersten Menschenrechtserklärung bleibt bedenkenlos gültig, was der Erklärung eklatant widerspricht: die Sklaverei.
Das Rechtsinstitut kann jedenfalls seine interkulturelle, überdies universale Geltung nur dann beanspruchen, wenn sich die Legitimation von den Entstehungsverhältnissen abkoppelt. Zusätzlich muss es sich nicht notwendigerweise in den Inspirationsquellen, wohl aber in der Argumentationslogik von kulturspezifischen, beispielsweise abendländischen Menschenbildern lösen. Es muss sich einer Aufgabe unterziehen, die heute, im Zeitalter des praktizierten Historismus und Relativismus, durchaus anstößig ist.
Es bedarf einer Anthropologie. Von deren zwei Grundmodellen setzen die Menschenrechte nur das zweite, anspruchslosere Modell voraus.
- Die unbescheidenere ("perfektionistische") Anthropologie definiert den Menschen von jenen Aufgaben oder Chancen her, die für ein Menschsein im emphatischen Sinn unverzichtbar sind. Damit läuft sie Gefahr, dass letztlich nur der wahrhaft humane Mensch zählt, während man den angeblich nicht so "humanen" Menschen, den Sklaven, den Frauen, den kolonialisierten Völkern, grundlegende Rechte abspricht.
- Eine Anthropologie der Menschenrechte erklärt die perfektionistische Anthropologie nicht für unmöglich, legt sich aber strenge Zurückhaltung auf. Denn bei Rechten des Menschen bloß als Menschen stellt sich die Frage nach dem erfüllten Menschsein gar nicht. Auf den ersten Blick ein Mangel, ist die Zurückhaltung in Wahrheit ein Vorzug, weder eine Gleichgültigkeit gegen das wahrhaft Humane noch eine Reduktion, sondern ein Ausblenden der störenden Faktoren. Gegen anspruchsvollere Definitionen des Menschseins nicht indifferent, wohl aber offen, verbleibt den verschiedenen Kulturen, überdies innerhalb derselben Kultur den verschiedenen Subkulturen und verbleibt schließlich innerhalb beider das Recht auch auf individuelle Andersartigkeit, sogar Exzentrizität.
Es gibt ein Recht auf Differenz. Nimmt man als Beispiel die Religionsfreiheit, erscheint kein Gemeinwesen als legitim, das die Ausübung einer Religion, auch die "Freigeisterei" und den Atheismus, verbietet oder das die Anhänger einer fremden Religionsgemeinschaft und den Austritt aus der eigenen verfolgt. Über dieses Minimum, das Individualrecht einer negativen Religionsfreiheit, hinaus ist noch ein Minimum positiver und rechtlicher Religionsfreiheit geboten. Es besteht im Recht, sich religiös zu entfalten und zu diesem Zweck sich in einer Religionsgemeinschaft zusammenzuschließen, das die korporativ - institutionelle Religionsfreiheit ausmacht. Die nähere Ausgestaltung bleibt dagegen den einzelnen Staaten überlassen.
Unbeschränkt ist das Recht auf Differenz also nicht. Denn wie sollte auch lebensfähig sein, wofür das Recht auf Differenz votiert, die soziale Vielfalt, wenn es im Sozialen nichts anderes denn eine Vielfalt gibt? Die Antwort seitens der Anthropologie liegt auf der Hand: Jenes Element, das allem Recht auf Vielfalt und Nonkonformität eine Grenze setzt, die anspruchsvolle Annahme von übergeschichtlich gültigen Bedingungen des Menschseins, verbindet sich mit einer Bedingung für Vielfalt und Nonkonformität. Möglich wird diese Verbindung durch eine Umkehrung des anthropologischen Blicks.
Statt den Menschen von Vollendungsbedingungen des Humanen, von Selbstverwirklichung oder einer sinnerfüllten Existenz, her zu definieren, verabschiedet die Anthropologie alle normativen Begriffe und begnügt sich mit jenen Anfangsbedingungen, die den Menschen als Menschen ermöglichen. Weil es also auf Bedingungen der Möglichkeit ankommt, kann man von angeborenen Interessen oder unter Verwendung des seit Kant einschlägigen Ausdrucks von (relativ) transzendentalen Interessen sprechen.
7.3 Rechtsdiskurs |  |
Mit transzendentalen Interessen allein ist die Legitimationsaufgabe aber noch unterbestimmt. Der Umstand, dass derartige Interessen auf dem Spiel stehen, macht den existentiellen Ernst verständlich, der hinter der Menschenrechtsidee steht. Er erklärt aber nicht die charakteristische Leidenschaft, die den Protest gegen Menschenrechtsverletzungen trägt: ein Pathos, aber nicht das der Enttäuschung oder der Verachtung, sondern der Empörung. Berechtigt ist diese Reaktion, weil es nicht nur um angeborene Interessen, sondern auch um Interessen geht, auf deren Anerkennung ein Anspruch besteht. Meist wird dieser Punkt übersehen, dass zwischen einer anthropologischen Vorgabe, der Bedrohung angeborener Interessen, und einer rechtsmoralischen Aufgabe eine begriffliche Kluft besteht. Wer die Kluft überspringt, versucht einen legitimatorischen Salto. Mit ihm überspringt er eine Frage, die offen bleibt: Wieso darf jemand von den anderen beanspruchen, dass sie die ihm unverzichtbaren Interessen anerkennen?
Von einem Anspruch kann man generell nur dort reden, wo ein anderer den Anspruch zu erfüllen hat. Wer Rechte legitimieren will, muss daher die entsprechenden Pflichten rechtfertigen. Im Gegensatz zu einer politischen Tendenz, Rechte zu beanspruchen, ohne die entsprechenden Pflichten auszuweisen, muss, wer von Menschenrechten spricht, die korrelativen Menschenpflichten rechtfertigen.
An diesem Sachverhalt verdienen zwei Momente eine Betonung. Einerseits bestehen die Ansprüche nicht in einem absoluten Sinn. Das Lebensrecht meint nicht das Recht - an wen sollte es sich richten? -, sterben müsse man entweder gar nicht oder erst in jenem hohen Alter, wo man, wie es von Abraham heißt, "des Lebens satt" ist. Noch wichtiger ist das andere Moment, dass sich das Recht an die Mitmenschen richtet und von ihnen, und zwar ausnahmslos von jedem, eine Leistung verlangt. Deren Minimum heißt: keine Gewalt auszuüben.
