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Der Islamismus in der heutigen Türkei

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Günther Dichatschek


Grundwissen Türkei    

Aspekte einer Landeskunde im Kontext Politischer Bildung    

Günther Dichatschek

Inhaltsverzeichnis dieser Seite
Grundwissen Türkei   
Aspekte einer Landeskunde im Kontext Politischer Bildung   
Einleitung   
1 Vorbemerkung   
2 Begrifflichkeit Islam - Islamismus   
2.1 Islam   
2.2 Islamismus   
3 Problembereiche des Islam   
3.1 Islamische Gesellschaft   
3.2 Religion und Staat   
3.3 Islamismus - Kemalismus   
4 Aspekte am Beginn des 21. Jahrhunderts   
4.1 Gesellschaftliche Auseinandersetzungen   
4.2 Regionale Stellung der Türkei   
4.3 Das Bild der Türkei 2017   
5 Basisdaten Türkei   
6 Türkei 2018   
6.1 Brennpunkt Taksim-Platz   
6.2 Osmanen   
6.3 Kemalismus   
6.4 Der Aufstieg Erdogans   
6.5 Putsch der Armee 2016   
6.6 Prediger und Feind in der Türkei   
6.7 Erdogan und die PKK   
6.8 Führungsnation Türkei   
6.9 Baumeister der Nation   
6.10 Die Generation 2020   
6.11 Religiöse Symbolpolitik   
7 Türkei 2023   
Reflexion   
Pressehinweis   
IT-Hinweise   
Literaturhinweise   
IT-Autorenbeiträge   
Zum Autor   

Einleitung    

Von Interesse ist die Thematik aus dem Themenfeld "Migration/ Zuwanderung", hier aus der zeitlichen Zuordnung ab den sechziger Jahren. Österreich ist insofern betroffen, weil die Türkische Community vielfältig sich darstellt und durch aktuelle Bezüge betroffen ist.

  • Der Universitätslehrgang Politische Bildung/ Universität Salzburg (2006-2008) behandelte explizit den Bereich im Modul 9 "Exkursion: Istanbul", implizit war die Aktualität durch den Ort der Lehrveranstaltungen gegeben. In kollegialen Gesprächen wurde die Situation türkischer Migrantinnen und Migranten in Vorarlberg angesprochen und in der Folge auch in Referaten im Lehrgang immer wieder beleuchtet (vgl. IT-Autorenbeitrag http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Migration in Österreich).
  • Im Universitätslehrgang Interkulturelle Kompetenz/ Universität Salzburg (2011-2012) war naturgemäß die Thematik "Migration" fest verankert und Gegenstand einer eigenen Einheit. Religiös-politische Aspekte wurden allerdings nicht behandelt.
  • Jahre später wurde der Autor zu zwei Vorträgen der Türkischen Community/ Vorarlberg eingeladen - "Staatsaufbau der Republik Österreich" und "Macht der Medien". Der Islam (und Islamismus) war ein Bereich, der in Österreich nicht ausgespart bleiben kann.
Die Thematik behandelt in der Landeskunde der Politischen Bildung einen Bereich, der didaktisch der "Inhaltsstruktur" zugeordnet wird (vgl. DICHATSCHEK 2017a, 24-25).

Im "Fall" bzw. "Fallprinzip" als möglichst wirklichkeitsnaher Beschreibung einer Begebenheit - etwa eines politischen Problems und seiner Bearbeitung - ergibt sich eine Abfolge von Ereignissen.

  • Das Ereignis ergibt sich aus der zeitlichen und räumlichen Abgrenzung, konkret mit Personen, Gruppierungen und Institutionen.
  • Im Fallprinzip wird/ kann exemplarisches Lernen durchgeführt werden.
  • Ein Vorfall (Konstruktion mit einem Gegenstand) kommt in verschiedenen Formen zur Sprache, etwa in Berichten, Darstellungen, Quellentexten und Dokumenten. Diese lassen eine unterschiedliche bzw. differenzierte Thematisierung entstehen.
  • Methodisch geht es um Beteiligungen, Absichten, Mittel der Durchsetzung und den Verlauf bzw. eine Abfolge.
  • Der Fall ist in der Politischen Bildung ein Mittel auch des Entscheidungstrainings. In der Folge kommt es zu einer Analyse, der Problemlage und Behandlung mit Schlüsselbegriffen, einem möglichen Lösungskonzept bzw. der Interessenslage. In einem religiös-politischen Thema spielen Glaube, Situationen bzw. Problemlagen und gesamtgesellschaftliche Interessen eine wesentliche Rolle.
Zugeordnet werden kann die Thematik

  • schulisch der Sekundarstufe II mit den Fächern Geschichte-Sozialkunde-Politische Bildung, Religion und Geographie-Wirtschaftskunde im Kontext Interkultureller Kompetenz und Medienbildung sowie der Lehrerbildung.
  • In der Erwachsenen- bzw. Weiterbildung ist die Thematik dem Bereich "Politik und Gesellschaft" zugeordnet (vgl. hier die zunehmende Bedeutung von Politischer Bildung im Kontext mit Interkultureller Kompetenz und Medienbildung; DICHATSCHEK 2017b; vgl. die IT-Autorenbeiträge http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Interkulturelle Kompetenz, Medienarbeit).
1 Vorbemerkung    

Als etwa Anfang der sechziger Jahre die ersten Gastarbeiter nach Deutschland und in der Folge nach Österreich kamen, war den Kindern deren Klassifizierung recht einfach: die Italiener trugen ihre Habseligkeiten in der dann sprichwörtlich gewordenen "italienischen Aktentasche", einer dünnen Plastiktüte; die Spanier waren an einer gewissen tänzelnden Eleganz zu erkennen; die Portugiesen verhalfen mit ihrer Nachfrage nach Stockfisch dem Fischhändler zwei Straßenecken weiter zu bescheidenem wirtschaftlichem Erfolg und die Türken waren an ihrem beeindruckenden Schnurrbart zu erkennen und zeigten, wie verwandlungsfähig ein Ford Transit ist, der fortan zum "Türkenkoffer" wurde.

Man erkennt an dieser Aufzählung: es kamen in dieser Anfangsphase hauptsächlich Männer. Erst einige Jahre später prägten auch die Frauen der Gastarbeiter das Straßenbild. In der Folge kamen Kinder mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Problembereichen (vgl. den IT-Autorenbeitrag http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index: Migration in Österreich).

