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Mediales Gewalt Bombardement

"Mediales Gewalt-Bombardement" Mediengewalt gegen Kinder und Jugendliche, Prof. DDr. WalterHauptmann

MagazinÖffentlicheSicherheit 11/93; FREIE ARGUMENTE Folge 1/94; mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Allgemeiner Stand der Medienwirkungsforschung

Schon 1978 mußte ich ein einer Abhandlung zum Thema "Ist Gewalt ansteckend? - Beiträge zu einer Verbrechensepidemologie ("Kriminalistik", 1978, S. 486 ff) feststellen, daß massenmedial vermittelte Gewalt sogar bei Erwachsenen eine Reihe von bedenklichen Effekten bewirken kann. Dazu gehört nicht bloß ein völlig einseitiges, verzerrtes Bild vom Umfang und von der Struktur der Kriminalität und eine daraus resultierende übersteigerte Verbrechensfurcht. Vielmehr lag schon damals der Schluß nahe, daß entsprechend häufige und drastische Medienberichte über Aggression im Laufe der Zeit durchaus dazu beitragen können, Werthaltungen der Konsumenten umzuprägen, Schranken, Hemmungen und Tabus mehr und mehr abzubauen und eine allgemeine Aggressionsbereitschaft zu fördern. Kurzum: Gewalt wird als Mittel zur Bewältigung von Konflikten gewissermaßen "salonfähig" gemacht.

Analoges gilt auch für die Feststellung, daß derartige Darstellungen zumindest auf eine Problemgruppe von Konsumenten aller Altersstufen sogar als ausgesprochene Anregung zur Nachahmung wirken können. Ebenso wurde darauf hingewiesen, daß Berichte über Selbstmorde auf bestimmte Persönlichkeiten sozusagen "ansteckend" wirken können. Selbstverständlich war und ist mit all diesen Befunden nur ein kleiner Teil aus dem gesamten Spektrum möglicher Medienwirkungen angesprochen (Imitations- oder Stimulationshypothese, Lerntheorie). Gewaltdarstellungen wirken auf verschiedene Betrachter ganz unterschiedlich. Daher läßt sich verständlicherweise auch belegen, daß der größte Teil der Medienkonsumenten - etwa innerlich gefestigte Erwachsene - auch auf krasse Gewaltdarstellung indifferent reagieren (Theorie der Wirkungslosigkeit), andere wiederum sich allmählich daran gewöhnen und daher abstumpfen (Habitualisierungshypothese) oder durch Beobachtung von Gewaltdarstellungen in ihrer eigenen Aggression sogar gehemmt werden können (Inhibitionstheorie). Nahezu einhellig abgelehnt wird seit einiger Zeit dagegen die "Katharsistheorie", die davon ausgeht, daß Beobachtung fremder Aggression innerlich gewissermaßen entlastend und reinigend wirkt und dem Betrachter auf diese Weise sozusagen eigene Aggressionsausübung "erspart".

Daß Kinder und Jugendliche noch leichter beeinflußbar, unkritischer und auch ungleich stärker auf Vorbilder, auf "Lernen am Beispiel" angewiesen sind als Erwachsene, erscheint trivial. Dementsprechend wird es wesentlich von Art und Menge medialer Information abhängen, ob sie Nutzen oder Schaden stiftet.

Zusammenwirken von Fernsehprogrammen, Horror-Videos, Kino und Print-Medien

In Österreich verfügen derzeit gut 96% aller Haushalte über zumindest einen Fernsehapparat, fast 30% (in Deutschland schon fast 50%) sind verkabelt. Nahezu 17% der österreichischen (und deutschen) Haushalte benützen Satelliten-Schüsseln. Etwa die Hälfte der Österreicher kann bereits ca. 20 Programme empfangen. In Deutschland sind es schon jetzt an die 30 und in Europa etwa 90 Fernsehprogramme. Bis gegen das Jahr 2000 dürften es in Europa mehrere Hundert Fernsehprogramme sein, die allein über Satelliten empfangen werden können. Der rücksichtslose Kampf vor allem der Kommerz-Sender um höhere Einschaltquoten wird vielfach (so ein deutscher Innenminister) über "Orgien aus Gewalt, Sex und Einfalt" ausgetragen. In Deutschland können über TV- Kabelanschlüsse wöchentlich insgesamt zwischen 3.000 und 4.000 Gewaltszenen "konsumiert" werden, darunter ca. 500 Morde. Aneinandergereiht ergäbe das ein filmisches Blutbad über 25 volle Stunden. Vereinzelte deutsche Untersuchungen kamen gar auf bis zu 4.000 Leichen pro Woche. Allein an manchen TV-Wochenenden wurden mehr als 400 Fälle gewaltsamen Todes dargeboten.