Wegen der Entsprechung von Rechten und Pflichten besteht dort auf die Anerkennung einer Leistung ein moralischer Anspruch, wo die Leistung nicht einfachhin, sondern lediglich unter dem Vorbehalt erbracht wird, dass eine entsprechende Gegenleistung erfolgt. Weil Menschenrechte einen Anspruch meinen, stellen sie kein Geschenk dar, das man sich – aus Sympathie, aus Mitleid oder auf Bitten – einseitig offeriert. Es handelt sich vielmehr um eine Gabe, die nur unter Bedingung der Gegengabe erfolgt. Menschenrechte legitimieren sich aus einer Wechselseitigkeit heraus, pars pro toto: aus einem Tausch. Nun steht in der Menschenpflicht, wer die Leistungen, die lediglich unter Bedingung der Gegenleistung erfolgen, von den anderen tatsächlich in Anspruch nimmt. Umgekehrt besitzt er das Menschenrecht, sofern er die Leistung, die nur unter Voraussetzung der Gegenleistung erfolgt, wirklich erbringt. Diese Situation ist dort gegeben, wo man ein unverzichtbares Interesse nur in und durch Wechselseitigkeit realisieren kann. Wo sich das transzendentale Moment mit einem sozialen Moment verbindet, bei einer "angeborenen Wechselseitigkeit", wird der entsprechende Tausch unverzichtbar.
In der Regel denkt man bei der Wechselseitigkeit bloß an ein positives Nehmen und Geben, an Kooperation. Zweifelsohne gibt es aber auch die negative Form, die wechselseitige Gefährdung. Sie bildet die anthropologische Grundlage wichtiger Freiheitsrechte. Die Rechte auf Leib und Leben, auf Eigentum und auf einen guten Namen sowie auf Religionsfreiheit kann man nämlich als einen Tausch verstehen, den jeder Mensch nicht etwa mit einigen, sondern mit allen Menschen vornimmt. Die eigene "negative Gabe", den Verzicht auf die Fähigkeit, Täter von Gewalt zu sein, tauscht man für die Gegengabe, die Bereitschaft der anderen, ihrerseits auf Gewalt zu verzichten. Charakteristisch für diesen Tausch ist, dass man das eigene Interesse nur durch eine negative Leistung verwirklichen kann, die die anderen erbringen.
Obwohl unmittelbar nur negativ, hat der Tausch nicht erst nachfolgend, sondern als solcher eine positive Bedeutung; andernfalls bestünde kein Anlass, sich auf ihn einzulassen: Werden die entsprechenden Pflichten anerkannt und verzichtet jeder auf Gewalt gegen seinesgleichen, dann und nur dann werden die korrespondierenden Rechte gewährt. Das Interesse an Leib und Leben beispielsweise geht aus dem wechselseitigen Verzicht zu töten hervor. Damit wird nicht behauptet, das Leben sei das schlechthin höchste Gut. Denn es gibt Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen: trivialerweise, wenn sie riskant Auto fahren, nicht so trivial, wenn sie für politische, kulturelle oder religiöse Ideale ihr Leben opfern. Andererseits hat das Leben tatsächlich einen besonderen Rang. Unabhängig von dem, was man inhaltlich anstrebt oder meidet, mithin als Bedingung der Handlungsfähigkeit, bildet es die Voraussetzung für jedes handlungsorientierte Begehren. Darin liegt die singuläre Bedeutung eines transzendentalen Interesses und des ihm korrespondierenden Menschenrechts: Was auch immer man konkret begehrt und zur Realisierung des Begehrten unternimmt - als Lebewesen braucht der Mensch dafür Leib und Leben.
Mit Hilfe dieser neuen Interpretation lassen sich Phänomene wie Märtyrertum und Lebensüberdruss, auch ein leichtsinniges Leben als respektable und nicht schlicht irrationale Optionen verstehen: Obwohl man das Überleben nicht für das höchste Gut hält, will man die Entscheidung über ein eventuell höheres Gut selber treffen, womit man denn doch ein Interesse am Leben beweist. Während der eine selber sagen will, ob und gegebenenfalls wann er des Lebens überdrüssig ist, will der andere selber entscheiden, wofür er sein Leben opfert: aus Treue zu seiner religiösen oder politischen Überzeugung und nicht etwa, um von einem Räuber erschlagen zu werden.
Quelle: Höffe O.(1998). Vernunft und Recht: Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt
IT - Hinweis
https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/dossier-menschenrechte/38723/menschenrechte-im-interkulturellen-diskurs/ (14.12.2024)
8 Migration weltweit - Sudankrise |  |
Der Bürgerkrieg im Sudan hat seit April 2023 zu einer der weltweit größten Vertreibungskrisen geführt. Auf der Weltbühne findet der Konflikt jedoch kaum Beachtung.
Seit April 2023 haben die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Sudan zu großer Not in der Zivilbevölkerung und zu umfangreichen Fluchtbewegungen geführt. In den europäischen Öffentlichkeiten wird die Krise jedoch nur selten thematisiert. In diesem Beitrag betrachtet man die Hintergründe des Konfliktes und geht auf die Folgen für die sudanesische Zivilbevölkerung ein. Zudem analysiert man die Muster der Fluchtbewegungen und diskutiert die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft.
8.1 Jüngere Geschichte |  |
Die jüngere Geschichte des Sudan ist geprägt von der Herrschaft des langjährigen Staatspräsidenten Omar al - Bashir (1989 bis 2019). Unter seiner Führung wurden das Parlament aufgelöst, politische Parteien verboten und das islamische Recht eingeführt. Der Präsident stützte seine Macht sowohl auf die sudanesischen Streitkräfte (SAF) unter Oberbefehlshaber Abdel Fattah al - Burhan als auch auf verschiedene Milizen.
Eine dieser Milizen wurde 2013 als schnelle Eingreiftruppe (Rapid Support Forces - RSF) gegründet und wird seither von Mohammed Hamdan Daglo („Hemedti“ genannt) befehligt. Ihre Beteiligung an illegalen Geschäften, insbesondere die Kontrolle über Goldminen, stärkte ihre Finanzen, wodurch sie ihre Ausrüstung und militärischen Fähigkeiten verbessern konnte.