1992 bereisten Freunde die Türkei und mussten an die sechziger Jahre denken. Denn nun war das Kopftuch auf dem Haupt türkischer Frauen mehr als nur ein Hinweis auf nationale Herkunft. Es zeigte an, so wurde man belehrt: Konservativismus, Religiosität, Provinzialität, Rückschrittlichkeit. Die moderne türkische Frau lebt in der Stadt, geht einem modernen Beruf nach, ist kulturell-religiös interessiert, ohne religiös zu sein - und trägt vor allem eins als Zeichen ihrer Modernität und Unabhängigkeit, offenes, möglichst langes Haar - jedenfalls kein Kopftuch.

Das letzte Streiflicht ist noch recht frisch, Eindrücke von der letzten Türkeireise 2008 im Rahmen des Universitätslehrganges Politische Bildung/ Universität Salzburg.

  • Auf der Tee-Terrasse des Top-Kapi-Palastes, hoch über dem Bosporus in Istanbul, sitzt man in der Sonne und kommt mit zwei jungen Frauen in ein Gespräch. Sie sind Studentinnen einer privaten Computerschule und sie haben zusammen mit ihrer Abschlussklasse einen Tagesausflug unternommen. Und sie tragen nicht nur das Kopftuch, sondern mit der größten Selbstverständlichkeit den aus dem Iran importieren dunkelblauen Shador.
  • Andererseits kommt man beim Besuch der Universität Istanbul in das Gespräch und erkennt die Universalität des wissenschaftlichen Personals, die Verbindungen zu Europa und den USA.
Das Kopftuch kommt vermehrt - noch anders als vor rund zehn Jahren - im Straßenbild vor, und es ist völlig egal, ob sich die Straße in Ankara, Istanbul, Konya oder einem Dorf im Taurusgebirge oder in Kappadozien befindet. Es wird sogar mehr und mehr verdrängt vom Schleier, dem Shador, und gelegentlich sogar von der Burka. Der Schleier ist zu einem "Emblem des Islamismus" geworden - und dies gilt nach allgemeinen Erfahrungen auch für Syrien, Jordanien und Ägypten, eigentlich in der gesamten arabischen Welt (vgl. TIBI 2007).

2 Begrifflichkeit Islam - Islamismus    

2.1 Islam    

Den Islam als Einheit gibt es nicht.

  • Es gibt unterschiedliche Strömungen, Richtungen, Parteiungen, Gruppen und Splittergruppen, main streams und exotische Sekten.
  • Der Islam variiert religiös von Ort zu Ort. Spanische Muslime, die im Schatten der Alhambra in der Altstadt von Granada leben, sind anders als etwa schwarze Muslime in einem Chicagoer Ghetto; diese unterscheiden sich ihrerseits von Kosovaren oder tunesischen Tuaregs, und der Islam auf den Philippinen ist ein anderer als der in der südsibirischen Steppe. Der Türschließer der Azam-Moschee in Qom wird seinen Islam anders verstehen als seine Kollegen an der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem oder der Mevlana des Hacibektasch von Konya.
Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, tritt der Islam heute in den folgenden Varianten auf.

  • Da ist zunächst der orthodoxe Islam, der schriftgläubige, der gegen Reformen ist.
  • Die nächste und zahlenmäßig vielleicht größte Strömung ist der fundamentalistische Islam, der in allen islamischen Gesellschaften anzutreffen ist. Als herausragende Orte verbindet man damit etwa Assiut in Ägypten, Kerak in Jordanien, die Nordprovinzen von Nigeria.
  • Der terroristische Islam, wie er in Algerien, im Sudan und in Afghanistan auftritt bzw. auftrat.
    • Allerdings ist zu bedenken, dass diese Einschätzung stark abhängig ist von der gerade vorherrschenden politischen Meinung.
    • Als sie gegen die russische Besatzung kämpften, waren die Taliban muslimische Freiheitskämpfer, wenn aber die Polisario-Rebellen Zinn-Minen in der von Marokko annektierten Westsahara angreifen, sind das islamische Terroristen.
  • Der Sufi-Islam, ein Volksislam, der zwischen Politik und Religion trennt und in vielen arabischen Ländern vertreten ist.
    • Wegen der starken Verbreitung in Zentralasien nennt ihn etwa Bassam TIBI "Wodka-Islam".
    • In Syrien zeigen etwa die Alewiten seit Jahrhunderten bereits ähnliche Tendenzen.
  • Schließlich gibt es den Reformislam, der versucht, den Islam an die Moderne anzupassen. Hier sind vor allem die intellektuellen Kreise der großen Städte zu nennen.
2.2 Islamismus    

Ganz unterschiedlich wird in diesen verschiedenen Strömungen die religiöse, die gesellschaftliche und die politische Relevanz des Islam gesehen.

Anders stellt sich das beim Islamismus (vgl. KREISER 2008; YOLDAS-GÜNÜS-GIELER 2015).

  • Im ausgehenden 19. Jahrhundert kam es im Zusammenhang der letzten Phase des Niedergangs des Osmanischen Reiches zu einer Konfrontation der muslimischen Welt mit der überlegenen wirtschaftlichen und militärischen Macht Europas. Die Folgen sind für die jeweiligen Regionen bekannt; die Öffnung der regionalen Märkte und Volkswirtschaften brachte enorme politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen, in deren Folge die islamischen Gelehrten gezwungen waren, Religion und Ethik in der sich veränderten Umwelt neu zu deuten. Als Theologen, Juristen und Lehrer waren sie die wichtigsten Vertreter der gebildeten Schichten in den städtischen Zentren und mussten darum eher als andere die Brüche und Gefahren reagieren, die eine Übernahme der säkularen Moderne Europas für die islamische Gesellschaft bedeuten würde. Einige nutzten die sich bieten Chancen einer Liberalisierung, andere besannen sich in einer Gegenbewegung auf die Wurzeln des Islam.
  • Es ist kein Wunder, dass besonders in Ägypten (Stichwort: Suezkanal) die fundamentalistische Bewegung einen ihrer wichtigsten Vordenker fand: den Reformtheologen und Juristen Muhammad Abduh (1849-1905). Er sah den Niedergang des Islam darin, dass seit schon Jahrhunderten lediglich die Nachahmung des Überkommenen im Zentrum des intellektuellen Bemühens der islamischen Intelligenz gestanden habe, was sich nun unter den geänderten Herausforderungen als fatal erwiesen habe.
    • Nur eine Wiederbelebung der frühen, unverfälschten Prinzipien des Islam würde die Muslime - nach Abduh - aus der Krise ihrer Zeit herausführen können. Diese Orientierung am Vorbild der Altvorderen wurde zum Grundmuster für die in unterschiedlichen Ausprägungen von Marokko bis Indonesien wirksame Bewegung des Islamismus.
    • Abduhs engster Mitarbeiter Raschid Rida (1865-1935) und später Hasan al-Banna (1906-1949) radikalisierten diese Ideen, was dann 1928 in Ägypten zur Gründung der Gemeinschaft der Muslimbrüder (al-ikhwan al-muslimun) führte.
Es ging diesen frühen Islamisten und ihren Anhängern darum, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt nach westlichem Muster mit einer grundlegenden ethischen Erneuerung aus der islamischen Tradition zu verbinden.

