Netzwerk Gegen Gewalt - Ein Offenes WikiWeb - Jeder kann sich beteiligen!

Symposion Graz 1993 / Schlußkommunique

Schlußkommunique der Teilnehmer des Symposioums "Fernsehen und Gewalt", Graz 18. Juni 1993

Der ORF, die "Kleine Zeitung" und der Landesschulrat für Steiermark luden etwa 100 Lehrer, Eltern, Schüler, Wissenschafter, Mitglieder der Höhrer- und Sehervertretung des ORF, Programmacher und Journalisten in den Grazer Congress zu zweitägigen Gesprächen über das Thema "Fernsehen und Gewalt".

In vier Arbeitskreisen wurde umfassend über Gewaltaspekte in Unterhaltung, Information, Kinder- und Jugendprogrammen und über Möglichkeiten der Medienerziehung diskutiert.

Die Teilnehmer des Symposiums begrüßen die Initiative des ORF, durch selbstbeschränkte "Richtlinien zur Darstellung von Gewalt und Obszönität in Radio und Fernsehen" seiner gesellschaftlichen Verantwortung als öffentliches Rundfunkunternehmen gerecht zu werden.

In diesem umfassenden Katalog von verbindlichen Regeln für alle Programmitarbeiter verpflichtet sich der ORF, "in allen seinen Programmen gewaltsame oder angsterregende Sendungsinhalte nicht zum Zweck der Reichweitenmaximierung einzusetzen".

Allerdings weisen die Teilnehmer des Symposiums darauf hin, daß Fernsehen nur ein kleiner Bestandteil des Problems von Gewalt in der Gesellschaft ist und verlangen deshalb ein Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte.

Der Bundeskanzler und die Minister für Unterricht, Wissenschaft und Familie werden deshalb aufgefordert, eine breite Diskussion über Gewalt und Pronographie einzuleiten.

Authentische Produktdeklaration

"Kinder sind vor Gewaltszenen zu schützen": Diese Aufgabe nimmt das ORF-Fernsehen im Vormittags-, Nachmittags- und Vorabendprogramm aus eigenem wahr. Ab 20.15 Uhr geht die Verantwortung auch auf die Eltern über. Um sie dabei zu unterstützen, wird der ORF Filme, Serien und andere Sendungen in Zukunft in Programmtrailern und Programmhinweisen (in Worten) genauer beschreiben.

Die Teilnehmer des Symposiums fordern die Printmedien auf, dieses Service einer ORF-Produktdeklaration in ihre Programmankündigungen aufzunehmen.

Informationssendungen

Die Diskussion im Arbeitskreis "Gewalt in Informationssendungen" war nie von Forderungen nach mehr Gewaltdarstellungen geprägt, sondern immer nur vom Verlangen nach einer Zurücknahme von Gewaltszenen. Daraus folgt, daß die Zurücknahme von Gewaltszenen - nicht von Berichterstattung über Gewalt - kein Bedürfnis des Publikums verletzt und daher zu wagen ist.

Bedingt durch ihre Kürze helfen Informationssendungen wenig bis gar nicht beim Bewältigen der von Gewaltszenen geschaffenen Gefühlslagen: Angst, Betroffenheit, Hilflosigkeit. Durch Kommentare, Analysen und längere Beiträge sind die Zuseher aus diesen Gefühlslagen heraus zu geleiten. Längere Beiträge beseitigen den Zwang zum Senden besonders schockierender Bilder. Sie sorgen für einen langsameren Spannungsauf- und -abbau.

Kinder- und Jugendprogramm

Kinder und Jugendliche sehen nicht nur eigens für sie bestimmte Sendungen. Vor allem bei sehr jungen Kindern wird oft ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen "Fernseherlebnis" und eigenem Verhalten wahrnehmbar. Dies gilt besonders für jene Kinder, denen eine absichernde und damit spannungsentschärfende Umwelt fehlt. Auch kinderadäquates Fernsehen kann sicher nicht jene Defizite abdecken, die sich für Kinder und Jugendliche aus einem "Mangel an Mensch", aus nicht gelebten familiären Beziehungen und aus einem Mangel an Zeit und Zuwendung ergeben. Die "kommunizierende Familie" ist für eine gelingende Auseinandersetzung mit den Medien notwendig.

Ab Herbst wird es ein bewußt auf Kinder und Jugendliche abgestimmtes ORF-Programm zu folgenden Themenkreisen geben: "Natur erleben", "Umwelt", "Spiel und Sport", "Abenteuer und Phantasie" und "Rechte der Kinder". Wo immer möglich soll es zu Interaktion zwischen Studiogeschehen und Sehern kommen. Die Arbeitsgruppe "Kinder- und Jugendprogramm" begrüßt diese Pläne des ORF und wird deren Umsetzung wachsam verfolgen.

Chancen der Medienerziehung

Die Medienerziehung soll die Schüler dazu befähigen, mit allen Massenmedien sinnvoll und selbständig umzugehen, wobei die persönlichen Lebenserfahrungen und Lebensumstände der Schüler zu berücksichtigen sind. Gerade diese Lebensumstände sind auch von Gewalt in der Realität geprägt (Krieg, Gewalt in den Familien). Deshalb ist es notwendig, sich mit dem Thema "Gewalt in den Medien" und "Gewalt in der Gesellschaft" zu befassen.

Den Medienerziehern ist bewußt, daß eine einfache Ursachenwirkung zwischen Gewalt in den Massenmedien und vermehrten Aggressionen in Schule und Elternhaus nicht ohne weiteres nachweisbar ist. Vielmehr ist das gesamte Umfeld der Schüler (Familie, Lebensbereich) miteinzubeziehen.

Grundsätzlich sollte das Problem aus der Sicht der Kinderwelt und nicht aus der Sicht der Erwachsenenwelt thematisiert werden. Von Kindern wird nicht immer das als Gewalt angesehen, was Erwachsene als solches identifizieren. Zwischen der vordergründigen physischen Gewalt und der psychischen Gewalt (Trennungsängste, Liebesentzug) und struktureller Gewalt ist zu unterscheiden. Die beiden letztgenannten können belastender sein als physische Gewalt.

Die Frage der persönlichen Kommunikation, des Umgangs mit Mitmenschen läßt sich von der Frage der medialen Kommunikation nicht trennen, weshalb eine ganzheitliche Sichtweise angebracht ist.

Die Chancen der Medienerziehung können durch eine stark verbesserte Lehreraus- und -fortbildung, durch eine enge Kooperation des ORF mit den Schulen, durch verbesserte Rahmenbedingungen sowie durch eine stärkere Konzentration auf die Frage der Wechselwirkung zwischen den Medien und der Gesellschaft erheblich gesteigert werden.


Fragen, Diskussion

Kann mir jemand erklären, was hier im letzten Abschnitt unter "struktureller Gewalt" gemeint ist?

 
© die jeweiligen Autoren zuletzt geändert am October 14, 2002