Die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen und die Unterdrückung der Zivilbevölkerung durch das al-Bashir-Regime haben im Jahr 2019 zu intensiven Protesten geführt. Die RSF und die Generäle der SAF griffen die Forderungen der Demonstrierenden auf und stürzten den Präsidenten im April 2019. Beide Gruppen bildeten anschließend den Militärischen Übergangsrat (Transitional Military Council). Im Juli 2019 wurde dann eine Vereinbarung zur Einsetzung eines zivil geführten Übergangsrats getroffen. Diese Entwicklung führte zur Bildung des Souveränitätsübergangsrates (Transitional Sovereignty Council), der sich sowohl aus zivilen als auch militärischen Führungskräften zusammensetzte und dessen Hauptaufgabe darin bestand, den Übergang zu einer demokratischen, zivil geführten Regierung zu ermöglichen. Doch anstatt die Macht vollständig an die zivile Regierung zu übertragen, organisierten Generäle der RSF und der SAF im Oktober 2021 einen weiteren Staatsstreich und setzten den zivilen Interimspremierminister Abdalla Hamdok ab. Trotz ihres Bündnisses kam es zwischen beiden Gruppen zu einem Machtkampf, der seit Mitte April 2023 in Form eines Krieges ausgetragen wird. Zwar gab es – u.a. unter Vermittlung der USA und Saudi - Arabiens – mehrere Versuche, einen Waffenstillstand zu erreichen. Die Waffenruhen dauerten jedoch jeweils nur kurz an und die Kämpfe gingen weiter.
8.2 Landnutzungskonflikte |  |
Der Krieg im Sudan mit den daraus resultierenden Fluchtbewegungen kann jedoch nicht verstanden werden, wenn man ihn ausschließlich als innenpolitischen Machtkampf begreift. Zum einen spielen im Hintergrund auch Auseinandersetzungen um die Verteilung von Agrarland und die Kontrolle von Ressourcen eine Rolle. Dieses Problem wird durch den Klimawandel verschärft, einer Region im Westen des Sudan – zu einer zunehmenden Knappheit fruchtbarer Anbauflächen und sich zuspitzenden Landnutzungskonflikten geführt hat.
8.3 Externe Akteure |  |
Zum anderen mischen sich Staaten aus anderen Regionen – etwa aus Ostafrika und dem Nahen Osten – in den Konflikt ein, darunter auch Russland. Anstatt friedliche Verhandlungen zu fördern, verstärken diese externen Akteure mit ihren gegensätzlichen geopolitischen Zielen den Konflikt, indem sie jeweils verschiedene Gruppierungen unterstützen. Ägypten und Iran stehen beispielsweise an der Seite der SAF, während die Vereinigten Arabischen Emirate die RSF mit Waffen versorgen. Die kriegsbedingten Fluchtbewegungen werden zudem von Instabilität in der Region beeinflusst: Es gab bzw. gibt auch in Nachbarstaaten bewaffnete Konflikte, vor denen Menschen zuvor in den Sudan geflohen waren und die nun erneut fliehen müssen.
Somit kann der Konflikt als ein Krieg betrachtet werden, der von sich überschneidenden Faktoren beeinflusst wird: Kampf um politische Vorherrschaft und Ressourcen, Klimawandel und geopolitische Faktoren.
8.4 Folgen für Zivilbevölkerung |  |
Der bewaffnete Konflikt im Sudan hat schwerwiegende Folgen für die Zivilbevölkerung. Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA) wurden nach vorsichtigen Schätzungen bislang mindestens 19.000 Menschen getötet. Andere Schätzungen gehen von bis zu 150.000 Toten aus. Jüngsten Analysen zufolge sind rund 25 Millionen Menschen – mehr als die Hälfte der sudanesischen Bevölkerung – von akutem Hunger betroffen, wobei mehr als 750 000 Menschen kurz vor dem Hungertod stehen. Die Konfliktparteien nutzen Hunger gezielt als Kriegswaffe, indem sie beispielsweise Kleinbauern und -bäuerinnen vertreiben, ihre Höfe plündern, Tiere stehlen und Wasserquellen kontrollieren.
Seit Kriegsausbruch kommt es zudem immer wieder zu gezielten völkerrechtswidrigen Angriffen auf Wohngebiete und medizinische Einrichtungen. Insbesondere für Kinder und Frauen ist die Situation sehr schlimm, zumal sie aufgrund der bestehenden sozialen und geschlechtsspezifischen Hierarchien im Sudan anfälliger für die Auswirkungen des Krieges sind.
So waren bereits vor Ausbruch der Kämpfe mehr als vier Millionen Kinder und schwangere oder stillende Frauen schwer unterernährt – ein Zustand, der sich durch die Unterbrechung des Zugangs zu Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung verschlimmert hat. Zudem sind viele Schulen zerstört und Familien vertrieben worden, was die Bildung von Kindern stark beeinträchtigt. In Konfliktzeiten nehmen darüber hinaus Kinderarbeit und die Rekrutierung von Kindersoldaten in der Regel zu.
Bereits in den 2000er Jahren wurde im Sudan geschlechtsspezifische Gewalt als Kriegswaffe eingesetzt und es kam zu sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Ähnliche Tendenzen gibt es auch im aktuellen Konflikt. So wird etwa über Vergewaltigungen durch Milizionäre der RSF, aber auch durch Soldaten der nationalen Armee berichtet. In Kriegskontexten dient die systematische Ausübung sexualisierter Gewalt der Terrorisierung, Vertreibung oder Zerstörung von „unliebsamen“ Bevölkerungsgruppen, etwa Minderheiten oder (vermeintlichen) Unterstützer*innen der gegnerischen Konfliktpartei. Gleichzeitig nimmt geschlechtsspezifische Gewalt auch deswegen zu, weil sich in Konflikten vorhandene gesellschaftliche Gewaltdynamiken verstärken – etwa die systematische Abwertung und Diskriminierung von Frauen – und die öffentliche Sicherheit abnimmt; Übergriffe werden oft nicht mehr verfolgt und bestraft.
Im aktuellen Konflikt erfahren insbesondere nicht - arabische Volksgruppen im Sudan verstärkt Gewalt. So mehren sich Berichte über ethnische Säuberungen in West - Darfur, die sich gegen das Volk der Masalit richten. Streitkräfte der RSF wollen offenbar durch gezielte Tötungen und Vertreibungen die ethnische Zusammensetzung des Bundesstaates ändern. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch fordern eine Untersuchung durch den Internationalen Strafgerichtshof.
Der Bürgerkrieg im Sudan hat zu umfangreichen Vertreibungen geführt. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht. Während die Mehrheit der Vertriebenen im Sudan bleibt oder in die Nachbarländer flieht, nimmt nur eine Minderheit die längere und oft gefährliche Reise Richtung Europa auf sich.
Bereits vor Kriegsausbruch gab es im Sudan mit schätzungsweise 3,7 Millionen Binnenvertriebenen Anfang 2023 eine bedeutende interne Vertreibungskrise. Seit Ausbruch der Kämpfe im April 2023 hat sich diese Situation durch eine alarmierende Zunahme der Vertreibungen verschlimmert. Rund acht Millionen Menschen mussten seit Beginn des Konflikts aus ihren Wohnorten fliehen und sind nun innerhalb des Sudan vertrieben, vor allem in West - Darfur sowie in Regionen entlang des Nils (Stand: Ende Juli 2024).