  • Ziel war ein Staat, in dem alle gesellschaftlichen Bereiche aus dem Geist bzw. nach dem Buchstaben des Koran geregelt sein sollten. Damit verbunden war eine Abgrenzung, ja teilweise sogar eine Ablehnung der westlichen Werte. Die von den modernen Demokratien gelebte und wohl auch propagierte religiöse Indifferenz, den als geradezu moderne Errungenschaft propagierten Säkularismus lehnte man ab.
  • Mit der Industrialisierung als wichtigstem Motor von Modernisierung hatten die Muslimbrüder dagegen keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil, sie sahen und sehen wohl auch jetzt noch in einer entsprechenden ökonomischen Tätigkeit in Wirtschaftsunternehmen und Sozialeinrichtungen ein wichtiges Feld, in dem sich eine Gesellschaft nach islamistischen Grundsätzen weisen und bewähren kann.
Es ist daher wichtig festzuhalten, dass sich der Islamismus zunächst nicht gegen "die Moderne" oder "den Westen" schlechthin richtet - einmal ganz abgesehen, dass es wohl erhebliche Schwierigkeiten bereiten würde, diese einigermaßen zu fassen und zu definieren -, sondern zumindest in der Zeit bis zur Iranischen Revolution wehrte sich der Islamismus gegen bestimmte soziale bzw. kulturelle Auswirkungen und Begleiterscheinungen der europäischen Kolonialpolitik im 19. und 20. Jahrhundert und deren späteren Auswirkungen.

  • Geradezu bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Äußerung des Staatsgründers des heutigen Saudi-Arabien, König Abdul Aziz Ibn Saud, der die damit verbundene Absicht auf die vielzitierte Formel gebracht hat: "Wir wollen Europas Gaben, aber nicht seinen Geist!" Aktuell ließe sich dieser Satz vielleicht noch folgendermaßen umformulieren: "Wir wollen Amerikas Waffen und Soldaten, aber nicht den Playboy oder die Emanzipation der Frau!"
  • In wieweit diese Teilung der Moderne ("Europas Gaben, aber nicht seinen Geist!") möglich und sinnvoll ist, egal ob unter islamischen oder unter christlichen Vorzeichen, sei dahingestellt.
3 Problembereiche des Islam    

Welche Gaben man haben will und wie man diese in die islamistisch organisierte und geprägte Gesellschaft integriert, ist nun das Problem (vgl. GOTTSCHLICH 2016, 19-35).

  • Maßstab hierfür kann nur der Koran sein und die "sunna", die als Bezugspunkte für Theologie, Recht und Ethik oberste Priorität genießen.
  • Aus ihnen und der korrekten Auslegung ihrer Tradition fließen konkrete Handlungsanweisungen, wie sich der einzelne Gläubige in jeder konkreten Situation und insbesondere im Konfliktfall so zu verhalten hat, dass er in seinem Wollen und Tun dem Willen Gottes entspricht.
3.1 Islamische Gesellschaft    

Das Ziel ist die perfekte Gesellschaft, in der jeder von sich heraus den Islam lebt. Es ist vor diesem historischen Hintergrund deutlich, dass der Islamismus die real existierenden Gesellschaften in den islamischen Staaten als zu permissiv, wenn nicht gar als geradezu heidnisch ablehnt.

Um bei der türkischen Gegenwart zu bleiben: westliche Dekadenz der Oberschicht, amerikanischer Kulturimperialismus, unkontrollierter Import von europäischen Werten und Ethiken etwa durch heimkehrende Gastarbeiter und das fast überall zu empfangende Satellitenfernsehen, die ständig massiv fortschreitende Aufweichung der Sitten durch das schlechte Vorbild der Touristen in den türkischen Urlaubsgebieten, fortschreitende Indifferenz gegenüber traditionellen religiösen Traditionen - dies alles wird als Bedrohung der islamistisch geprägten Gesellschaft verstanden und teilweise bekämpft. Und die staatlichen Autoritäten, die solches zulassen, vielleicht sogar fördern, sind wegen ihres Unglaubens zu verurteilen.

Für den rechtgläubigen Moslem gilt es dann, sich aus der bestehenden, verkommenen Gesellschaft zu lösen - gelegentlich wird hier das Bild von Muhammads Auswanderung (hijra) von Mekka nach Medina gebraucht - und sich der wahren "islamischen Gemeinschaft" (al-jamaa al-islamiya) anzuschließen. Dies geschieht zunächst durch eine vorbildliche Lebensführung, kann im Extremfall aber auch bedeuten, dass die bestehende, ungläubige Gesellschaft und insbesondere ihr Herrschaftssystem und deren Repräsentanten mit Gewalt bekämpft werden.

3.2 Religion und Staat    

Kritisch anzumerken ist, dass die Islamisten bei ihrem Bezug auf die theologischen Grundlagen und Quellen sehr selektiv vorgehen. Die von ihnen immer wieder behauptete These, der Islam sei "Religion und Staat" als untrennbare Einheit und böte von der Tradition des Koran und der "sunna" her ein umfassendes, alle gesellschaftlichen Fragen regelndes System, kann man bezweifeln.

Gewiss sind im Koran eine Menge gesellschaftsrelevanter Elemente vorhanden, aber er zielt doch in erster Linie auf die Frömmigkeit des Individuums, dessen gesellschaftliches Sein zweitrangig ist, solange sich das Individuum ungestört dem geoffenbarten Willen Allahs ergibt bzw. ergeben kann.