Privatsender strahlen etwa doppelt so viel Gewaltszenen aus wie öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Als "Spitzenreiter" erscheint derzeit ein Münchner Spielfilmkanal mit einem Aggressionsanteil von fast 13% in Relation zum jeweiligen Gesamtprogramm (ORF: 5,7%). Dieser Privatsender kann über Kabel auch bei uns empfangen werden. 13% Aggressionsanteil bedeuten z. B. täglich etwa 20 Mordopfer und allein zwischen 18 und 20 Uhr mehr als 62 physische Gewaltakte - also im Schnitt alle zwei Minuten irgendeine Form von Brutalszene. Die deutsche Innenministerin wies Anfang 1993 darauf hin, daß ein beträchtlicher Teil der Jugendlichen täglich mehr als fünf Stunden diverse Medien konsumiert. Schon ein Jahr vorher stellte auch die Projektgruppe Jugendkriminalität an der Universität Potsdam fest, daß viele Jugendliche wöchentlich mehr als 30 Stunden vor dem Fernsehgeräüt verbringen. Nach zehn Schuljahren hat ein deutscher Jugendlicher etwa 18.000 Fernsehstunden, aber nur 15.000 Unterrichtsstunden absolviert. Dies führt u. a. dazu, daß in Deutschland (einer Veröffentlichung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften zufolge) schon ein Zwölfjähriger im Durchschnitt Zeuge von 14.000 TV-Morden war. Die Daten für Österreich könnten noch etwas darunter liegen. Es besteht aber kein Anlaß für die Annahme, daß sie sich von den deutschen grundlegend unterscheiden sollten.

Bei älteren Kindern und bei Jugendlichen kommt zum Fernsehkonsum auch noch der Einfluß von Gewaltdarstellungen in Druck-Medien und durch Horror-Videos. Der Konsum solcher Darbietungen steigt annähernd parallel mit dem Alter der Kinder bzw. Jugendlichen an.

Nach den letzten Daten des statistischen Zentralamtes aus 1989 verfügten damals 31% der österreichischen Haushalte über einen Videorecorder. Heute dürften es rund 50% sein (Deutschland 54%). Aus empirischen Erhebungen ist bekannt, daß speziell unter älteren (über elf Jahre) und männlichen Kindern ein reger "Leihverkehr" (auch) für Gewalt-Videos existiert. Der Großteil des Konums - speziell von Horror-Videos - wird begreiflicherweise den Eltern verheimlicht.

Nach österreichischen Untersuchungen sehen etwas mehr als die Hälfte bis "fast alle Kinder" ... "oft" oder gar "zumeist alleine" fern. Dies kann daran liegen, daß Eltern die Gefahren durch Medienkonsum generell unterschätzen und/oder zeitlich überfordert sind (Berufstätigkeit, anderweitige Überlastung). Nicht zuletzt fungiert der Fernsehapparat nicht gerade selten als "Kindermädchen-Ersatz".

Auswirkungen

Gewalt - und Gewaltdarstellungen - hat es schon immer gegeben. Das skizzierte "Medien-Bombardement" auf Kinderseelen übertriftt aber alle "Gewaltszenen", z. B. des einschlägig oft zitierten Märchens von "Hänsel und Gretel", qualitativ und quantitativ um etliche Zehner-Potenzen. Dementsprechend besteht innerhalb der Medienwirkungsforschung nahezu Einhelligkeit darüber, daß sich mediale Gewaltdarstellungen wenigstens auf einen Teil der Kinder und Jugendliche negativ auswirken:

Kurzfristige Folgen:

Speziell nach Horror-Videos oder entsprechenden Fernsehfilmen wurden Angstzustände, Bettnässen, Schlafstörungen (nächtliches Aufschreien) und Depressionen beschrieben. Bekannt geworden ist auch das "Montags-Syndrom" ("Montags-Horror"): Im Kindergarten und teilweise auch in der Schule wird am Montag aggressives Verhalten "nachgespielt", das die Kinder übers Wochenende in diversen Fernsehfilmen oder Videos gesehen haben. Nach Untersuchungen eines Pädagogen der Universität Dortmund soll dies an Montagen schon auf jede fünfte Spielhandlung zutreffen. Durchaus ähnliches berichtet auch österreichisches Lehr- und Kindergartenpersonal.

Mittel- und langfristige Auswirkungen:

Negatives Weltbild: Wie unlängst der deutsche Kriminologe H. J. Schneider hervorhob, übernehmen Massenmedien mit zunehmender Desorganisation der Instanzen der sozialen Primärkontrolle immer mehr die Rolle, die früher die Schulen, die Kirche und insbesondere den Familien oblag. Sie nehmen als "soziale Vorbilder" Einfluß auf Werte, Zielsetzungen und Verhaltensstile der Gesellschaft. Das mediale Gewalt-Bombardement läßt nach Überzeugung der deutschen Jugendministerin sogar viele Erwachsene "entweder depressiv oder aggressiv" werden: "Szenen, die im Leben vielleicht 0.05% ausmachen, kriegen Kinder und Jugendliche als Hauptbestandteil der Realität serviert." Je jünger die Kinder, desto kleiner erscheint ihre Möglichkeit, das ihnen medial suggerierte verzerrte "Weltbild" an der Wirklichkeit zu korrigieren. Die Folgen bleiben auch bei uns nicht aus: In der "Öffentlichen Sicherheit", Heft 12/1984 S. 2 ff, mußte ich z. B. feststellen, daß schon damals jedes zweite schwedische Kind primär durch den "normalen" täglichen Fernsehkonsum der Auffassung war, daß der Mensch durch Mord oder Totschlag sterbe. Wennn diese Kinder vom Tod eines Großelternteils erfuhren, fragten sie oft vorerst: "Wer hat die Oma erschossen?"

Heute erscheint durchaus Vergleichbares auch österreichischen Kindergärtnerinnen schon eher alltäglich. Es bedarf wenig Scharfsinns, diesen bedenklichen Befund primär auf übersteigerten Konsum von medialen Gewaltdarstellungen und wohl nur sehr ausnahmsweise auf reale kindliche Erlebnisse aus ihrer tatsächlichen sozialen Umwelt zurückzuführen.

Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung: Der von den Massenmedien zumindest mitverursachte oder geförderte allmähliche Wertwandel bringt gewiß nicht nur ein negatives, übertrieben pessimistisches Weltbild von Kindern und Jugendlichen mit sich. Der Pädagoge und Medienforscher Professor Glogauer geht davon aus, daß etwa 10% der Kinder allein schon durch Fernseh- und Videogewalt emotionale Störungen riskieren. Fachleute verschiedenster Richtungen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, klagen über eine deutliche "Brutalisierung" und "Verrohung" im Verhalten wenigstens eines Teiles ihrer Klientel. Ein Münchener Kriminalhauptkommissar: "Die Jugendlichen haben keine Beißhemmung mehr. Heute prügeln sie bis zur Besinnungslosigkeit weiter und treten noch auf Wehrlose ein." Glogauer führt etwa 10% von schweren Gewaltdelikten Jugendlicher mit auf Medieneinflüsse zurück. Dieser Befund ist gewiß problematisch: Wir haben keine Gewähr dafür, daß Polizei und Gericht jugendliche Gewalttäter immer nach ihrem Medienkonsum vor der Tat fragen und allfällige Antworten auch aktenkundig werden lassen. Und wir haben erst recht keine Garantie dagegen, daß "Medienverführung" von Straftätern als Schutzbehauptung vorgeschoben wird. Man wird aber nicht bestreiten können, daß dieser Einfluß sehr wohl besteht: Selbst wenn durch mediale Gewaltdarstellungen "nur" drei oder fünf Prozent der Kinder emotionale Störungen bekommen oder "nur" drei oder fünf Prozent aller labilen Jugendlichen zu Gewalttaten provoziert werden, bestehen wohl kaum Zweifel daran, daß ein derartiges Resultat gesamtgesellschaftlich nicht mehr tolerierbar erscheint.

Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

Alles in allem gesehen, muß festgestellt werden, daß die Gefahren für Kinder und Jugendliche durch die heute übliche Über-Repräsentation von Gewalt in den Medien bei weitem unterschätzt werden. Es kann nicht mehr bestritten werden, daß, freilich nicht ein einzelnes Medium und auch nicht eine einzelne Gewaltdarstellung für sich allein, wohl aber das permanente Gewalt-Bombardement durch alle Medien zusammen, zumindest bei einem Teil der Kinder und Jugendlichen zu negativen Wirkungen führt. Der Anteil der Geschädigten ist jedenfalls nicht mehr vernachlässigbar klein: Mediale Gewalt bewirkt (oder fördert) neben allgemeinen emotionalen Defekten auch einen allmählichen Wertverlust, der u. a. zu einer Verrohung und Brutalisierung beiträgt. Ebenso plausibel erscheint es, auch einen (ebenfalls nicht mehr vernachlässigbar kleinen) Anteil der Jugendkriminalität als medial mitverursacht anzusehen. Daher plädieren auch die "Richtlinien der Vereinten Nationen für die Prävention von Jugendkriminalität" nicht nur für eine bloße "Reduzierung" von Gewalt. Die Massenmedien sollen vielmehr dazu aufgefordert werden, "der Pornographie, den Drogen und der Gewalt in ihrem Bereich so wenig Platz wie irgend möglich einzuräumen."

Nach einer repräsentativen Umfrage klagten unlängst 69% der Deutschen über zu viele Sex- und Gewaltszenen im Fernsehen. Einer anderen Erhebung zufolge sind gar 73% der Bundesbürger davon überzeugt, daß die Enttabuisierung des Tötens in den Bildmedien nachteilige Wirkungen vor allem auf Kinder und Jugendliche hat. Die Befragten waren dabei über das reale Ausmaß aller Medienwirkungen sicher nicht voll informiert. Nach entsprechender Aufklärung wäre zu vermuten, daß gut 2/3, wenn nicht gar 3/4 der deutschen Bevölkerung gegen ein Überangebot an medialer Gewalt stimmen würde. Man wird kaum fehlgehen, auch in der österreichischen Bevölkerung jedenfalls eine deutliche Mehrheit gegen die Verbreitung exzessiver Mediengewalt zu prognostizieren.

Deutschland und die Schweiz, also Nachbarländer mit vergleichbarer Rechtstradition und -kultur, haben vor einiger Zeit sogar gerichtliche Strafdrohungen gegen bestimmte Gewaltdarstellungen geschaffen, die allerdings auf Kritik gestoßen sind.

Unabhängig davon ist dringend zu fordern, daß der für Kinder und Jugendliche noch zumutbare "Gewaltpegel" in allen Medien deutlich niedriger angesetzt wird als bisher üblich: Sämtliche Anti-Gewalt-Kommissionen (Deutschland, USA, Neuseeland) haben übereinstimmend die Meinung vertreten, die Gewaltdarstellungen in den Massenmedien müßten entscheidend vermindert werden.

Dies gilt in verstärktem Maß für einige (im Vergleich zum ORF besonders "gewaltfreundliche") Programme ausländischer Kommerz-Sender. Diese unterliegen mit ihren hier zu empfangenden Programmen zwar nicht dem österreichischen Rundfunkgesetz, wohl aber im wesentlichen gleichlautenden internationalen Schutznormen gegen Sendungen, die die körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung (z. B. durch Pornographie oder grundlose Gewalttätigkeit) beeinträchtigen können. Österreich wird erforderlichenfalls mit allem Nachdruck völkerrechtlich durchzusetzen haben, daß der vorne angesprochene "Gewaltpegel", der die Grenze zur Entwicklungsschädlichkeit - und damit auch zur Konventionswidrigkeit - solcher Sendungsinhalte markieren soll, auch von ausländischen Sendern nicht überschritten wird.


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© die jeweiligen Autoren zuletzt geändert am May 19, 2004