Viele Menschen erleben dabei mehrfache Vertreibungen. Darunter befinden sich auch etliche der mehr als eine Million Flüchtlinge, die schon vor Kriegsausbruch im Sudan Zuflucht gesucht hatten und mehrheitlich aus den Nachbarstaaten Südsudan, Eritrea, Äthiopien, der Zentralafrikanischen Republik, dem Tschad sowie aus Syrien und Jemen stammen. Dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) zufolge sind seit Kriegsbeginn rund 260.000 Flüchtlinge in andere Teile des Landes vertrieben worden. Viele von ihnen haben Angst, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, weil sie dort weiterhin der Gefahr von Gewalt ausgesetzt wären. Das gilt etwa für Flüchtlinge aus der Region Tigray in Äthiopien. Da es keine klare Schutz- oder Evakuierungsstrategie gibt, befinden sich diese Flüchtlinge in einer prekären Situation. Die RSF beschuldigt darüber hinaus Flüchtlinge aus Äthiopien und Eritrea, die sudanesischen Streitkräfte zu unterstützen und geht daher teilweise sehr brutal gegen sie vor. Es kommt zu Inhaftierungen ohne ordnungsgemäße Verfahren.
IT - Hinweise
https://www.bpb.de/themen/migration-integration/regionalprofile/552135/der-buergerkrieg-im-sudan/ (16.12.2004)
https://www.boell.de/de/2023/07/17/der-krieg-im-sudan-schon-vergessen (16.2.2004)
Literaturhinweis
Engler, M. & Hagos, S. (2023): Der Krieg im Sudan: Schon vergessen? Heimatkunde – Migrationspolitisches Portal, Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung?
9 Aktuelle Diskussion |  |
Auf einer Tagung in Berlin berichteten Regierungsvertreter über die Arbeit im neuen Menschenrechtsrat (MRR) der Vereinten Nationen in Genf. Ein wichtiges Problem ergebe sich aus der Zusammensetzung der Vertreter im MRR. Die Vertreter der Universalität der Menschenrechte seien offenbar in der Minderheit, eine Mehrheit wolle eher regionale und kulturell spezifische Menschenrechtsverständnisse durchbringen. In der Diskussion wies der Botschafter Pakistans sehr geschickt darauf hin, dass 1948 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 56 Mitgliedstaaten der neugegründeten Vereinten Nationen (UNO) zugestimmt haben, jetzt seien aber in der UNO 192 Staaten, die Geschichte sei weitergegangen und so müsse man sich nicht wundern, wenn nun auch im Verständnis der Menschenrechte eine "Weiterentwicklung" zu beobachten sei.
Einer solchen Auffassung gemäß, die die Menschenrechte etwa der islamischen Scharia anpasst, wie es in einer islamischen Menschenrechtserklärung schon geschehen ist, haben Frauen nicht notwendigerweise die gleichen Rechte wie Männer oder sind einige Rechte wie etwa das Recht auf Meinungsfreiheit zu Gunsten bestimmter religiöser Überzeugungen eingeschränkt.
Will man gegen solche Versuche der Umdeutung der Menschenrechte angehen, so muss man sich über ein angemessenes Verständnis der Menschenrechte klar werden. Dabei ist es besonders wichtig, dass man über eine gut begründete Konzeption der Menschenrechte verfügt, und dass man weiß, warum man für eine bestimmte Auffassung eintritt und wo man kompromissbereit sein kann. Was versteht man also unter Menschenrechten und wie bzw. was kann oder muss man begründen?
9.1 Besonderes Recht |  |
Menschenrechte sind besondere Rechte. Sie unterscheiden sich zunächst von einfachen Bürgerrechten durch ihr Gewicht. Sie beziehen sich auf besonders wichtige und fundamentale Sachverhalte menschlichen Lebens. Sie sind aber auch durch eine Reihe formaler, für alle Menschenrechte gültigen Eigenschaften ausgezeichnet. Menschenrechte sind ihrem Begriff nach universelle Rechte, da sie für alle Menschen gelten, und sie sind egalitäre Rechte, da sie für alle Menschen in der gleichen Weise gelten. Sie sind ferner kategorische oder unbedingte Rechte, da man keine Vorleistungen zu erbringen hat, sondern nur ein Mensch zu sein braucht, um Träger von Menschenrechten zu sein. Und sie sind schließlich individuelle und subjektive Rechte, da nur der jeweils einzelne Mensch Träger von Menschenrechten ist.
Menschenrechte sind ihrer Idee nach aber nicht nur moralisch begründete Ansprüche, sie sind auch von einem dafür legitimierten politischen Gesetzgeber in Kraft gesetzte juristische Rechte, die man in einem entsprechenden Rechtssystem einklagen kann. Wir nennen Menschenrechte, die in eine Staatsverfassung aufgenommen worden sind, Grundrechte, und wir kennen auf völkerrechtlicher Ebene eine Reihe von Menschenrechtspakten und Konventionen, in denen die beteiligten Staaten sich zur Einhaltung und Beachtung bestimmter Menschenrechte verpflichtet haben.
Begonnen hat diese Entwicklung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948. Dabei ist der Katalog der konkreten, einzelnen Menschenrechte ein offener Katalog. Es ist im Prinzip möglich, neue Menschenrechte hinzuzufügen oder auch ein Recht herauszunehmen. Welche konkreten Rechte in den Katalog aufgenommen wurden oder werden, das bestimmt sich nach besonderen Unrechtserfahrungen und Bedrohungen, denen Menschen ausgesetzt waren und sind. Insbesondere die AEMR von 1948 ist eine Reaktion auf die Erfahrungen der Barbarei und Unmenschlichkeit des Naziregimes und der totalitären Verbrechen weltweit.
9.2 Begründungsvarianten |  |
In der Philosophie werden eine Reihe von ganz unterschiedlichen Begründungsvarianten der Menschenrechte diskutiert. Das Auffassungsspektrum reicht von der Leugnung ihrer Begründbarkeit und damit der Existenz von Menschenrechten überhaupt bis zur Überzeugung ihrer absoluten Begründetheit. Dabei variieren je nach philosophischer Position und vertretener Moralauffassung die unterschiedlichen Begründungsversuche.
Absolute Begründungen operieren in der Tradition des Naturrechts oder des Vernunftrechts mit dem Begriff der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen als eines absoluten Wertes oder mit dem Begriff der Menschenwürde. In der Tradition Kants stehen auch Versuche, die Menschenrechte als Freiheitsrechte zu begründen.