In den fünfziger und sechziger Jahren stellte sich aus verschiedenen Gründen, auf die hier jetzt nicht weiter eingegangen werden soll, heraus, dass die modernistischen Reformmodelle der arabischen Staaten nicht den gewünschten Erfolg haben werden. Nassers "Arabischer Sozialismus" scheiterte ebenfalls, wie sich in der Türkei die Hoffnungen nicht erfüllten, die mit dem Beitritt zur NATO 1952 verbunden waren.

Ein eigener Weg, politisch, wirtschaftlich, militärisch, war nicht gangbar. Auch eine Anknüpfung an die große islamisch-arabisch-osmanische Vergangenheit als "Dritten Weg" in Zeiten des Ost-West-Konfliktes war nicht möglich. So versuchten etwa die verschiedenen türkischen Regierungen aus der geostrategischen Lage der Türkei an der Südost-Flanke der NATO Kapital zu schlagen, was ihnen auch für eine gewisse Zeit gelang. Die westliche Welt nahm es billigend in Kauf, dass das Militär und die vom Militär manchmal nur widerwillig tolerierten, dann wieder rechtzeitig gewaltsam beseitigten Zivilregierungen mit harter Hand innertürkische Probleme angingen und die Kurdenfrage rigide behandelten.

In den siebziger und verstärkt in den achtziger Jahren kam eine Phase der wirtschaftlichen Liberalisierung hinzu, die aber nur sehr bedingt ihre Ziele erreichte, so dass große Teile der Bevölkerung nur die negativen Auswirkungen zu spüren bekamen. Während eine kleine Schicht offensichtlich von der neuen Politik profitierte und unübersehbar reich wurde und weiter reicher wird, verschlechterten sich für die Mehrzahl anhaltend die Lebensbedingungen. Landflucht und Abwanderung der Gastarbeiter, West-Ost-Gefälle der türkischen Wirtschaft, Verelendung der städtischen Randbezirke, enorme Inflationsraten von teilweise über 60 Prozent seien hier nur als Stichworte genannt.

Besonders hart betroffen waren von dieser Wirtschafts- und Gesellschaftskrise die Angehörigen der unteren Mittelschicht, die sich überwiegend aus Land-Stadt-Migranten rekrutierten, die erstmals Zugang zu höherer Bildung hatten und die stark aufstiegsorientiert waren - und die sich nun durch die sozialen Konsequenzen der Liberalisierungspolitik in ihrem (weiteren) sozialen Aufstieg blockiert sahen.

Es wird nun häufig in diesem Zusammenhang die These aufgestellt, dass sich in diesem Milieu, insbesondere auch unter Studenten aus dieser Schicht, in vielen Staaten sich islamische Gruppen zu Trägern einer breiten sozialen Protestbewegung entwickelten, wobei die Islamisten in der Regel dann die traditionelle Linke verdrängten, deren Stern mit dem des real existierenden Sozialismus sank. Der Islamismus war ständig in der modernen islamischen Gesellschaft vorhanden und lediglich durch die soziale und ökonomische Entwicklung begünstigt. In der Türkei etwa gab es den Islamismus als Rekurs auf den Kemalismus verdeckt seit den zwanziger Jahren. Es trifft allerdings zu, dass er erst in den neunziger Jahren zu einer ernsthaften gesellschaftlich relevanten Größe wurde, und dass hierfür die zuvor genannten Gründe eine entscheidende Rolle gespielt haben.

Dazu gehört, dass der Islamismus - und die jüngsten Wahlerfolge der AK-Partei belegen dies eindrücklich - ein politisches Modell, einen Gesellschaftsentwurf dem derzeitigen politischen System entgegenstellt, in dem ein islamistisch geprägtes Staatwesen die Hauptrolle spielt. Auf den Punkt gebracht wird dies etwa in Wahlkampfparolen nach dem Motto: "Der Islam ist die Lösung!"

3.3 Islamismus - Kemalismus    

Der Islamismus in der Türkei stellt sich gegen die laizistischen Prinzipien und Traditionen des Kemalismus.

Allerdings, man höre sich nur zum Beispiel die Situationsbeschreibung der katholischen Schwestern an, die in Konya die St. Paul und Thekla-Kirche betreuen; da ist von Laizismus oder gar religiöser Toleranz, wie Mustafa Kemal Atatürk sie noch verkündete, schon unter den bisherigen Regierungen wenig übriggeblieben. Auch gespannte Verhältnis des Orthodoxen Patriarchats in Istanbul zu türkischen Regierungsstellen drückt auch einen Problembereich aus.

Aus der Beobachtung der türkischen Politik stellt sich immer deutlicher heraus, dass zur Zeit die Islamisten in der Türkei eine Gesellschaft anstreben, in der Religion und Politik eine untrennbare Einheit bilden. Erdogan und mit ihm die Führungsriege der AKP wollen in der Türkei einen "islamistischen Staat" errichten - ob mit oder ohne Förderung und Unterstützung der AKP. Und das wäre dann das Ende des Kemalismus in der Türkei 80 Jahre nach seinem Beginn (vgl. DENIZ 2016, SCHWEIZER 2016).

Eine Auseinandersetzung mit der politischen Theologie im Islam scheint in der Politischen Bildung im Kontext eines interreligiösen Dialogs hilfreich zu sein (vgl. TSCHETSCH 2017).

4 Aspekte am Beginn des 21. Jahrhunderts    

4.1 Gesellschaftliche Auseinandersetzungen    

Die junge türkische Geschichte ist von heftigen Auseinandersetzungen und einem tiefen Misstrauen geprägt.

Das Militär, das nervös die Politik beobachtet; Parteien, die mehr oder weniger Klientelparteien sind; Gegensätze zwischen Stadt und Land, West- und Osttürkei - um nur einige zu nennen.

Ein starker Islam, der sich entsprechend in der Gesellschaft behaupten und durchsetzen kann, könnte zu einem starken, einigenden Band werden, das einen selbstbewussten Neuanfang der türkischen Gesellschaft ermöglicht, die sich auf die gemeinsamen Wurzeln besinnt.

Sozial könnten auf dem Islam die Hoffnungen ruhen, zu einem Ausgleich in der Gesellschaft Wesentliches beizutragen. Die westliche Orientierung hat die wenigen Reichen immer reicher gemacht, der anatolische Bauer - um dieses Klischee zu gebrauchen - dagegen musste sich erst als Gastarbeiter in Europa verkaufen und füllt jetzt das Proletariat am Rande der großen Städte auf. Eine islamistisch geprägte Gesellschaft, die in weiten Teilen sich selbst genug ist, die allenfalls mit Glaubensbrüdern Handel treibt, die der Globalisierung die gelebten, traditionellen Werte des Islam entgegensetzt, könnte zum Gegenbild werden, zu einer Insel der Seligen in der Weltwirtschaft.