Starke (kultur-) relative Auffassungen verstehen die Menschenrechte als nur relativ zu einem bestimmten Kultursystem "begründbar". Andere folgen einem "cross - cultural approach", der durch einen Kulturvergleich versucht, empirische Gemeinsamkeiten als Basis festzustellen. Schwach relative Positionen verstehen den egalitären Universalismus der Menschenrechte relativ zu bestimmten Moralvorstellungen. oder politischen Positionen. Relationale Positionen versuchen, den Objektivitäts- und Universalitätsanspruch von Menschenrechten durch Korrespondenzen zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität einzulösen.
Es gibt nicht nur eine, sondern mehrere moralische Begründungen des Menschenrechtsuniversalismus, was angesichts des Pluralismus der Kulturen in der Welt die Möglichkeit eröffnet, die Menschenrechte von unterschiedlichen Voraussetzungen aus zu begründen.
Eine häufig vertretene Auffassung ist, dass Universalismus und Egalitarismus der Menschenrechte moralisch nur in einer absoluten Weise begründet werden könnten (etwa indem man, wie Kant, von einer absolut gesetzten Vernunft ausgeht oder von einer absolut gesetzten Konzeption der Menschenwürde aus den Universalismus der Menschenrechte "ableitet"). Vielfach wird die Meinung vertreten, dass eine relativ ansetzende Begründung den moralischen Universalismus verfehle. Eine solche Verknüpfung von egalitärem Universalismus und einer absoluten Konzeption müsste aber nachweisen, dass es eine solche absolute Prämisse der Begründungen gibt. Was für alle akzeptabel sein können muss, darf nicht schon im Vorfeld des Begründungsversuchs vorausgesetzt werden. Deshalb erscheint es mir sinnvoll, nach einem alternativen Begründungsprozedere zu suchen.
Die Möglichkeit dazu wird eröffnet, wenn man sich noch einmal die Konstellation der hier relevanten Begriffe anschaut. Die gängige Auffassung scheint auf einer Kategorienverwechselung zu beruhen. Sie stellt gewissermaßen die Weichen der Argumentation falsch und kommt deshalb auch zu der falschen Schlussfolgerung, dass ein Universalismus nur absolut begründet werden könne und – wenn dies nicht möglich sei – dass eine nur relative Begründung zur Aufgabe des Universalismus führe und damit zu einer nur partikularen Geltung. Es gilt daher, die Grundbegriffe der Diskussion neu zu ordnen.
Die Diskussion wird bisher so geführt, als ob eine ausschließende Wahl bestehe zwischen "Universalismus" und "Relativismus". Diese Begriffe sind aber nicht direkte Gegenbegriffe: Der direkte Gegenbegriff zu "Universalismus" ist "Partikularismus", der direkte Gegenbegriff zu "Relativismus" ist eine "absolute Auffassung" oder in diesem Sinne ein "Absolutismus". Ordnet man die Begriffe nach dieser Paarbildung an, so wäre auch zu prüfen, ob nicht auch eine relativ ansetzende Begründung des moralischen Universalismus möglich ist, indem ein moralischer Partikularismus als unbegründet zurückgewiesen wird.
Der moralische Universalismus setzt eine inhaltliche Prämisse: die kulturelle Hochschätzung individueller Selbstbestimmung. Dabei muss diese Prämisse in all jenen Kulturen gelten, in denen individuelle Begründungen verlangt werden können. Historisch entstanden ist sie allerdings in den westlichen Kulturen. Insofern ist der moralische Universalismus m. E. kulturrelativ. Eine schwach relativistische Verteidigung eines moralischen Universalismus der Menschenrechte beginnt mit der oben genannten inhaltlichen Prämisse.
Sie setzt dann in einem zweiten Schritt auf das formale Beurteilungsprinzip der Unparteilichkeit: eine unparteilich nicht begründbare Ungleichbehandlung oder Partikularisierung kann nicht akzeptiert werden und deshalb und insoweit gilt ein universeller und egalitärer Anspruch als begründet.
Auf diese Weise erscheint der moralische, egalitäre Universalismus der Menschenrechte nicht als Startpunkt des Begründungsspiels, sondern er wird generiert und erscheint in einem offenen Begründungsspiel als begründetes Resultat. Insofern formuliert diese Auffassung nicht den Universalismus der Menschenrechte, sondern sie reformuliert und rekonstruiert den Prozess der Universalisierung der Menschenrechte.
Der moralisch geforderte Universalismus der Menschenrechte erfordert nun keineswegs eine Einheitskultur oder resultiert in einer solchen. Im Gegenteil: Gerade ein verwirklichter und rechtlich wie politisch konkretisierter universeller Menschenrechtsschutz wird die Möglichkeiten einer kulturellen Vielfalt der Menschen erweitern. Dabei darf freilich ein bestimmtes Niveau nicht unterschritten werden. Nicht jede kulturelle Besonderheit ist daher mit dem Menschenrechtsuniversalismus kompatibel.
In den je konkreten Gestalten von Rechtsregimen und Politiken konkretisieren sich auch die universellen Ansprüche der Menschenrechte. Universelle Regeln können nur bzw. müssen in konkreten besonderen Kontexten angewendet werden. Und jede Anwendung einer Regel ist zugleich eine Weiterentwicklung und Neudeutung ihres Gehaltes.
Man wird unterscheiden müssen zwischen Besonderheiten, die mit dem Universalismus der Menschenrechte kompatibel sind und solchen, die ihm widersprechen. Auch hier kann man vorschlagen, diese Grenze nur in Bezug auf das zu ziehen, was noch unparteilich gerechtfertigt werden kann. Zwei recht allgemein gehaltene Vermutungen sollen diesen Vorschlag verdeutlichen:
Bei Rechten, die gekennzeichnet sind durch einen Vorrang von mit ihnen verbundenen negativen Pflichten lässt sich der Universalismus der Menschenrechte strikter behaupten oder ist hier besser zu verteidigen. So leuchtet etwa eine Position nicht ein, die unter Berufung auf die besondere kulturelle Praxis der Straftradition eines Landes das Menschenrecht, nicht gefoltert zu werden, einschränken will.
Bei Rechten hingegen, die in dominanter, charakteristischer Weise mit positiven Pflichten verknüpft sind (Leistungsrechte, unbestimmte positive Rechte, die offen lassen, welche Handlung eine Erfüllung der positiven Pflicht ist), kann der Universalismus flexibler reagieren – man könnte hier von einem "weichen", variablen Universalismus sprechen. Als Beispiele sei auf die besonderen kulturrelativen Ausdeutungen des Rechts auf Bildung oder auf die Kinderschutzkonventionen hingewiesen.
Sowohl die mit positiven als auch die mit negativen Pflichten verknüpften Rechte erfordern eine größere kulturelle Sensibilität und Variabilität sowie zugleich komplexere Anstrengungen bei der Auslegung der jeweiligen Rechte, in denen das, was unparteilich nicht zu rechtfertigen ist, von dem unterschieden wird, was genügt.
Quellen - Literatur
Günter Nooke, Georg Lohmann, Gerhard Wahlers (Hrsg.) (2008), Gelten Menschenrechte universal? Begründungen und Infragestellungen, Freiburg - Basel - Wien
10 Zur Idee der Menschenrechte |  |
Menschenrechtliche Denkansätze sind zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen entwickelt worden. Aber erst im 18. Jahrhundert wurden sie für eine größere Öffentlichkeit in Europa und Nordamerika formuliert - und sind bis heute in ihrer Definition und Auslegung umstritten. Ein Blick auf die historische Entwicklung der Menschenrechte.
Die ausdrückliche Verkündung von Menschenrechten stellt etwas verhältnismäßig Neues dar; im 18. Jahrhundert wurden sie im europäischen und nordamerikanischen Raum erstmals für eine breite Öffentlichkeit formuliert.
Bereits lange zuvor gab es auch Ansätze in anderen Kulturkreisen. So finden sich im Denken des Buddhismus (6. Jh. v. Chr.) und bei dem indischen Gesetzesschreiber Manu (2./3. Jh. n. Chr.) Elemente, die menschenrechtliche Mindeststandards definieren. Auch die chinesischen Philosophen Konfuzius (551-479 v. Chr.) und Menzius (372-289 v. Chr.) hatten bereits hohe ethische Maßstäbe entwickelt. In ihrem positiven Menschenbild gingen sie allerdings davon aus, dass der Mensch allein durch moralische Selbstdisziplin und Pflichterfüllung das Gute erreichen könne. Die Formulierung von Schutz- und Teilhaberechten gegenüber dem Staat blieb dem Konfuzianismus dagegen fremd.
Zwar gelten Menschenrechte nach der Lehre des Naturrechts als angeboren, als in der Würde des Menschen begründet, doch sind bis zum heutigen Tage Definition und Auslegung umstritten. Menschenrechte können als etwas Gewachsenes, Angreifbares und Veränderliches verstanden werden. Dies rückt die historische Entwicklung des Menschenrechtsgedankens ins Interesse.
10.1 Menschenwürde in Antike und Mittelalter |  |
Im 5. Jahrhundert v. Chr. entdeckte die griechische Philosophie den Menschen als autonomes Individuum im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft. Dabei ist zu bedenken, dass unter "Menschen" damals nur "Männer" verstanden wurden.
Platon und Aristoteles beschrieben den Menschen als vernunftbegabtes Wesen, das seine Erfüllung in der Teilhabe am Staat finde. Maßstab für jede politische Ordnung solle das natürliche Recht sein, das sich aus dem Wesen des Menschen ergebe. Im Einklang dazu stehe das positive, das heißt von Menschen geschaffene Recht. Freilich leitete man aus der Gleichsetzung von natürlichem und positivem Recht auch die Ungleichheit der Menschen ab und rechtfertigte die Institution der Sklaverei.
Der römische Schriftsteller und Staatsmann Cicero erklärte die Sklaverei sogar für unabdingbar, da die Verrichtung bestimmter Arbeiten eines freien Bürgers unwürdig sei. Erst die Philosophie der Stoa stellte das Menschenbild, das sich an dem griechischen oder römischen Vollbürger orientierte, in Frage und lehrte die Freiheit und Gleichheit aller Menschen auf Grund ihrer Natur. In der Praxis ließen aber auch die Stoiker die Sklaverei unangetastet. Sie verspürten zwar eine Grundspannung zwischen dem Reich der Vernunft und der Realität, wollten diese jedoch nur durch persönliche Leidenschaftslosigkeit, nicht durch aktive Weltveränderung aufheben.
Das frühe Christentum konnte an den Gedanken der Stoa anknüpfen. Nach dem Alten Testament schuf Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde. Dieser göttliche Ursprung bedingt die prinzipielle Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Im Neuen Testament erfuhr die Würde des Menschen dadurch eine unschätzbare Steigerung, dass Gott seinen Sohn menschliche Gestalt annehmen und zur Erlösung der Menschheit den Kreuzestod erleiden ließ. Diesem Glauben liegt allerdings wie bei den Stoikern die Vorstellung von zwei Reichen zugrunde: dem des Guten und dem des Bösen. Durch den Sündenfall habe sich der Mensch von Gott entfernt; die irdischen Reiche entsprachen nicht dem Ideal des Gottesstaates. Deshalb können jene aus der Gotteskindschaft rührenden Menschenrechte ihre volle Wirksamkeit auch noch nicht im irdischen Leben des Menschen entfalten.
Als das Christentum in der ausgehenden Antike Staatsreligion wurde, übernahm es in Staat und Gesellschaft antike und germanische Vorstellungen. So beruhte das Lehnswesen auf der germanischen Auffassung von der doppelten Treuebindung. Der Herrscher konnte Rat und Hilfe seiner Vasallen beanspruchen, war aber seinerseits auch zu Schutz und Schirm verpflichtet. Dieses Prinzip galt auf allen Stufen der Lehnspyramide bis hinab zu den Unfreien und Leibeigenen. Wer in dieses Gesellschaftssystem eingebettet war, konnte im Normalfall auf die Unterstützung seines Herrn rechnen, wenn er unverschuldet in Not geraten war. Die rechtliche Verpflichtung und das christliche Gewissen des Herrn sicherten in der Regel auch dem Ärmsten unter den Hörigen Leben und eine minimale Existenzgrundlage. Während Fürsten und Adlige ihren Untertanen ein Mindestmaß an Menschenwürde zubilligten, zementierten sie auf der anderen Seite mit Hilfe der Kirche die Vorstellung von der Ungleichheit der Menschen im Diesseits.
In den Genuss der persönlichen Freiheit und der wirtschaftlichen Unabhängigkeit kam bis weit in die Neuzeit hinein nur eine kleine Anzahl von Männern. Dagegen bejahten einflussreiche Theologen wie Thomas von Aquin (etwa 1225-1274) unter dem Eindruck aristotelischer und stoischer Philosophie die religiöse Gewissensfreiheit für alle. Damals bestand jedoch die Freiheit, sich für Gott zu entscheiden, nur in dem von der Kirche gesetzten Rahmen. Die Grenzlinien waren meist scharf gezogen. Für Heiden und noch mehr für Abtrünnige galt der Satz: "Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil." Dies bezog sich keineswegs nur auf das Jenseits. Ketzer besaßen in der Welt des Mittelalters kein Recht auf Leben und Eigentum.