Politisch könnte der Islamismus den Gedanken des "Dritten Weges" aus den fünfziger und sechziger Jahren wiederbeleben.

Unrealistisch ist allerdings ein enge Kooperation der Turku-Völker in Vorder- und Zentralasien. Der Syrien-Konflikt hinterlässt ebenso seine Spuren.

4.2 Regionale Stellung der Türkei    

Es wird immer wieder, gerade vor dem Hintergrund des Irakkrieges, davon gesprochen und darüber spekuliert, wie denn der Nahe Osten nach dem Ende der Regime der alten Männer und ihrer Nachfolger neugeordnet werden könne.

In der überaus vielschichtigen und über die Jahrzehnte gewachsenen Gemengelage der gegenseitigen Abhängigkeiten, angeblichen Freundschaften, mühsam verborgenen Feindschaften, Allianzen und lokalen Konflikte ist die Suche nach "ehrlichen Maklern" im Gange. Es bieten sich nur zwei Staaten an: der Iran und die Türkei. Beide sind keine arabischen Staaten, sind aber dem Raum traditionell vielfältig verbunden.

Beide können diese Rolle nur übernehmen, wenn sie sich den übrigen entsprechend empfehlen. Dazu gehört der Islamismus. Ob dieser beide Staaten verbindet, wird sich zeigen (vgl. den Konflikt um Katar 2017 mit seinen Verflechtungen).

4.3 Das Bild der Türkei 2017    

Schulische und außerschulische Politische Bildung beschäftigt sich auch mit Konturen, wozu auch das Bild der Türkei gehört (vgl. GOTTSCHLICH 2016, 36-66).

Medial kommt so gut wie in jedem politischen Beitrag über das Land der türkische Präsident vor. Anders ist dies in den vielen kulturell geprägten TV-Dokumentationen, wo die vielfältige Landschaft, das reiche Kulturerbe und die Geschichte des Landes dargestellt werden.

Im Folgenden geht es um den politischen Aspekt im Rahmen einer Landeskunde in Politischer Bildung.

Mit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wird das Land negativ wahrgenommen. Die Türkei wird mit Recep Tayyip Erdogan gleichgesetzt, obwohl rund die Hälfte der Einwohner Erdogan ablehnen. Sie erwarten, dass im Kampf um die Demokratie Europa sie unterstützt.

In der Folge geht es um die Kurden. Die größte ethnische Minderheit des Landes kämpft um Eigenständigkeit und Anerkennung. Dies erzeugt naturgemäß eher Sympathie als Ablehnung. Der Konflikt ist allerdings nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit.

Mit der Türkei werden nach wie vor schöne Strände, bezahlbare Hotels und als einzigartige Metropole Istanbul verbunden.

Als Wiege der Zivilisation gilt die Türkei in der Kulturgeschichte (vgl. ZICK 2013).

Wahrgenommen werden die über viele Jahrzehnte türkischen Einwanderer, die das Bild des Landes in Europa prägen.

Neue Zuwanderungsgruppen werfen allerdings andere Integrationsprobleme aktuell auf (vgl. BAASNER 2010).

Dennoch kommt es zu innenpolitischen Konflikten mit der türkischen Diaspora, wie es sich 2015 bei der Militärkampagne gegen die PKK und noch deutlicher nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 zeigte. Mögliche Auftritte türkischer Politiker in Österreich ergeben politische Konflikte.

Kemal Atatürk prägte das Land mit der Gestaltung der türkischen Republik nach dem Ende des Osmanischen Reiches 1923. Recep Erdogan führt mit der Gestaltung der "neuen Türkei" das Land näher an die osmanische Geschichte in eine angeblich moderne "Islamische Republik". Dies erzeugt nicht nur Zustimmung, auch Ablehnung.

Die Türkei wird zum europäischen Außenposten an der Nahtstelle zum nahöstlichen Krisenbogen. Damit und mit der Mitgliedschaft in der NATO und im Europarat gibt es eine Verbindung zu Europa und Nordamerika.

Am Beispiel Istanbul zeigt sich eine Polarisierung der Gesellschaft, Istanbul ist aber auch der Schmelztiegel des Landes. Daran haben auch die Auseinandersetzungen 2013 um den Gezi-Park nichts geändert.

Letztlich gelang es der kemalistischen Partei Atatürks in den 80 Jahren nicht, aus der Türkei eine säkular-nationalistische Gesellschaft zu formieren.

Ob es Erdogan und der AKP ("Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt") gelingt, das Land aus der laizistischen Weltanschauung zu führen, die Orientierung an Europa vergessen zu machen und einen islamisch-orientalischen Staat zu bilden, bleibt offen.

Jedenfalls bedarf es einer fortlaufenden Analyse innergesellschaftlicher Entscheidungsprozesse (vgl. AYDIN 2017).

5 Basisdaten Türkei    

Daten 2015 - Quellen:

Eurostat 2015 - Gottschlich 2016, 230


Fläche(km2)769.630
Einwohner(Mill)75,9
Bevölkerungsdichte(Ew./km2)99
Lebenserwartung(Jahre)Männer 71,8 - Frauen 78,7
Bevölkerungswachstum1,3 %
Bevölkerung unter 25 Jahren(% der Gesamtbevölkerung)25,9 %
Bruttoinlandsprodukt(Mrd. US-Dollar)798,3
BIP pro Kopf(US-Dollar)10.381

6 Türkei 2018    

2008 galt Recep Tayyip Erdogan als Hoffnungsträger. Die Türkei galt als Modell für eine Verbindung von Islam und Demokratie (vgl. GOTTSCHLICH 2016, 60-66).

2018 wird Erdogan als Despot, Diktator oder Sultan gesehen. Die Türkei gilt als autoritärer islamischer Staat.

Im Westen wurden die Demonstrationen im Gezi-Park als Wendepunkt gesehen. Die Kritik anzunehmen und auf die Kritiker zu zugehen war schon zu spät. Erdogan sah die Bedrohung seines Plans, sein Land nach seinem Ebenbild zu formen (vgl. ROGG 2018, 9).

Die politische Entwicklung beginnt bei Atatürk, der einen autoritären Staat aufbaute (vgl. ROGG 2018, 11-239).