10.2 Geburt des modernen Staates |  |
Gegen den Vorrang kirchlicher Glaubenssätze in allen Lebensbereichen rebellierte seit dem 15. Jahrhundert die geistige Bewegung des Humanismus. Sie erstrebte die Befreiung von Kunst und Wissenschaft aus den Fesseln der Kirche. Durch eine Renaissance, eine "Wiedergeburt" antiken Bildungsgutes, das man in freiem, auf Vernunft und Erfahrung gegründetem Denken fortentwickeln wollte, hoffte man, eine höhere Menschlichkeit zu erreichen.
Dem Humanismus als Wegbereiter der Reformation gelang es, die Fundamente der alten Papstkirche zu erschüttern. Doch führte von ihm kein direkter Weg zur Befreiung des Individuums aus staatlich - religiöser Bevormundung. Dazu beschränkte sich die Bewegung auf einen zu kleinen Kreis von Gelehrten. Das neue weltliche Denken begünstigte vielmehr die Geburt des modernen Machtstaates.
Der Florentiner Niccolo Machiavelli (1469-1527) entwickelte zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Lehre von der "Staatsräson". Er entkleidete den Staat seiner metaphysischen Ausrichtung und sah in ihm lediglich die notwendige Institution, um den Menschen vor sich selbst zu schützen und eine tragbare Ordnung zu schaffen. Nach dem Motto "Der Zweck heiligt die Mittel" sollte es dem Herrscher erlaubt sein, im Notfall an die Stelle von Recht und Moral Gewalt und List zu setzen. Sehr schnell betrachteten viele Monarchen und Politiker daraufhin bis zum heutigen Tage die Staatsräson als einen Freibrief, um tatsächliches oder vorgebliches Staatsinteresse jederzeit und unter allen Umständen nach innen und außen durchsetzen zu können.
Nur wenige Jahrzehnte später formulierte der französische Jurist Jean Bodin (1529-1596) die Idee der "Souveränität". Die anarchischen Zustände der Hugenottenkriege in Frankreich vor Augen, ging es ihm wie Machiavelli zum Schutz der Gesellschaft um einen möglichst wirkungsvollen Staat. In der Souveränität, die er dem Monarchen zuerkannte, erblickte Bodin eine oberste Gewalt über alle Untertanen, die nicht an andere Autoritäten gebunden war.
Die souveräne Gewalt war von allen Bindungen an Gesetze befreit (princeps legibus solutus), stand aber unter dem göttlichen bzw. natürlichen Recht und übernahm deshalb den Schutz elementarer menschlicher Ordnungen wie die der Familie und des Eigentums. Fortan wurde das Gewaltmonopol in den Händen des jeweiligen Souveräns ein Kriterium für die Modernität und Unabhängigkeit eines Staates. Zunächst aber bildeten Staatsräson und Souveränitätsgedanke das theoretische Fundament für den Absolutismus, der nach Verwaltung auch Heer und Religion, Wirtschaft und Rechtsprechung zu Staatsangelegenheiten erklärte.
10.3 Naturrecht und Aufklärung |  |
Die Staatsräson zielte keineswegs auf die Herrschaft der Vernunft, sondern auf die Vorherrschaft des Staatsinteresses. Dessen jeweilige Definition stand im Belieben des Souveräns. Zwar blieb auch er an das göttliche Recht gebunden, da aber die Grenzen zwischen dem natürlichen und dem positiven Recht fließend waren und der Herrscher keine irdische Kontrolle über sich anerkannte, konnte die absolutistische Herrschaft leicht in Willkür ausarten. Dies stellte geradezu eine Herausforderung an die Staatsphilosophie der frühen Neuzeit dar, mit Hilfe des Naturrechts die Gewichte zugunsten des Individuums zu verschieben.
Zur Erklärung des Spannungsverhältnisses von Staat, Gesellschaft und Individuum entwickelten Naturrechtslehrer zwei grundlegende Vertragstheorien: den Herrschafts- und den Gesellschaftsvertrag. Beide Theorien gehen von der Annahme aus, dass die Menschen im Urzustand gleichermaßen frei waren, dann aber bei der Gründung eines Gemeinwesens ihre Rechte ganz oder teilweise einem Herrscher oder der Gesellschaft übertrugen.
Dabei lieferte freilich das pessimistische Menschenbild des Engländers Thomas Hobbes in der Mitte des 17. Jahrhunderts eine klassische Rechtfertigung des Absolutismus. Hobbes verglich den Menschen in seinem Naturzustand mit einem Wolf; die Anwendung seiner Freiheiten müsse zwangsläufig zu einem "Krieg aller gegen alle" führen. Daher sei die Übertragung aller Rechte an einen Herrscher zum Schutz des Menschen lebensnotwendig, ihre Rückgabe ausgeschlossen.
Den entscheidenden Schritt von der Naturrechts- zur Menschenrechtslehre vollzog erst die Philosophie der Aufklärung, die den Menschen aus "selbstverschuldeter Unmündigkeit" (Immanuel Kant) befreien wollte. Im festen Vertrauen auf die Kraft der menschlichen Vernunft wollte die Aufklärung die Menschheit aus den Ketten religiöser und staatlicher Bevormundung lösen.
Deshalb setzten John Locke (Two Treatises of Government, 1690: Zwei Abhandlungen über die Regierung) und Jean - Jacques Rousseau (Du contrat social ou principes du droit politique, 1762: Der gesellschaftliche Vertrag oder die Grundregeln des allgemeinen Staatsrechts) - um nur zwei maßgebliche Philosophen zu nennen - vor den Herrschaftsvertrag die freie Vereinbarung der Menschen zu einer Gemeinschaft: den Gesellschaftsvertrag. Er sollte die fundamentalen Rechte der Menschheit auch dann bewahren, wenn diese sich einer Herrschaft unterwarf. Mit ihren Gedanken verfochten Locke und Rousseau die Lehre von der "Volkssouveränität". Wenn die Staatsmacht versuchen sollte, gewaltsam über Leben, Freiheit und Vermögen des Volkes zu verfügen, besitze demnach das Volk das Recht, den Herrschaftsvertrag aufzukündigen.
Da von dieser Möglichkeit angesichts der historischen Realitäten nur im äußersten Notfall Gebrauch gemacht werden konnte, kreisten die Gedanken von Charles de Montesquieu hauptsächlich um die Frage, wie die Freiheit am besten zu sichern sei. Die Antwort, niedergelegt in seinem Hauptwerk De l'esprit des lois (Vom Geist der Gesetze, 1748) fand er im Prinzip der Gewaltenteilung. Exekutive, Legislative und Judikative sollten voneinander unabhängigen Staatsorganen übertragen werden, die gegenseitig ein Gleichgewicht behaupten müssten. Daraus entwickelte sich später das wichtigste Instrument zur Sicherung bürgerlicher Grundfreiheiten.