Jeder Dissens wurde damals unterdrückt (vgl. die Gruppe der Frommen, Minderheiten und Kurden).

Erdogan ist der Letzte in der Reihe jener, die den Staat an sich gerissen haben.

Mit der Polarisierung der Gesellschaft - besonders in Stadt und Land - kam es zur Devise "Wir gegen sie".

o war es einer der Gründe, warum es zum Putsch im Juli 2016 kam, für den die Bewegung um Fethulla Gülen verantwortlich gemacht wurde.

Folgen waren die massiven Verhaftungswellen, etwa Journalisten, Offiziere, Lehrende und Beamte, sogar Ausländer.

Geschlossen oder unter Zwangsverwaltung gestellt wurden Bildungsinstitutionen, Medien, Stiftungen, Bürgerinitiativen und Unternehmen.

Mit dem Referendum 2017 kam es zur Verfassungsänderung und alleinigen Macht Erdogans.

Die "neue Türkei" ist isoliert und gespalten (vgl. die Mitgliedschaft in der UNO, NATO und im Europarat - Kurdenproblem/ PKK, Gefahr der Ausbreitung des Islamischen Staates im Osten des Landes, Konflikte zwischen Religiösen und Kemalisten, Syrienkrieg/ Flüchtlingsproblem).

Die folgenden 10 Schritte hin zu einem autoritär islamischen Staat mit allen Vollmachten für die Staatsspitze sind gegeben.

Geplante Brüche mit der Geschichte kennzeichnen die Entwicklung, ebenso der Wunsch nach einer Umsetzung des historischen Erbes.

Zu beachten ist die politische, ökonomische und strategische Position der Türkei.

Neben der Verankerung in der UNO, im Europarat und der NATO gibt es Probleme mit politischen und religiösen Minderheiten, dem Syrienkrieg, Flüchtlingsströmen und einer notwendigen Verbindung zur EU.

Politische Fragen ergeben sich zukünftig aus dem Verhältnis zu den Gegnern im Land.

Politische Bildung in Form eines Beitrages zur Landeskunde kennzeichnet

  • einen kritischen Blick auf das Land am Bosporus,
  • vermittelt im Kontext mit der Fachliteratur das notwendige Wissen und
  • plädiert für einen interkulturellen Blick.
6.1 Brennpunkt Taksim-Platz    

Bekannt ist der Platz in Istanbul wegen der Demonstrationen um den Gezi-Park. Einst war hier ein großer armenischer Friedhof. Seine Bebauung begann im 19. Jahrhundert. Unter Atatürk wurde der Platz zum Symbol der Republik. Dieses Symbol will Erdogan schleifen.

6.2 Osmanen    

Im religiösen Selbstverständnis ist das Osmanische Reich auf Ausdehnung bedacht. Die Unterwerfung der Nichtmuslime war immer ein Ziel. Allerdings bekriegte und verfolgte man nicht nur die Christen, man integrierte sie auch in das Reich siehe den Istanbuler Stadtteil Peras (vgl. GOTTSCHLICH 2016, 113-117).

6.3 Kemalismus    

Die Vision Atatürks (Mustafa Kemal Pasa), die Türkei in einen westlich modernen Staat als Republik umzugestalten, hatte ihren Preis. Als Kulturrevolution legt sie den Grundstein für Konflikte, die bis heute das Land betreffen.

6.4 Der Aufstieg Erdogans    

Erdogan steht beispielhaft für Kampf und Aufstieg des politischen Islam in der Türkei. Aus einfachsten Verhältnissen arbeitet er sich hoch und wird unumschränkter Herrscher.

6.5 Putsch der Armee 2016    

Teile der Armee versuchen in der Nacht vom 15. zum 16. Juli 2016, die gewählte Regierung zu stürzen. Die Mehrheit der Bevölkerung stellt ich gegen die Putschisten. Erdogan vergibt die Chance einer Einigung des gespaltenen Landes. Er festigt dagegen einen Pakt mit der Rechten und bildetet eine massive Gegnerschaft.

6.6 Prediger und Feind in der Türkei    

Fethullah Gülen ist heute 2018 ein Feind in der Türkei. Als Prediger zusammen mit Erdogan wurde das Militär und die kemalistische Elite entmachtet. Es ist ein Aufstieg und ein Fall eines Mannes, der als Terrorist eingestuft wird (vgl. GOTTSCHLICH 2016, 52-56).

6.7 Erdogan und die PKK    

Der Konflikt dauerte mehr als 30 Jahre. Alte Tabus wurden gebrochen und hoffnungsvolle Schritte zur Konfliktlösung des Kurdenproblems eingeleitet. Am Ende scheiterte Erdogan. Die Angst vor einem Kurdenstaat im Osten der Türkei im Sog des Krieges in Syrien ist groß.

6.8 Führungsnation Türkei    

Die Türkei wollte im Herrschaftsbereich des ehemaligen Osmanischen Reiches eine Führungsmacht werden. In Richtung Asien wollte man die Turku-Völker einigen. Die Ziele Erdogans hatten keine realistische Chance. Vielmehr besteht 2018 die Gefahr einer Sogwirkung in den Syrienkrieg.

6.9 Baumeister der Nation    

Brücken und Autobahnen, Zugtrassen, U-Bahnen, Flughafen, Wohnsiedlungen und Einkaufzentren werden gebaut. Eine Residenz als Regierungssitz, größer als Schloss Versailles, soll den Anspruch der künftigen politische Größe und wirtschaftlichen Bedeutung darstellen.

6.10 Die Generation 2020    

Als die Türkische Republik 1923 gegründet wurde, schuf man ein westlich orientiertes säkulares Bildungswesen. 2018 schlägt das Pendel unter Erdogan zurück. Die Islam und ein türkischer Nationalismus an Schulen und Universitäten sind im Vormarsch.

6.11 Religiöse Symbolpolitik    

Die Hagia Sophia in Istanbul soll 2020 wieder eine Moschee werden. Ein Monument der religiösen Koexistenz der abrahamitischen Religionen wird zerstört (vgl. CICEK 2020, 15).

  • Die Umwandlung in eine Moschee bedeutet nicht nur einen Angriff auf die Religionsfreiheit in der Türkei, auch auf den interreligiösen Dialog.
  • Das politische Unternehmen der AKP als islamisch-konservative Politik, ähnlich christlichen Volksparteien in Europa, versucht möglichst alle und viele Ebenen der türkischen Gesellschaft zu durchdringen.
  • Religionsfreiheit und religionspolitische Neutralität werden nur so lange gewährt, wie Minderheiten keine Forderungen stellen. Am Beispiel der Aleviten sieht man dies. Verweigert wird bis heute eine offizielle Anerkennung. Vielmehr versucht die Religionsbehörde Diyanet mit hoch dotierten Projekten eine Eigenständigkeit der Aleviten zu untergaben.
  • So versteht es sich, mit der Initiative im Kontext der Hagia Sophia die Vormachtstellung des Islam zu untermauern.
  • Ebenso werden autoritäre Tendenzen in der Innenpolitik stärker. Polarisierungen zeigen sich in der Verhaftung und im Drängen in ein politisches Abseits von Oppositionellen, Journalisten und Lehrenden bzw. Wissenschaftlern.
  • Eine steigende soziale Ungerechtigkeit, die von der türkischen Wirtschaft nicht kompensiert werden kann, führt zu weiterer Polarisierung.
Die Umwandlung 1934 der Hagia Sophia unter Atatürk in ein Museum begründet sich in einer religionspolitischen Herausforderung im Zuge der konfessionellen Spannungen des Ersten Weltkrieges und deren Abbau.

Bis heute finden sich die Anhänger eines politischen Islam nicht damit ab, dass ihre Macht in einer fluiden Moderne verloren wurde bzw. geht.

7 Türkei 2023    

Im Folgenden wird auf das Wahlsystem und der staatspolitischen Folgerungen am Beispiel der Wahlen 2023 eingegangen (vgl. AYDIN 2023,1-7).

Bei den Präsidentschaftswahlen verpasste der amtierende Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mit der AKP ("Adalet ve Kalkinma Partisi" - Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) mit 49,52 Prozent knapp die absolute Mehrheit, damit den Sieg im ersten Durchgang bei den Präsidentschaftswahlen am 8.Mai 2023. Er muss am 28. Mai sich einer Stichwahl stellen. Sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu mit der CHP ("Cumhuriyet Halk Partisi") kam auf 44,88 Prozent der Stimmen. Abgeschlagen hinter den beiden Kandidaten konnte Sinan Ogan mit der Ata Ittifaki (Bündnis der Ahnen) 5,17 Prozent der Stimmen erreichen. Bei der Stichwahl könnten seine Wählen entscheidend sein.

In den Parlamentswahlen konnte Erdogans Cumhur Ittifaki (Volksallianz) mit etwa 320 von 600 Sitzen die Mehrheit erreichen, wenngleich die AKP erstmals seit 2002 auf 35,51 Prozent sank. Trotz des Präsidialsystems ist die Parlamentsmehrheit nicht belanglos. Die Nationalversammlung erlässt und ändert Gesetze, hebt sie auf, verabschiedet den Haushalt, eine Kriegserklärung und Auslandseinsätze sowie ratifiziert völkerrechtliche Verträge. Mit einer Zweidrittelmehrheit kann sie selbst sich auflösen und damit Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ansetzen.

Das bestehende Präsidialsystem erlaubt dem Präsidenten auch ohne Mehrheit im Parlament zu regieren, denn das Parlament hat an Macht verloren. Für die Ernennung der Regierung braucht es keine Zustimmung des Parlaments. Der Staatspräsident kann mit Dekret mit Gesetzeskraft regieren und durch Rücktritt Neuwahlen herbeiführen.

Trotz schwacher Wirtschaft und Führungsschwäche gibt es vier Gründe für die günstige Ausgangslage.

  • Faktor Wirtschaft - Die Krise wurde durch Prestigeobjekte wie Eröffnung des ersten Atomkraftwerkes, Markteinführung von Elektroautos und Erdgasfund im Schwarzen Meer medial überlagert. Wohlstandsverluste wurden durch Wahlgeschenke, Anhebung des Mindestlohns und der Renten, höhere Gehälter für Staatsbedienstete und kostenloses Erdgas im Monat Mai entschärft.
  • Faktor Identitätspolitik und Lagerdenken - Der Zusammenschluss von nationalen, konservativ-islamischen und links-säkularen Parteien zu einem Wahlbündnis "Allianz der Nation" hat Hoffnungen auf Überwindung eines Lagerdenkens geweckt. Bewährt hat sich die Strategie einer Polarisierung und Stigmatisierung der Opposition.
  • Faktor Nationalismus - Der Appell an den Nationalstolz wirkte etwa im April an die militärische Stärke mit dem ersten türkischen Flugzeugträger, einem einflussreichen Staatsmann als Schlichter internationaler Konflikte wie beim Getreideabkommen Ukraine-Russland und Anwalt nationaler Interessen wie das Veto beim Nato-Beitritt Schwedens.
  • Faktor politischer Zusammenhalt - Der Regierungsblock konnte geschickt sich als Garant der Stabilität und eines nationalen Zusammenhalts darstellen.
Reflexion    

Das Land am Bosporus ist Europas schwieriger Nachbar, verbunden mit vielfältigen wirtschaftlichen und sozialen Verbindungen (Stand 2018).

  • Die Hälfte des Handels wickelt die Türkei mit Europa ab.
  • Es gibt eine großer türkische Gemeinde in Europa mit innertürkischen Konflikten(vgl. Anhänger und Gegner der Regierung, Konflikte zwischen Türken und Kurden).
Die Türkei ist als Land am Rande des krisenhaften Nahen Ostens für Europa von strategischer Bedeutung.

Die Wahl am 24. Juni 2018 findet unter Bedingungen

  • des Ausnahmezustandes,
  • der Einschränkung der Grundrechte der Bürger,
  • der Kontrolle der Presse und
  • der Verhaftungswelle Tausender Oppositioneller und Medienleute statt.
In drei Stufen wurde das Land verwandelt.

  • 2013 holte Erdogan nach den Gezipark-Protesten zum Schlag gegen die Verfechter einer liberalen Demokratie aus.
  • 2016 folgte auf dem Putschversuch eine beispiellose Kampagne gegen alle, die nach seiner Auffassung seine Macht antasten könnten.
  • 2017 wurden die Voraussetzungen für ein Präsidialsystem geschaffen.
Inzwischen ist das Land in eine Wirtschaftskrise gekommen.

  • Die Türkische Lira verliert an Wert.
  • Ausländisches Kapital flieht aus dem Land.
  • Ein Boom auf Pump brachte gigantische Bauprojekte.
  • Errichtet wurde ein abhängiges Klientelsystem.
Politisch hat der Präsident die geringer gebildete, konservative und arme Hälfte der Bevölkerung hinter sich.