Die historische Leistung der Aufklärung bei der Entwicklung der Menschenrechtsidee lässt sich in fünf Punkte fassen:
- Die Aufklärung legte wesentliche Merkmale für eine Definition von Menschenrechten fest: Sie sind unveräußerlich, nicht an bestimmte Räume und Zeiten gebunden und damit auch älter als alle Staaten. Menschenrechte dürfen nicht wie das positive Recht von einem Gesetzgeber abhängig und in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt sein. Die mit seinem Wesen untrennbar verbundenen Rechte können dem Menschen gar nicht abgesprochen werden, selbst wenn der Einzelne freiwillig darauf verzichten würde.
- Erstmals in der Geistesgeschichte entschied sich die Aufklärung für die Vernunft als ausschließliches Kriterium zur Bestimmung des Naturrechts. Sie wandte sich damit gegen die Fremdbestimmung des Menschen durch religiöse und politische Lehrsätze. Nicht der Wille des Einzelnen oder die "Vernunft" einer kleinen Elite sollten gelten, sondern der Wille der Allgemeinheit (gebildeter bzw. bildungswilliger Bürger). Daher ermunterten Aufklärer immer wieder die Menschheit, "sich ihres Verstandes zu bedienen".
- Erstmals in der Geschichte des Abendlandes bejahte die Aufklärung nicht nur Freiheit und Gleichheit aller Menschen als etwas Ursprüngliches, sondern forderte Glück und Wohlfahrt als Lebensziel des Menschen auf Erden. Vertröstungen auf ein besseres Leben nach dem Tode stellten die Aufklärer nicht mehr zufrieden.
- Mit der Dreiheit von Leben, Freiheit und Eigentum bestimmte die Aufklärung einen Grundstock von fundamentalen Rechten, auf dem die Formulierung und Differenzierung von Menschenrechten erfolgen konnte.
Da der Gebrauch von Vernunft persönliche Freiheit, insbesondere Meinungsfreiheit erfordert, weckte die Aufklärung das Misstrauen gegen jede übermächtige Staatsgewalt. Mit den Lehren von der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung schuf die Aufklärung die tragenden Säulen zum Schutz bürgerlicher Grundfreiheiten.
So hatte die Philosophie der Aufklärung den Boden für die ersten Menschenrechtserklärungen vorbereitet.
IT - Hinweis
https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/dossier-menschenrechte/38704/idee-der-menschenrechte/ (16.2.2024)
Literaturhinweise |  |
Angeführt sind jene Titel, die für den Beitrag verwendet und/ oder direkt zitiert werden.
Bundeszentrale für politische Bildung (2004): Menschenrechte - Dokumente und Deklarationen, Schriftenreihe Bd. 379, Bonn
Erziehung und Unterricht/ Schwerpunktnummer 3-4/2016: Politische Bildung in der Schule
European Court of Human Rights - Annual Activity Report 2003/ January 2004
Klingst M. (2016): Menschenrechte, Stuttgart
NÖ Kinder & Jugend Anwaltschaft (2023): Kinderrechte erklärt für Jugendliche, St. Pölten
Rappenglück St.(2014): Europabezogenes Lernen, in: Sander W.(Hrsg.): Handbuch politische Bildung, Schwalbach/Ts., 392-400
Sander W. (Hrsg.)(2014): Handbuch politische Bildung, Schwalbach/ Ts.
Wintersteiner W./ Grobbauer H./ Diendorfer G./ Reitmair - Juarez S. (2014): Global Citizenship Education. Politische Bildung für die Weltgesellschaft, Wien
Wolf A. (Hrsg.) (1998): Der lange Anfang. 20 Jahre Politische Bildung in den Schulen, Wien
Internethinweise/ Auswahl |  |
Die IT - Autorenhinweise dienen der Vervollständigung des Beitrages
Allgemeine Hinweise
http://www.politische-bildung.at (20.12.2024)
- - -
Netzwerk gegen Gewalt - IT - Autorenbeiträge
http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index:
Politische Bildung
Theorieansätze der Politischen Bildung
Interkulturelle Kompetenz
Friedenserziehung und Politische Bildung
Medienarbeit
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Zum Autor |  |
APS - Lehramt (VS - HS - PL 1970, 1975, 1976), zertifizierter Schülerberater (1975) und Schulentwicklungsberater (1999), Mitglied der Lehramtsprüfungskommission für die APS beim Landesschulrat für Tirol (1993-2002)
Absolvent Höhere Bundeslehranstalt für alpenländische Landwirtschaft Ursprung - Klessheim/ Reifeprüfung, Maturantenlehrgang der Lehrerbildungsanstalt Innsbruck/ Reifeprüfung - Studium Erziehungswissenschaft/ Universität Innsbruck/ Doktorat (1985), 1. Lehrgang Ökumene - Kardinal König Akademie/ Wien/ Zertifizierung (2006); 10. Universitätslehrgang Politische Bildung/ Universität Salzburg - Klagenfurt/ MSc (2008), Weiterbildungsakademie Österreich/ Wien/ Diplome (2010), 6. Universitätslehrgang Interkulturelle Kompetenz/ Universität Salzburg/ Diplom (2012), 4. Interner Lehrgang Hochschuldidaktik/ Universität Salzburg/ Zertifizierung (2016) - Fernstudium Grundkurs Erwachsenenbildung/ Evangelische Arbeitsstelle Fernstudium, Comenius - Institut Münster/ Zertifizierung (2018), Fernstudium Nachhaltige Entwicklung/ Evangelische Arbeitsstelle Fernstudium, Comenius - Institut Münster/ Zertifizierung (2020)
Lehrbeauftragter Institut für Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaft/ Universität Wien/ Berufspädagogik - Vorberufliche Bildung VO - SE (1990-2011), Fachbereich Geschichte/ Universität Salzburg/ Lehramt Geschichte - Sozialkunde - Politische Bildung - SE Didaktik der Politischen Bildung (2026-2017)
Mitglied der Bildungskommission der Evangelischen Kirche Österreich (2000-2011), stv. Leiter des Evangelischen Bildungswerks Tirol (2004 - 2009, 2017 - 2019)
Kursleiter der VHSn Salzburg Zell/ See, Saalfelden und Stadt Salzburg/ "Freude an Bildung" - Politische Bildung (2012 - 2019)
MAIL dichatschek (AT) kitz.net
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