  • Die vom kemalistischen Staat vernachlässigten Schichten erhielten eine Stimme und erlebten einen gewissen wirtschaftlichen Aufstieg und eine gewisse politische Macht.
  • Die andere Hälfte der Bevölkerung rebelliert gegen einen Ein-Mann-Staat.
Das System Erdogan mit der Wahl 2018 hebt die politische Gewaltenteilung/ Demokratie auf.

  • Mit der Übernahme des Amtes des bisherigen Premierministers ist der Präsident Exekutive.
  • Als Parteiführer bestimmt der Präsident im geschwächten Parlament die Legislative.
  • Entschieden wird als Präsident und mit Parlamentsmehrheit über die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten. Damit übernimmt der Präsident die Judikative.
Pressehinweis    

Salzburger Nachrichten, 23.6.2018, 1 "Erdogan hat höchstens die halbe Türkei hinter sich"

Salzburger Nachrichten, 30.5. 2023, 1 "Was Erdogans Wahlsieg für Europa bedeutet"

IT-Hinweise    

http://orf.at/stories/2444357/2444358 > Erdogan zementiert sich ein (25.6.2018)

http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/271524/alles-wie-gehabt-der-neue-ist-der-alte > Alles wie gehabt. Der Neue ist der Alte (8.7.2018)

http://www.orf.at/stories/2446293/2446294 > Erdogan auf dem Höhepunkt der Macht (10.7.2018)

https://orf.at/stories/3318410/ > Was jetzt auf die Türkei zukommt (29.5.2023)

Literaturhinweise    

Angeführt sind jene Titel, die für den Beitrag verwendet und/oder direkt zitiert werden.

Aydin Y. (2023): Parlaments-und Präsidentschaftswahlen 2023: Eine Wahlanalyse für bpb.de, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn > https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de (29.5.2023)

Aydin Y. (2017): Türkei. Analyse politischer Systeme, Schwalbach/Ts.

Baasner Fr. (Hrsg.) (2010): Migration und Integration in Europa, Baden-Baden

Cicek H. (2020): Religiös-populistische Symbolpolitik, in: DER STANDARD, 13.7.2020, 15

Deniz A.C. (2016): Yeni Türkiye - Die neue Türkei. Von Atatürk bis Erdogan, Wien

Dichatschek G. (2017a): Didaktik der Politischen Bildung. Theorie, Praxis und Handlungsfelder der Fachdidaktik der Politischen Bildung, Saarbrücken

Dichatschek G. (2017b): Interkulturalität. Ein Beitrag zur Theorie, Bildung und Handlungsfeldern im Kontext von Interkultureller Öffnung und Politischer Bildung, Saarbrücken

Gottschlich J. (2016): Türkei. Erdogans Griff nach der Alleinherrschaft, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10009, Bonn

Kreiser Kl. (2008): Der Osmanische Staat 1300-1922, München

Rogg I. (2018): Türkei, die unfertige Nation. Erdogans Traum vom Osmanischen Reich, Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 10214, Bonn

Spillmann K.R. (Hrsg.) (1997): Zeitgeschichtliche Hintergründe aktueller Konflikte VI - Vortragsreihe Sommersemester 1997. Zürcher Beiträge zur Sicherheitspolitik und Konfliktforschung, No. 44, Zürich

Schweizer G. (2016): Türkei verstehen: Von Atatürk bis Erdogan, Stuttgart

Tibi B. (2007): Mit dem Kopftuch nach Europa?, Darmstadt

Tschetsch H. (2017): Politische Theologie im Islam, Saarbrücken

Yoldas Y.-Gümüs B.-Gieler W. (Hrsg.) (2015): Die Neue Türkei. Eine grundlegende Einführung in die Innen-und Außenpolitik unter Recep Tayyip Erdogan, Frankfurt/M.

Zick M. (2013): Türkei. Wiege der Zivilisation, Stuttgart

IT-Autorenbeiträge    

Die IT-Beiträge dienen zur Ergänzung der Thematik.

Netzwerk gegen Gewalt

http://www.netzwerkgegengewalt.org > Index:

Politische Bildung

Interkulturelle Kompetenz

Globales Lernen

Lernfeld Politik

Migration in Österreich

Schule

Erwachsenenbildung

E-Plattform der Erwachsenenbildung in Europa/EPALE

https://ec.europa.eu/epale/de/resource-centre/content/netzwerk-gegen-gewalt (29.5.2023)

Zum Autor    

Absolvent des Instituts für Erziehungswissenschaft/ Universität Innsbruck/Doktorat? (1985), des 10. Universitätslehrganges Politische Bildung/ Universität Salzburg-Klagenfurt/MSc (2008), des 7. Universitätslehrganges Interkulturelle Kompetenz/ Universität Salzburg/Diplom(2012), der Weiterbildungsakademie Österreich/Wien/Diplome (2010), der Personalentwicklung der Universitäten Wien und Salzburg/ 4. Interner Lehrgang für Hochschuldidaktik/ Zertifizierung (2016), des Online-Lehrganges "Digitale Werkzeuge für Erwachsenenbildner_innen"/TU Graz-Werde Digital-CONEDU-Bundesministerium für Bildung/ Wien/ Zertifizierung (2017), des Fernstudiums Erwachsenenbildung/ Evangelische Arbeitsstelle Fernstudium-Comenius Institut Münster/ Zertifizierung (2018)

Lehrbeauftragter am Institut für Erziehungs- bzw. Bildungswissenschaft/ Universität Wien/Berufspädagogik - Vorberufliche Bildung (1990/1991-2010/2011), im Fachbereich Geschichte/ Universität Salzburg/Lehramt Geschichte-Sozialkunde-Politische Bildung - Didaktik der Politischen Bildung (2016, 2018 )

stv. Leiter/ Vorstandsmitglied des Evangelischen Bildungswerks in Tirol (2004-2009, 2017-2019), Mitglied der Bildungskommission der Evangelischen Kirche in Österreich (2000-2011), Kursleiter an den Salzburger VHSn Zell/ See, Saalfelden und Stadt Salzburg (2012-2019)

Aufnahme in die Liste der Sachverständigen für den NQR/ Koordinierungsstelle für den Nationalen Qualifikationsrahmen/ Wien (2016)

MAIL dichatschek (AT) kitz.net

 
© die jeweiligen Autoren zuletzt geändert am 30. Mai 2023